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B. Kollegialprinzip und dualistisches System
Die Annäherung der Rolle des Vorstandsvorsitzenden bzw. Vorstandssprechers in
der Praxis an den CEO wirft die Frage auf, inwieweit das im Gesetz verankerte
Kollegialprinzip überhaupt noch praxisgerecht ist und ob nicht auch das deutsche
Aktienrecht eine stärkere Personalisierung der Leitung zulassen sollte. Der genaue Inhalt des Kollegialprinzips im deutschen Recht ist aber bisher noch nicht
umfassend systematisiert worden. So wird leicht übersehen, dass das Gesetz eine
gewisse Personalisierung der Leitung bereits zulässt. Ebenfalls noch nicht näher
untersucht wurde, wo hier im Einzelfall die Grenzen des Zulässigen liegen und
inwieweit die Dominanz eines einzelnen Vorstandsmitglieds in der heutigen Unternehmenspraxis noch mit dem Kollegialprinzip vereinbar ist.
Die Stellung eines einzelnen Vorstandsmitglieds wird aber nicht nur durch die
kollegiale Binnenorganisation des Vorstands geprägt. Vielmehr hängt sie auch
erheblich von den Befugnissen des Gesamtvorstands und damit der geltenden
Unternehmensverfassung ab. In Deutschland gilt bekanntermaßen das sog. dualistische System der Unternehmensverfassung, das durch die Existenz zweier
Organe neben der Hauptversammlung – dem Vorstand und dem Aufsichtsrat –
gekennzeichnet ist.13 Der Vorstand ist das alleinige Leitungsorgan, während dem
Aufsichtsrat die Überwachung der Unternehmensleitung obliegt. In anderen Ländern, insbesondere im anglo-amerikanischen Raum, ist dagegen das sog. monistische System der Unternehmensverfassung verbreitet.14 Dort besteht die Aktiengesellschaft neben der Hauptversammlung nur aus einem weiteren Organ –
dem board –, das sowohl die Leitung als auch die Kontrolle ausübt. Jedoch kann
die Leitung des Tagesgeschäfts auf einzelne Geschäftsführer delegiert werden,
die gewöhnlich unter der Leitung eines CEO stehen. Das monistische System war
in Deutschland nur im 19. Jahrhundert möglich.15
13 Hopt, ZGR 2000, 779 (783). Dieses System wird daher auch Aufsichtsratssystem, Trennungsmodell, duales oder dualistisches System oder »two-tier-board« genannt, Bleicher/
Paul/Leberl, Unternehmensverfassung und Spitzenorganisation, S. 44; Hopt, in: Hopt/
Kanda/Roe/Wymeersch/Prigge (Hrsg.), Comparative Corporate Governance, S. 227 (227).
14 Schneider-Lenné, in: Scheffler (Hrsg.), Corporate Governance, S. 2 ff.; Leyens, RabelsZ
2003, 57 (61). Dieses System wird dementsprechend auch Verwaltungsratssystem, Board-
Modell, Einheitssystem, Vereinigungsmodell oder »one-tier-board« genannt.
15 Mangels entsprechender Regelungen im Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch
(ADHGB) von 1861 bestimmte anfangs allein die Satzung über die Art der Unternehmensverfassung. Man kann sich darüber streiten, wann genau das dualistische System zwingend
wurde, da die 1. Aktienrechtsnovelle von 1870 zwar den Aufsichtsrat als zwingendes
Organ einführte, aber erst die 2. Aktienrechtsnovelle von 1884 die Exklusivität der Zugehörigkeit zum Vorstand und Aufsichtsrat vorschrieb. Der Aufsichtsrat war weiterhin gem.
Art. 225 Abs. 3 ADHGB 1884 dem Vorstand gegenüber weisungsberechtigt. Das HGB
1897 enthielt dieses ausdrückliche Weisungsrecht nicht mehr, jedoch konnte die Satzung
oder ein Beschluss der Generalversammlung weiterhin den Vorstand anweisen, den
Beschlüssen des Aufsichtsrats Folge zu leisten, vgl. Art. 235 Abs. 1 HGB 1897. Erst § 70
Abs. 1 AktG 1937 statuierte die autonome Leitung des Vorstands. Vgl. zum Ganzen Lutter,
in: Scheffler (Hrsg.), Corporate Governance, S. 5 (7 ff.).
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Es bedarf noch näherer Prüfung, ob die Organisation der Geschäftsführung
zwingend mit einem bestimmten System der Unternehmensverfassung verbunden
ist und ob sich ggf. die Einführung des Direktorialprinzips für den Vorstand empfiehlt. Die weiteren Unterschiede zwischen den beiden Unternehmensverfassungen legen aber den Schluss nahe, dass unabhängig davon den Gestaltungsmöglichkeiten im deutschen Recht und der Annäherung an ausländische Vorbilder
Grenzen gezogen sind, solange hierzulande nur das dualistische System existiert.
C. Die Zukunft: Die Europäische Aktiengesellschaft
Eine allgemeine Einführung des monistischen Systems im deutschen Aktienrecht
wird zur Zeit noch nicht ernsthaft erwogen.16 Seit dem 8. Obtober 2004 steht aber
Unternehmen in Deutschland die Europäischen Gesellschaft (Societas Europaea
– SE) als supranationale Rechtsform offen. Sie ermöglicht erstmals grenzüberschreitende Unternehmenszusammenschlüsse. Da sie über ein in Aktien zerlegtes
Grundkapital verfügt, kann sie treffender als Europäische Aktiengesellschaft bezeichnet werden.17
Die Europäische Aktiengesellschaft beruht auf einer Verordnung18 sowie einer
ergänzenden Richtlinie über die Mitbestimmung,19 auf die sich die Mitgliedsstaaten nach jahrzehntelangen Bemühungen auf dem EU-Gipfel von Nizza 2001 verständigt haben.20 Der deutsche Gesetzgeber hat sie in dem Gesetz zur Einführung
der Europäischen Gesellschaft (SEEG)21 umgesetzt, das sich in das SE-Ausführungsgesetz (SEAG) und das SE-Beteiligungsgesetz (SEBG)22 gliedert. Zwar bildet bereits die Verordnung die Rechtsgrundlage für die SE, sie enthält aber
bestimmte Ermächtigungen für den nationalen Gesetzgeber. Darüber hinaus verlangt die SE-Richtlinie ein entsprechendes Tätigwerden der Mitgliedsstaaten.
16 Dagegen wird auf europäischer Ebene inzwischen empfohlen, dass die Mitgliedsstaaten
den Unternehmen beide Systeme anbieten, vgl. Bericht der Hochrangigen Gruppe von
Experten auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts über moderne gesellschaftsrechtliche
Rahmenbedingungen in Europa vom 04.11.2002 (»Bericht der Hochrangigen Expertengruppe«), S. 63, zurückhaltender dagegen EU-Kommission, Modernising Company
Law and Enhancing Corporate Governance in the European Union – A Plan to Move Forward (»Aktionsplan der EU-Kommission«), COM (2003) 284 final, S. 15.
17 Hommelhoff, AG 2001, 279 (287); Schwarz, ZIP 2001, 1847 (1848).
18 Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8. Oktober 2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), veröffentlicht im Abl. EG Nr. L 294 vom 10.11.2001, S. 1 ff.
(im Folgenden »SE-Verordnung« oder »SE-VO« genannt).
19 Richtlinie 2001/86/EG des Rates vom 8. Oktober 2001 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer, veröffentlicht im
Abl. EG Nr. L 294 vom 10.11.2001, S. 22 ff. (im Folgenden »SE-RL« genannt).
20 Vgl. Blanquet, ZGR 2002, 20 ff.; Lutter, BB 2002, 1 ff.
21 BGBl 2004, 3675 (3675) – Artikel 1.
22 BGBl 2004, 3675 (3686) – Artikel 2.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Studie analysiert die Personalisierungsmöglichkeiten für eine Aktiengesellschaft mit Sitz in Deutschland. Untersucht werden sowohl die klassische Aktiengesellschaft als auch die seit 2004 mögliche Europäische Aktiengesellschaft (SE).
Ausgangspunkt der Untersuchung ist eine Systematisierung des Kollegialprinzips sowie der bereits im Gesetz angelegten Personalisierungsmöglichkeiten, wie der Vorstandsvorsitzende und der Vorstandssprecher. Sodann wird erörtert, auf welchen Faktoren deren faktische Macht beruht und wo die gesetzlichen Grenzen liegen. Daraus leitet die Autorin ab, ob die bestehenden gesetzlichen Regeln noch angemessen sind.
Darüber hinaus werden die Personalisierungsmöglichkeiten bei einer Europäischen Aktiengesellschaft (mit Sitz in Deutschland) aufgezeigt, und zwar zunächst für eine SE mit dem sogenannten dualistischen Leitungssystem. Für die SE mit monistischem System untersucht die Autorin rechtsvergleichend, inwieweit die Regelungen des deutschen SE-Ausführungsgesetzes bestehenden Corporate Governance-Grundsätzen entsprechen. Außerdem schlägt sie Regelungen über die monistische SE zur Aufnahme im Deutschen Corporate Governance Kodex vor.