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1. Teil:
Einleitung
A. Auseinanderentwicklung von Gesetz und Praxis
Die Leitung einer deutschen Aktiengesellschaft obliegt gem. § 76 Abs. 1 AktG
dem Vorstand. Dieses Organ ist nach der Konzeption des Gesetzes ein Kollegialorgan. Das bedeutet, dass alle Mitglieder die Leitungsaufgabe gemeinsam wahrnehmen und die gleichen Rechte und Pflichten haben.1
Eine kollegiale Leitung im engen Sinne ist jedoch nicht vorstellbar. So haben
in der Praxis schon immer schon einzelne Mitglieder – meist der Vorstandsvorsitzende bzw. der Vorstandssprecher – den Vorstand dominiert und bei einzelnen
Unternehmen eine enorme faktischen Machtstellung erlangt.2 Sie haben nicht nur
maßgeblich die Entscheidungen des Vorstands beeinflusst, sondern sind auch in
der Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit zu einem Symbol für das Unternehmen geworden. Insofern kann man von einer »Personalisierung der Leitung«
sprechen.3
Eine solche Personalisierung der Leitung war bereits seit den Anfängen der
Aktiengesellschaft zu beobachten.4 Sie wurde aber erst in den letzten Jahrzehnten
durch die Medien verstärkt. Die juristische Literatur hat dieser Entwicklung lange
Zeit keine Beachtung geschenkt.5 Vielmehr wurde die Vorstandsorganisation nur
im Hinblick auf die Zulässigkeit einer Geschäftsverteilung, insbesondere in Form
der Spartenorganisation (Divisionalisierung), erörtert.6 Ein wesentlicher Grund
1 Dazu ausführlich unten 2. Teil A.I.
2 Für die Nachkriegszeit sind als prägende Unternehmenspersönlichkeiten insbesondere
Hans L. Merkle (Vorsitzender der Geschäftsführung der Robert Bosch GmbH), Hermann
Josef Abs (Vorstandssprecher der Deutschen Bank AG) und Berthold Beitz (Generalbevollmächigter von Krupp, später Vorsitzender des Stiftungskuratoriums und Aufsichtsratsvorsitzender) zu nennen, vgl. FAZ vom 23.09.2003, S. 18: »Berthold Beitz wird 90 Jahre
alt«.
3 Vgl. Bernhardt/Witt, ZfB 1999, 825 (831): »... dass der Vorstandsvorsitzende das Unternehmen immer stärker personifiziert.«. Witt, ZfO 2000, 159 (161): »Der Unternehmenserfolg wird zunehmend personalisiert.« Frühauf, ZGR 1998, 407 (409): »Unternehmensleitung von der Anonymität weg hin zur Person als Symbol für das Unternehmen«.
4 Siehe unten 2. Teil C.II.2.
5 Vgl. Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 497 (498 f.). Grundlegend wurde die Vorstandsorganisation nur in der Dissertation von Dose, Die Rechtsstellung der einzelnen Vorstandsmitglieder, behandelt. Sie stammt allerdings noch aus dem Anfangsjahr des heutigen Aktiengesetzes.
6 Grundlegend Schwark, ZHR 1978, 203 ff. Vgl. auch Heller, Unternehmensführung und
Unternehmenskontrolle; Mielke, Die Leitung der unverbundenen Aktiengesellschaft;
Schönbrod, Die Organstellung von Vorstand und Aufsichtsrat in der Spartenorganisation;
Martens, FS Fleck, S. 191 ff.; Schiessl, ZGR 1992, 64 ff.
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für diese spärliche Behandlung ist das Fehlen einer umfassenden Untersuchung
von Vorstandsgeschäftsordnungen.7 Obwohl sie keine sensiblen Angaben enthalten, werden die Geschäftsordnungen nur selten nach außen herausgegeben.8 Dar-
über hinaus spiegeln sie die faktischen Gegebenheiten innerhalb des Vorstands
nur teilweise wider. Auch die Corporate Governance-Diskussion9 hat die
Vorstandsorganisation lange vernachlässigt und sich zunächst auf die Verbesserung der Überwachungstätigkeit des Aufsichtsrats konzentriert.10 Erst die
Umstrukturierung des Vorstands der Deutschen Bank AG im Jahre 2002 hat die
Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass sich die Rolle des Vorstandsvorsitzenden in
der Praxis zunehmend der eines US-amerikanischen Chief Executive Officer
(CEO) annähert.11 In den USA ist die Geschäftsführung nicht kollegial, sondern
direktorial organisiert. Der CEO steht dort an der Spitze der Geschäftsführung
und verfügt im Gegensatz zum deutschen Vorstandsvorsitzenden über ein Weisungsrecht gegenüber den anderen Mitgliedern.12 Demzufolge prägt er die
Unternehmensleitung ganz erheblich.
7 So wurde eine umfassende Analyse der Geschäftsordnung deutscher Vorstände zwar angeregt, aber nicht durchgeführt, vgl. Oesterle, FAZ vom 25.04.2000: »L’entreprise c’est
moi«. Die Untersuchung von Vogel, Aktienrecht und Aktienwirklichkeit, aus dem Jahre
1980 befasst sich vorrangig mit anderen Aspekten der Unternehmenspraxis und bleibt hinsichtlich der internen Vorstandsorganisation vage. Auch die Studien von Bleicher/Paul/
Leberl, Unternehmensverfassung und Spitzenorganisation (1989) und von Paganoni, Vorstände deutscher Aktiengesellschaften und ihre strategische Entscheidungsfindung (1987/
88) gehen nicht ins Detail und sind inzwischen ebenfalls veraltet. Erst 2004 hat Gerum,
Das deutsche Corporate Governance-System, eine umfangreiche empirische Untersuchung zur Unternehmensverfassung deutscher Aktiengesellschaften unternommen (veröffentlicht 2007).
8 Eine Ausnahme bildet hier die Siemens AG, deren Vorstandsgeschäftsordnung (»GeschO
Siemens AG«) i. d. F. vom 24.07.2002 sogar im Internet abrufbar ist: htttp://www.siemens.de.
9 Der Begriff »Corporate Governance« stammt ursprünglich aus den USA und wird heute
international, aber nicht einheitlich gebraucht. Ein weites Verständnis des Corporate
Governance-Begriffs beeinhaltet die innere Organisation und Machtstruktur im Unternehmen, die Arbeitsweise der Leitungs- bzw. Überwachungsorgane in den verschiedenen
Systemen der Unternehmensleitung, die Eigentümerstruktur des Unternehmens und die
Beziehung zwischen Unternehmensleitung, Aktionären und anderen am Unternehmen
Beteiligten, insbesondere Arbeitnehmern und Gläubigern, vgl. Hopt/Prigge, Preface, in:
Hopt/Kanda/Roe/Wymeersch/Prigge (Hrsg.), Comparative Corporate Governance – The
State of Art and Emerging Reserach, S. V, und Prigge, in: Hopt/Kanda/Roe/Wymeersch/
Prigge (Hrsg.), Comparative Corporate Governance, S. 943 (946 f.)
10 Hoffmann-Becking, ZGR 1998, 497 (497) m. w. N. Auch Lutter, ZGR 2001, 224 (227),
sieht die deutschen Corporate-Governance-Probleme allenfalls in zweiter Linie hinter dem
Aufsichtsrat beim Vorstand. Sünner, AG 2000, 492 ff., untersucht die Zusammenhänge
zwischen Corporate Governance und deutschem Aktienrecht, Unternehmenserfolg,
Hauptversammlung und Aufsichtsrat. Eine Betrachtung der Rückwirkung der Corporate
Governance auf die Struktur des Vorstands wird dagegen fast völlig ausgeklammert.
11 V. Hein, RIW 2002, 501 ff.; Kübler, BB 2002, Heft 12, Die Erste Seite.
12 Bleicher/Paul/Leberl, Unternehmensverfassung und Spitzenorganisation, S. 30.
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B. Kollegialprinzip und dualistisches System
Die Annäherung der Rolle des Vorstandsvorsitzenden bzw. Vorstandssprechers in
der Praxis an den CEO wirft die Frage auf, inwieweit das im Gesetz verankerte
Kollegialprinzip überhaupt noch praxisgerecht ist und ob nicht auch das deutsche
Aktienrecht eine stärkere Personalisierung der Leitung zulassen sollte. Der genaue Inhalt des Kollegialprinzips im deutschen Recht ist aber bisher noch nicht
umfassend systematisiert worden. So wird leicht übersehen, dass das Gesetz eine
gewisse Personalisierung der Leitung bereits zulässt. Ebenfalls noch nicht näher
untersucht wurde, wo hier im Einzelfall die Grenzen des Zulässigen liegen und
inwieweit die Dominanz eines einzelnen Vorstandsmitglieds in der heutigen Unternehmenspraxis noch mit dem Kollegialprinzip vereinbar ist.
Die Stellung eines einzelnen Vorstandsmitglieds wird aber nicht nur durch die
kollegiale Binnenorganisation des Vorstands geprägt. Vielmehr hängt sie auch
erheblich von den Befugnissen des Gesamtvorstands und damit der geltenden
Unternehmensverfassung ab. In Deutschland gilt bekanntermaßen das sog. dualistische System der Unternehmensverfassung, das durch die Existenz zweier
Organe neben der Hauptversammlung – dem Vorstand und dem Aufsichtsrat –
gekennzeichnet ist.13 Der Vorstand ist das alleinige Leitungsorgan, während dem
Aufsichtsrat die Überwachung der Unternehmensleitung obliegt. In anderen Ländern, insbesondere im anglo-amerikanischen Raum, ist dagegen das sog. monistische System der Unternehmensverfassung verbreitet.14 Dort besteht die Aktiengesellschaft neben der Hauptversammlung nur aus einem weiteren Organ –
dem board –, das sowohl die Leitung als auch die Kontrolle ausübt. Jedoch kann
die Leitung des Tagesgeschäfts auf einzelne Geschäftsführer delegiert werden,
die gewöhnlich unter der Leitung eines CEO stehen. Das monistische System war
in Deutschland nur im 19. Jahrhundert möglich.15
13 Hopt, ZGR 2000, 779 (783). Dieses System wird daher auch Aufsichtsratssystem, Trennungsmodell, duales oder dualistisches System oder »two-tier-board« genannt, Bleicher/
Paul/Leberl, Unternehmensverfassung und Spitzenorganisation, S. 44; Hopt, in: Hopt/
Kanda/Roe/Wymeersch/Prigge (Hrsg.), Comparative Corporate Governance, S. 227 (227).
14 Schneider-Lenné, in: Scheffler (Hrsg.), Corporate Governance, S. 2 ff.; Leyens, RabelsZ
2003, 57 (61). Dieses System wird dementsprechend auch Verwaltungsratssystem, Board-
Modell, Einheitssystem, Vereinigungsmodell oder »one-tier-board« genannt.
15 Mangels entsprechender Regelungen im Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch
(ADHGB) von 1861 bestimmte anfangs allein die Satzung über die Art der Unternehmensverfassung. Man kann sich darüber streiten, wann genau das dualistische System zwingend
wurde, da die 1. Aktienrechtsnovelle von 1870 zwar den Aufsichtsrat als zwingendes
Organ einführte, aber erst die 2. Aktienrechtsnovelle von 1884 die Exklusivität der Zugehörigkeit zum Vorstand und Aufsichtsrat vorschrieb. Der Aufsichtsrat war weiterhin gem.
Art. 225 Abs. 3 ADHGB 1884 dem Vorstand gegenüber weisungsberechtigt. Das HGB
1897 enthielt dieses ausdrückliche Weisungsrecht nicht mehr, jedoch konnte die Satzung
oder ein Beschluss der Generalversammlung weiterhin den Vorstand anweisen, den
Beschlüssen des Aufsichtsrats Folge zu leisten, vgl. Art. 235 Abs. 1 HGB 1897. Erst § 70
Abs. 1 AktG 1937 statuierte die autonome Leitung des Vorstands. Vgl. zum Ganzen Lutter,
in: Scheffler (Hrsg.), Corporate Governance, S. 5 (7 ff.).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Studie analysiert die Personalisierungsmöglichkeiten für eine Aktiengesellschaft mit Sitz in Deutschland. Untersucht werden sowohl die klassische Aktiengesellschaft als auch die seit 2004 mögliche Europäische Aktiengesellschaft (SE).
Ausgangspunkt der Untersuchung ist eine Systematisierung des Kollegialprinzips sowie der bereits im Gesetz angelegten Personalisierungsmöglichkeiten, wie der Vorstandsvorsitzende und der Vorstandssprecher. Sodann wird erörtert, auf welchen Faktoren deren faktische Macht beruht und wo die gesetzlichen Grenzen liegen. Daraus leitet die Autorin ab, ob die bestehenden gesetzlichen Regeln noch angemessen sind.
Darüber hinaus werden die Personalisierungsmöglichkeiten bei einer Europäischen Aktiengesellschaft (mit Sitz in Deutschland) aufgezeigt, und zwar zunächst für eine SE mit dem sogenannten dualistischen Leitungssystem. Für die SE mit monistischem System untersucht die Autorin rechtsvergleichend, inwieweit die Regelungen des deutschen SE-Ausführungsgesetzes bestehenden Corporate Governance-Grundsätzen entsprechen. Außerdem schlägt sie Regelungen über die monistische SE zur Aufnahme im Deutschen Corporate Governance Kodex vor.