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rung.131 Diese Mindestkriterien dienen der Gleichheit der Einflussnahmemöglichkeiten ebenso wie der Gemeinwohlorientierung staatlichen Handelns und müssen bei
der Inkorporation und Rezeption Privater sichergestellt werden. Diesen Geboten
demokratischer Legitimationsverantwortung kann jedoch je nach Sachbereich und
Aufgabe unterschiedliches Gewicht beigemessen werden. Ferner sind die konkreten
Anforderungen an die rechtliche Konzeption einer legitimationssichernden Verfassung des Einbezugs Privater nach Maßgabe deren Einfluss- und Bindungsintensität
zu bestimmen. Ihnen ist unter sachbereichsadäquater Anpassung mittels Aufsichtsstrukturen, organisatorischen und vertraglichen Beteiligungs- und Unabhängigkeitssicherungen, der Gewährleistung staatlicher Repräsentanz sowie Transparenzgeboten innerhalb der binnenorganisatorischen Ausdifferenzierung der privaten und
intermediären Entscheidungsträger und deren Kooperations- und Handlungsstrukturen Rechnung zu tragen.
V. Gemeinwohlsichernde Verfassung der wissenschaftlichen Standardgenerierung
unter Berücksichtigung ihrer Besonderheiten
Die Ansiedelung des Standardisierungsprozesses im Sachbereich der Wissenschaft
unter den zuvor skizzierten Grundbedingungen und die Natur der wahrzunehmende
Aufgabe, Sicherung der Funktionalität der Wissenschaft, werfen die Frage nach dem
konkreten Niveau der erforderlichen Anforderungen auf. Betrachtet man die selbstdefinitorische, grundrechtlich fundierte und durch automatisierte Internationalisierungstendenzen abgestützte Standardgenese als einheitlichen Gesamtprozess, an
dem eine Vielzahl von Akteuren in unterschiedlicher Weise teilnimmt, sind Anzahl
und Ausmaß der Konfliktfelder im Anwendungsbereich wissenschaftlicher Standardbildung sowie deren Verhältnis und Rückbezug zur Rechtsordnung geringer
einzuschätzen, als dies etwa bei der Individualbetrachtung konkreter Fehlverhaltensverfahren und Normungsprozesse einzelner Akteure oder aber generell in anderen Sachbereichen und unter anderen Kooperationsbedingungen der Fall ist. Zu den
verantwortlichen Gründen zählen insbesondere die Vielfalt und Komplexität der
Verkopplung von Sachverstand und Interessenvertretung der Standardgenese, der
damit einhergehende gute Organisationsgrad sowie die hohe Konflikt- und Sicherungsfähigkeit von Interessen, die geringe Interessendifferenz, die grundrechtlich
abgestützte Autonomie des Sachbereichs und die Offenheit für neutralitätssichernde
Distanzen. Die vielfältigen Verzweigungen und Verkopplungen des selbstdefinitorischen Prozesses im Rahmen fachöffentlicher Diskussion garantieren ein hohes Maß
an Interessenberücksichtigung in einem Sachbereich, der ohnehin wesentlich stärker
131 Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freheit und saatlicher Institutonalisierung,
S. 315 ff; ders. in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.) Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, S. 167 (209); Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-
Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.) Konfliktbewältigung durch Verhandlungen, Bd. II, S. 9
(18 ff., 26 ff.)
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von Interessenhomogenität denn von Interessengegensätzen geprägt ist als andere
Bereiche der Selbstverwaltung.132 Interessen und Sachverstand kommen im Bereich
der wissenschaftlichen Standardbildung nahezu zur Deckung, da die an der Standardgenese beteiligten sachverständigen Personen regelmäßig als Angehörige verschiedener Forschungsdisziplinen, Forschungstypen, Forschungsorganisationen sowie unterschiedlicher Statusgruppen agieren und so gleichzeitig der Berücksichtigung disziplin-, typus- oder tätigkeitsspezifischer Interessen dienen. Diese Interessen sind gleichsam im Sachverstand mitorganisiert.133 Sie werden zum Teil durch
die plurale Binnenstruktur von Experten- und Verfahrensgremien einbezogen oder
durch die vielfältige Beteiligung heterogener Interessengruppen transportiert. Der
verzweigte Standardisierungsprozess ermöglicht überdies eine umfassende Mobilisierung des vorhandenen Sachverstandes, da der Zugang zum Diskussionsprozess
wenn nicht über die verschiedenen Verfahrensgremien so doch mindestens im Wege
des individuellen oder öffentlichen Diskurses gegeben ist. Die stetige Anerkennung
und Kritik neuer Gesichtspunkte rechtfertigt die Annahme, dass das Produkt des
Standardisierungsprozesses in hohem Maße adäquate und akzeptable Standards sind.
Die rasche übereinstimmende Einigung auf einen Mindeststandard klassischer Fehlverhaltensweisen in den Regelwerken unabhängig vom ausgeführten Forschungstyp
und den betriebenen Disziplinen der Einrichtung sowie die geringe Ausdifferenzierung von Standards beweist insoweit einen gewissen Gleichklang der Interessen, der
letztlich in dem allen Interessenvertretern gemeinsamen Bedarf nach einem in erster
Linie funktionsfähigen Wissenschaftssystem begründet ist.
Die Aufgabe der Standardgenese ist weder eindeutig als Staats- noch als reine gesellschaftliche Aufgabe charakterisierbar. Aufgabenstellung und Zielsetzung verlangen einerseits eine staatliche Verantwortlichkeit, wo die sachgerechte Allokation
von Staatsmitteln zur Förderung der Innovationsfähigkeit des Staates zu sichern ist.
Andererseits setzt die grundrechtliche Ausübung der Wissenschaftsfreiheit etwas die
Funktionsfähigkeit der Kommunikations- und Handlungsvorgänge voraus. Hierfür
besteht nur eine aus der objektiven Dimension des Art. 5 Abs. 3 GG folgende Rahmenverantwortung, letztlich ist es aber Sache der Grundrechtsträger selbst die Kommunikations- und Handlungsstränge frei von Störungen oder Missverhältnissen zu
halten. Ferner ist die Standardbildung ein Selbststeuerungsprozess der Wissenschaft,
der innerhalb der Kommunikations- und Handlungsrationalitäten vor staatlichen
Zusammenhängen nicht Halt macht, aber durch seine partielle Verstaatlichung und
Verrechtlichung auch nicht den Anspruch aufgibt, in erster Linie Ausdruck der wissenschaftlichen Autonomie sowie der Funktionslogik der Wissenschaft zu sein.
Standardisierungsverantwortliche in Hochschulen und anderen Einrichtungen nehmen ihre Aufgaben als Repräsentanten der scientific community war. Insoweit kön-
132 Vgl. zu Selbstverwaltungsstrukturen im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung etwa
Mengel, Sozialrechtliche Rezeption ärztlicher Leitlinien, S. 202 ff., 213; Wahl, Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht.
133 Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung,
S. 319 f.
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nen hier die Anforderungen an die legitimatorischen Anforderungen der Generierung rezeptionsfähiger Standards im Wissenschaftsrecht jedenfalls dort nicht überspannt werden, wo etwa die Beeinflussung der staatlichen Rechtssetzung in den
Universitäten Teil des Generierungsprozesses selbst ist, in Wahrnehmung grundrechtlicher Direktiven vorgenommen wird und auf die außerrechtliche gesellschaftlichen Prozesse und Normen ebenso zurückwirkt wie umgekehrt. Die vorgenommene Kategorisierung der deutschen Standards und Verfahrensregelwerke134 hat gezeigt, dass auch in den Forschungsgesellschaften und Vereinen eine Ebene der
fremdgebildeten gesellschaftlichen Normen eingespielt wird. Der verfassungsrechtliche Titel lässt ein Absenken der Anforderungen an demokratische Legitimation
nicht zuletzt deshalb zu, weil im Rahmen der grundrechtlich getragenen funktionalen Selbstverwaltung überwirkende und autonome Legitimation zusammenspielen.
Ansatzpunkt einer autonomen Legitimation ist die körperschaftliche Verwaltung der
eigenen Angelegenheiten der Organisationen, in denen Vermittlung staatlicher und
gesellschaftlicher Aspekte stattfindet.135 Demokratische Legitimation stützt die Institutionalisierung selbst ab, sie bezieht sich auf die staatliche Zwecksetzung sowie die
Ausgestaltung der Wahrnehmung von Eigeninteressen, die Abgrenzung und Vermittlung von eigenständiger Interessenwahrnehmung und staatlichen Aufgaben sowie Rechten Dritter.136
Schließlich besteht aufgrund der selbstverständlichen internationalen Vernetzung,
insbesondere in Teilbereichen wie den Naturwissenschaften, die besondere Vermutung der Distanziertheit von übermächtigen auf nationaler Ebene angesiedelten Interessen und Interessenvertretern. Durch die Inbezugnahme internationaler Entwicklungen wird eine Neutralitätsebene eingezogen, die Machtungleichgewichten und
Neutralitätsdefiziten in den engeren nationalen Räumen entgegenwirkt. Die herausgearbeiteten Unterschiede zwischen den Nationen haben gezeigt, dass das deutsche
Modell mit seinen weichen Standards und Verfahrensmaßstäben besonders geeignet
ist, diese internationalen Tendenzen aufzunehmen und in den Standardisierungsprozess hineinzuspielen. Im Vergleich zu den anderen beiden Verfahrensmodellen ist
das deutsche am engsten mit den wissenschaftlichen Organisationsstrukturen selbst
verkoppelt und mit seinen weichen Maßstäben und Verfahren für eine inkrementale,
stetig aktualisierbare Standardbildung auch am besten aufnahmefähig. Dabei wird
die Vagheit durch den prozeduralisierten und sich aus sich heraus selbst begründenden stetigen Wissenszuwachs kompensiert. Den gleichen Effekt können die verfestigten Maßstäbe in den USA nicht leisten. Wie der Fall Jan Hendrik Schön gezeigt
hat, wird dort in Fehlverhaltensverfahren nur dasjenige Verhalten erfasst, das Gegenstand der Federal Policy oder einer regulation ist.137 In Dänemark stößt man bei
134 Vgl. oben 4. Teil, D. II. 3. b), S. 328 ff.
135 Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung,
S. 212; siehe auch Schmidt-Aßmann, AöR 116 (1991), 329 (344 f., 376 ff.).
136 Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung,
S. 212.
137 Vgl. oben 5. Teil, B. I. 4., Fn. 106.
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der Abweichung von dem gesetzlich manifestierten verfestigten Unredlichkeitsmaßstab ebenfalls auf Widerstand.138 Diese Unterschiede und Konsequenzen in der
Offenheit der Maßstäbe der Nationen belegen die besondere Eignung des deutschen
Modells für eine in hohem Maße sach- und interessengerechte Standardgenese, die
ein Absenken der Anforderungen in den Einzelstrukturen rechtfertigt.
VI. Tatsächliche Umsetzung staatlicher Verantwortung in legitimationsbildenden
Mustern in Standardbildungsverfahren
Gemeinwohlsichernde Instrumente finden sich nicht in gleicher Weise auf allen
Ebenen der Standardgenese wieder. Zum Teil sind es die institutionellen Besonderheiten oder aber die konfligierenden spezifischen Verfahrensinteressen der von Fehlverhaltensverfahren Betroffenen, die bis in alle Verzweigungen des Vermittlungsvorgangs von staatlichen und wissenschaftlichen Einflüssen gleichermaßen ausdifferenzierte und präsente gemeinwohlsichernde Vorkehrungen verhindern. Die Verankerung weiter Teile des Standardisierungsprozesses bei den Forschungs- und Forschungsförderungseinrichtungen führt im deutschen Verfahrensmodell zu einer
enormen Vielfalt der binnenorganisatorischen Einflussträger und Standardisierungseinheiten, die einer erschwerten Zuordenbarkeit zum gesellschaftlichen oder staatlichen Bereich139 unterliegen. Dies verkompliziert die Ermittlung der adäquaten Anforderungen nach den zuvor genannten Kriterien, insbesondere im Verhältnis zum
staatlichen Einfluss. Es ist nicht auf den ersten Blick auszumachen, an welchen
Stellen der Staat die Einzelvorgänge vollständig aus der Hand gibt und an welchen
er vermittelt über die Besetzung von Gremien und Organen mitentscheidet und somit selbst Gemeinwohlinteressen zur Geltung verhilft. Staatliche Verantwortung und
gesellschaftliche Teilhabe realisieren sich im Bereich wissenschaftlicher Organisationen ausdifferenziert entsprechend deren funktionaler und relationaler Aufgliederung. Die Zurechnung wissenschaftlicher Organisationseinheiten zum Staat ist insofern eine Frage der gleitenden Übergänge und keine leicht zu lösende Aufgabe.140
Die Organisationsform kann für die daran anschließenden Legitimationsfragen lediglich als Indiz herhalten. Selbst innerhalb staatlich zurechenbarer Organisationen
unterfallen nicht notwendig auch alle Organisationshandlungen demokratischer Organisation und ebenso umgekehrt.141
Defizite und Schwierigkeiten der Austarierung von Gemeinwohlbelangen im Einzelfall werden durch den Einbezug der Pluralität des deutschen Wissenschaftssystems aufgefangen und ausbalanciert. In den Binnenstrukturen wohnt dem Prozess
138 Vgl. oben 3. Teil, E. II., S. 220 ff.
139 Vgl. zu der groben Kategorisierung oben 4. Teil, D. III. 1., S. 352 ff.
140 Vgl. Schuppert, Die Erfüllung öffentllicher Aufgaben durch verselbständigte Verwaltungseinheiten.
141 Trute, Die Forschungs zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 215 f.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Wissenschaftliches Fehlverhalten ist kein neuartiges, aber ein in Deutschland lange unbeachtetes Phänomen. Die Autorin vergleicht verschiedene nationale Standards und Verfahrensmodelle des Umgangs mit wissenschaftlichem Fehlverhalten und erkennt Tendenzen einer allgegenwärtigen zunehmenden Verkomplizierung und zugleich Internationalisierung von Regulierungssystemen in diesem Bereich.