461
oder Verwaltungsvorschriften transformiert.110 Ferner legen universitäre Gremien in
konkreten Fehlverhaltensverfahren die anwendbaren abstrakten Fehlverhaltensstandards durch Inkorporation der Standardkonkretisierungen anderer Verfahrensgremien aus teils privaten teils staatlichen Einrichtungen aus. Auf der Sanktionsebene
werden Normen, die die Reaktionsmöglichkeiten der Wissenschafts(förder)einrichtungen nach allgemeinem Recht abbilden, wie etwa kündigungsrechtliche oder disziplinarrechtliche Rechtsnormen, durch wissenschaftliche Standards ausgefüllt111.
Schließlich erfolgt die Konkretisierung des Schutzbereichs des Art. 5 Abs. 3 GG
über die Verfahren. Der Einfluss von wissenschaftlichen Verhaltensstandards
kommt mithin sowohl auf Rechtsetzungsebene als auch auf der Tatsachenfeststellungsebene zum Tragen. Der Schwerpunkt liegt bei der Beeinflussung staatlicher
Rechtsanwendung und Konkretisierung. Die Grenzen zwischen Standardbildung und
Rezeption verschwimmen jedoch insoweit, als staatliche Forschungs(förder)einrichtungen zugleich in den Standardisierungsprozess eingebunden sind und Inkorporationsstrukturen für wissenschaftliche Standards zur Verfügung stellen.
III. Relevante Bindungswirkungen
Die Inkorporation wissenschaftlicher Standards in rechtliche Zusammenhänge führt
trotz autonomer selbstdefinitorischer Entwicklung zu einer Reihe von rechtlichen
und faktischen Bindungen an Standardisierungsergebnisse privater Entscheidungsträger und Kooperationen.
Die Anknüpfung der Mittelvergabe der DFG an die Standardisierung etwa belegt
die Universitäten mit einer Bindung an die Empfehlungen der Kommission „Selbstkontrolle in der Wissenschaft“. Mit den Ergebnisfeststellungen von Fehlverhaltensverfahren entsteht eine faktische Vorausbindung der Entscheidungsträger in nachfolgenden wissenschaftlichen Verfahren anderer Einrichtungen oder in arbeits-,
dienst-, zivil- oder strafrechtlichen Sanktionsprozessen. Dadurch reduzieren sich die
realen Einwirkungsmöglichkeiten von Interessenvertretern und Betroffenen auf das
nachfolgende Sanktionsverfahren ebenso wie auf sich anschließende gerichtliche
Auseinandersetzungen. Obwohl unabhängig von der Rechtsnatur und Organisation
der Forschungseinrichtung und deren Verfahrensentscheidung regelmäßig keine
rechtliche Bindungswirkung an die Feststellungen eines deutschen Verfahrensgremiums entsteht112, können auch bloße Feststellungen nicht als bedeutungslos
bewertet werden. Ihre Bindungsintensität kann sich denen von rechtsverbindlich
formulierten Standards annähern, weil die an der verfahrensimmanenten Standardbildung beteiligten Personen generell einen enormen Aufwand an Zeit und Ressourcen zur Erarbeitung sowohl ihrer schriftlich verfassten Standards und Verfahrensregeln als auch ihrer jeweiligen Fehlverhaltensuntersuchungen verwendet haben. Auch
110 Zur Einordnung oben 4. Teil, D. II. 3. b) cc) und dd) , S. 334 ff. und 339 f.
111 Vgl. dazu oben 4. Teil, H. II., S. 419 ff.
112 Vgl. dazu oben 4. Teil, F. VI., S. 410 ff. und 4. Teil, H., S. 417 ff.
462
die nachrangigen Entscheidungsträger werden nicht zuletzt aufgrund des durch das
Verfahren entstandenen und teilweise medial verstärkten Handlungsdrucks tätig und
sehen sich konkreten an das Verfahrensergebnis anknüpfenden Folgeerwartungen
ausgesetzt.
Die skizzierten Einflüsse und Bindungen machen eine Klärung der Bedingungen
und Voraussetzungen notwendig, unter denen die Rückkopplung zu gesellschaftlichen Normen möglich ist.
IV. Sicherung demokratischer Legitimation bei der Inkorporation und Rezeption von
Standards aus privaten und intermediären Bildungszusammenhängen
Im Allgemeinen wirft der Rückbezug gesellschaftlicher Standards zum Recht durch
die Einbeziehung privater und intermediärer Organisationen in staatliche Entscheidungsprozesse und Steuerungszusammenhänge Gemeinwohlprobleme auf und ist
daher nur unter Sicherstellung der gemeinwohlsichernden legitimatorischen Anforderungen des Demokratieprinzips zulässig. Nachfolgend werden diese Gemeinwohlprobleme ebenso wie die grundlegenden legitimatorischen Anforderungen und
Möglichkeiten ihrer Sicherung entfaltet.
1. Gemeinwohlverträglichkeit wissenschaftlicher Standardisierungsprozesse
Durch die Überlassung des Standardbildungsprozesses an teils staatliche, teils private, teils intermediäre Forschungs- und Forschungsförderungseinrichtungen wird eine
Einflussöffnung dieser Akteure auf staatliches Handeln ermöglicht, die unter dem
Gesichtspunkt demokratischer Legitimation des staatlichen Handelns nach einer legitimatorischen Auflösung verlangt.
Private Entscheidungsträger unterliegen regelmäßig dem Einfluss gesellschaftlicher Interessengruppen und werden nicht selten in mehr oder minder stark ausgeprägter und nach außen hin deutlich werdender Form durch Machtzirkel mitbestimmt.113 Dies begünstigt ein Ungleichgewicht in der Beeinflussung staatlicher Entscheidungen, für das eine funktionierende Legitimationsordnung Sicherungen bereitstellen muss. Auch die internen Strukturen der Akteure des deutschen Verfahrensmodells sind auf den ersten Blick geeignet, ein interessengesteuertes Standardisierungsverfahren, welches den Anforderungen demokratisch legitimierten Outputs
nicht hinreichend gerecht zu werden scheint, zu begünstigen. Klassische Gemeinwohlsicherungsinstrumente versagen, weil meist eine rein faktische Bindung von
Exekutive und Judikative an die Handlungen und Entscheidungen einer Vielzahl
einzelner Wissenschaftler und Gremien existiert. Dies gilt für die Bindung staatli-
113 Trute, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.) Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsressource, S. 249 (288).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Wissenschaftliches Fehlverhalten ist kein neuartiges, aber ein in Deutschland lange unbeachtetes Phänomen. Die Autorin vergleicht verschiedene nationale Standards und Verfahrensmodelle des Umgangs mit wissenschaftlichem Fehlverhalten und erkennt Tendenzen einer allgegenwärtigen zunehmenden Verkomplizierung und zugleich Internationalisierung von Regulierungssystemen in diesem Bereich.