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2. Eigenständiges Rechtsfolgensystem des JGG
Aufgrund der vorrangigen Orientierung am Erziehungsgedanken verfügt das JGG
über ein eigenständiges Rechtsfolgensystem. Dabei wird zwischen dem sog. formellen und informellen System jugendstrafrechtlicher Reaktionstypen differenziert852.
Der Unterschied besteht im Wesentlichen darin, dass die Beendigung des Jugendstrafverfahrens bei ersterem durch formelles Urteil und bei letzterem durch informelle Verfahrenseinstellung erfolgt853.
Die formellen Rechtsfolgen sind gemäß § 5 Abs. 1, 2 JGG unterteilt in Erziehungsmaßregeln (§§ 9-12 JGG), Zuchtmittel (§§ 13-16 JGG) und Jugendstrafe (§ 17 ff.
JGG)854.
Als Erziehungsmaßregeln855 sind in § 9 JGG abschließend aufgezählt die Erteilung von Weisungen
(§ 9 Nr. 1 i.V.m. § 10 JGG) und die Auferlegung der Inanspruchnahme von Hilfen zur Erziehung
(§ 9 Nr. 2 JGG)856 in Form der Erziehungsbeistandschaft (§ 12 Nr. 1 JGG i.V.m. § 30 SGB VIII)857
oder der Heimerziehung (§ 12 Nr. 2 JGG i.V.m. § 34 SGB VIII)858.
852 Vgl. Ostendorf, JGG, 7. Aufl. 2007, Grdl. z. §§ 45 u. 47 Rn. 4; Eisenberg, JGG, 13. Aufl.
2009, § 5 Rn. 18; Laubenthal/Baier, Jugendstrafrecht, 2006, Rn. 418; P.-A. Albrecht, Jugendstrafrecht, 3. Aufl. 2000, S. 118 f.
853 Vgl. P.-A. Albrecht, Jugendstrafrecht, 3. Aufl. 2000, S. 119.
854 Vgl. P.-A. Albrecht, Jugendstrafrecht, 3. Aufl. 2000, S. 137.
855 Der Begriff „Erziehungsmaßregel“ umfasst nur die in § 9 JGG abschließend aufgezählten
Rechtsfolgen und ist zu unterscheiden von den sog. familien- oder vormundschaftsrichterlichen Maßnahmen i.S.d. § 3 Satz 2 JGG, die im Einzelnen in § 34 Abs. 3 JGG aufgeführt sind. Näher zum Sinn und Zweck einer Erziehungsmaßregel unter C. II. 1.
856 Gegenüber Heranwachsenden findet gemäß § 105 Abs. 1 JGG nur § 9 Nr. 1 JGG entsprechende Anwendung, siehe auch §§ 7 Abs. 1 Nr. 2, 27 SGB VIII. Auf die in § 41 SGB VIII
geregelte „Hilfe für junge Volljährige“ darf der Jugendrichter somit nicht erkennen, vgl. hierzu Ostendorf, JGG, 7. Aufl. 2007, § 12 Rn. 1.
857 § 30 SGB VIII lautet wie folgt: „Der Erziehungsbeistand und der Betreuungshelfer sollen das
Kind oder den Jugendlichen bei der Bewältigung von Entwicklungsproblemen möglichst unter Einbeziehung des sozialen Umfelds unterstützen und unter Erhaltung des Lebensbezugs
zur Familie seine Verselbständigung fördern.“
858 § 34 SGB VIII lautet wie folgt: „Hilfe zur Erziehung in einer Einrichtung über Tag und Nacht
(Heimerziehung) oder in einer sonstigen betreuten Wohnform soll Kinder und Jugendliche
durch eine Verbindung von Alltagserleben mit pädagogischen und therapeutischen Angeboten in ihrer Entwicklung fördern. Sie soll entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des
Kindes oder des Jugendlichen sowie den Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie
1. eine Rückkehr in die Familie zu erreichen versuchen oder
2. die Erziehung in einer anderen Familie vorbereiten oder
3. eine auf längere Zeit angelegte Lebensform bieten und auf ein selbständiges Leben
vorbereiten.
Jugendliche sollen in Fragen der Ausbildung und Beschäftigung sowie der allgemeinen Lebensführung beraten und unterstützt werden.“
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Als Zuchtmittel859 nennt das Gesetz in § 13 Abs. 2 JGG die Verwarnung (§ 14 JGG), die Erteilung
von Auflagen (§ 15 JGG) und den Jugendarrest (§ 16 JGG)860.
Die informellen Reaktionsmöglichkeiten (§§ 45, 47 JGG) – begrifflich auch als „Diversion“861 bezeichnet – beinhalten die Möglichkeit der Verfahrenseinstellung
(überwiegend) vor, aber auch während des Hauptverfahrens durch den Staatsanwalt
bzw. Richter, soweit eine förmliche Sanktionierung im Rahmen des gerichtlichen
Verfahrens für entbehrlich erachtet wird. Die Verfahrenseinstellung kann dabei gemäß §§ 45 Abs. 1, 47 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 JGG unter Verzicht auf jede Sanktionierung erfolgen (Non-Intervention862) oder gemäß §§ 45 Abs. 2, 3, 47 Abs. 1 Satz 1
Nr. 2, 3 JGG verbunden werden mit sog. erzieherischen Maßnahmen863.
Findet das JGG Anwendung, so verdrängt sein Rechtsfolgensystem als lex spezialis
grundsätzlich die Bestimmungen des allgemeinen Strafrechts zu den Rechtsfolgen
859 In den neuen Bundesländern gilt gemäß Kap. III. C Abschnitt III Nr. 3c der Anlage I zum
Einigungsvertrag anstelle des Begriffs Zuchtmittel die Aufzählung „Verwarnung, Erteilung
von Auflagen und Jugendarrest“, § 13 Abs. 2 JGG ist hier insoweit ohne Bedeutung.
860 Siehe hierzu näher die Ausführungen unter C. VI. 1. a).
861 Der Begriff „Diversion“ (= Umleitung/Ablenkung) stammt aus der nordamerikanischen Diskussion über den Umgang mit „Bagatelltätern“ und beinhaltet die rechtspolitische Forderung,
zu Gunsten einer positiven Individualprävention auf „ubiquitäre“ jugendliche Normverstöße
möglichst ohne formelles, mit einem Urteil endenden Strafverfahren zu reagieren, vgl. Eisenberg, JGG, 13. Aufl. 2009, § 45 Rn. 17; Rössner in Meier/Rössner/Schöch, Jugendstrafrecht,
2. Aufl. 2007, § 2 Rn. 16; Laubenthal/Baier, Jugendstrafrecht, 2006, Rn. 41; P.-A. Albrecht,
Jugendstrafrecht, 3. Aufl. 2000, S. 25; siehe auch den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung
des Jugendgerichtsgesetzes (1. JGGÄndG), BT-Drucks. 11/5829 vom 27.11.1989, S. 13 und
die Richtlinien der einzelnen Bundesländer zu §§ 45, 47 JGG, entsprechende Übersicht bei
Diemer in Diemer/Schoreit/Sonnen, JGG, 5. Aufl. 2008, § 45 Rn. 5; da nach amerikanischen
Reformmodellen unter „Diversion“ auch die polizeiliche Verwarnung des Jugendlichen oder
die polizeiliche Veranlassung der Betreuung des Jugendlichen durch private Institutionen ohne Einleitung eines Strafverfahrens zu verstehen ist, wird die Verwendung dieses Begriffs bei
den §§ 45, 47 JGG als „irreführend“ kritisiert, weil der Vorgang weder an der Justiz vorbei
umgeleitet, noch die Konfliktregelung in das soziale Umfeld des Täters verlegt werde – „Umleitung“ könne hier nur bedeuten, von der formellen justiziellen Erledigung zu Formen informeller, schneller und flexibler Reaktionen zu gelangen, zumal es rechtsstaatlich bedenklich erscheine, unterhalb der Ebene des Staatsanwalts Befugnisse zur Erledigung des Verfahrens anzusiedeln, so Böhm/Feuerhelm, Einführung in das Jugendstrafrecht, 4. Aufl. 2004,
S. 106 f.; ebenso Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht, 14. Aufl. 2002, S. 239 f.
862 Der Begriff geht auf den amerikanischen Kriminologen Edwin M. Schur (Radical Nonintervention, 1973) zurück („leave kids alone wherever possible“).
863 Der Begriff „erzieherische Maßnahmen“ umfasst einerseits „im allg Sinne sämtl Einwirkungen, die privat oder behördl in Erfüllung einer Erziehungsaufgabe bezogen auf Jugendliche
vorgenommen werden“, Eisenberg, JGG, 13. Aufl. 2009, § 9 Rn. 6, als auch die informelle
richterliche Anordnung einer Ermahnung, Weisung i.S.d. § 10 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4, 7, 9 JGG
oder Auflage i.S.d. § 15 JGG, siehe zur Intervention mittels erzieherischer Maßnahmen im
Einzelnen Laubenthal/Baier, Jugendstrafrecht, 2006, Rn. 276 ff.; P.-A. Albrecht, Jugendstrafrecht, 3. Aufl. 2000, S. 120 ff.
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der Tat (§§ 38 bis 76a StGB)864. Eine explizite Regelung zum Fahrverbot findet sich
darin nicht865.
Anders verhält es sich bei der Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 69 Abs. 1 StGB. Hier bestimmt § 7 JGG ausdrücklich, dass von den „Maßregeln der Sicherung und Besserung im Sinne des
allgemeinen Strafrechts … die Entziehung der Fahrerlaubnis angeordnet werden (§ 61 Nr. … 5 des
Strafgesetzbuches)“ kann866. Die daran anknüpfende Frage, inwieweit der Erziehungsgedanke des
Jugendstrafrechts bei der Anordnung einer Maßregel zum Schutz der Allgemeinheit vor erneuten
Verkehrsstraftaten zu berücksichtigen ist bzw. berücksichtigt werden kann, wird allerdings unterschiedlich beurteilt867: Bspw. ist strittig, ob die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 StGB bei
Vorliegen der Voraussetzungen auch im Jugendstrafrecht zwingend anzuordnen ist oder die Formulierung in § 7 JGG „können ... angeordnet werden“ dem Jugendrichter insoweit einen Ermessensspielraum eröffnet868. Gleiches gilt im Hinblick auf die Notwendigkeit einer besonderen, einzelfallorientierten Prüfung der Erforderlichkeit der Maßregel entgegen der Regelvermutung des § 69 Abs.
864 Vgl. Fischer, StGB, 56. Aufl. 2009, § 10; Lemke in NK-StGB, Bd. 1, 2. Aufl. 2005, § 10 Rn.
1; zum Verhältnis der §§ 45, 47 JGG zu den Opportunitätsregelungen der StPO (insbesondere
§§ 153, 153a, 153b StPO) siehe Diemer in Diemer/Schoreit/Sonnen, JGG, 5. Aufl. 2008, § 45
Rn. 9, § 47 Rn. 4 f.; beachte in diesem Zusammenhang BayObLG, NStZ 1991, 584: „ … die
Verfahrensvorschriften der §§ 45 und 47 JGG, …, stellen keine ergänzende abschließende
Regelung über die Rechtsfolgen dar. Denn sie schließen die Anwendung derjenigen Bestimmungen des allgemeinen Verfahrensrechts, die die für den Jugendlichen oder Heranwachsenden günstigere Regelung enthalten, wegen des Verbots der Schlechterstellung von Jugendlichen und Heranwachsenden gegenüber Erwachsenen in der Regel nicht aus.“
865 Siehe zu den Reformbestrebungen, das Fahrverbot als eigenständiges Zuchtmittel im Jugendstrafrecht ohne Beschränkung auf Straftaten mit Verkehrsbezug einzuführen und gesetzlich in
einem neu zu schaffenden § 15a JGG zu verankern, erst jüngst BT-Drucks. 16/8695; siehe
auch BT-Drucks. 16/1027, S. 5; beachte in diesem Zusammenhang H.-J. Albrecht, Verhandlungen des 64. Deutschen Juristentages, Bd. I, 2002, Gutachten D, D 142 - D 143, D 170;
Streng, Verhandlungen des 64. Deutschen Juristentages, Bd. II/2, 2002, Referat, N 95, N 107;
Beschlüsse des 64. Deutschen Juristentages, Bd. II/1, 2002, N 113 – N 114; Eisenberg, JGG,
13. Aufl. 2009, § 15a Rn. 1 ff.; Böhm/Feuerhelm, Einführung in das Jugendstrafrecht, 4.
Aufl. 2004, S. 166; Laubenthal, JZ 2002, 807 (816 f.); Sonnen, DVJJ 2000, 329 (331), 338
(340).
866 Dazu näher Laubenthal/Baier, Jugendstrafrecht, 2006, Rn. 432.
867 Generelle Bedenken gegen die Vereinbarkeit von Maßregeln des allgemeinen Strafrechts mit
dem Erziehungsgedanken des Jugendstrafrechts bei Eisenberg, JGG, 13. Aufl. 2009, § 7 Rn.
3 ff.; siehe auch P.-A. Albrecht, Einführung in das Jugendstrafrecht, 3. Aufl. 2000, S. 147:
„Die Maßregel der Entziehung der Fahrerlaubnis wird von der herrschenden Meinung primär
als Sicherungsmaßregel angesehen … und kann schon deshalb jugendstrafrechtlichen Prinzipien nur schwer gerecht werden.“ – Hervorhebung von dort.
868 Gegen einen Ermessensspielraum BGHSt 37, 373 (374); Ostendorf, JGG, 7. Aufl. 2007, § 7
Rn. 15; Brunner/Dölling, JGG, 11. Aufl. 2002, § 7 Rn. 1; Diemer in Diemer/Schoreit/Sonnen,
JGG, 5. Aufl. 2008, § 7 Rn. 2, bejahend hingegen LG Oldenburg, BA 1985, 186; 1988, 199;
AG Saalfeld, BA 1994, 270.
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2 StGB869. Auch wird teilweise im Jugendstrafrecht eine Zurückhaltung bei der Bemessung der
Sperrfrist nach § 69a Abs. 1 StGB für die Neuerteilung der Fahrerlaubnis befürwortet870.
Gleichwohl soll das JGG dem Rechtsanwender verschiedene Wege eröffnen, ein
Fahrverbot gegen jugendliche Straftäter zu verhängen: So wird es teilweise als zulässig angesehen, dem Jugendlichen die Weisung (§ 10 Abs. 1 JGG) aufzuerlegen,
seinen Führerschein für eine bestimmte Zeit zu den Akten zu geben bzw. das eigene
Fahrzeug (Mofa, Pkw) über einen gewissen Zeitraum nicht zu benutzen871. Davon
unabhängig könne das Fahrverbot auch als Nebenstrafe i.S.d. § 44 StGB i.V.m. § 8
Abs. 3 JGG im Jugendstrafrecht angeordnet werden872. Ob dem im Ergebnis zuzustimmen ist, wird sich im Weiteren zeigen …
869 Befürwortend LG Oldenburg, BA 1985, 186; 1988, 199; AG Saalfeld, BA 1994, 270; AG
Winsen/Luhe, NJW 1983, 353; Eisenberg, JGG, 13. Aufl. 2009, § 7 Rn. 42; wohl auch OLG
Zweibrücken, StV 1989, 314; ablehnend Ostendorf, JGG, 7. Aufl. 2007, § 7 Rn. 15; Brunner/Dölling, JGG, 11. Aufl. 2002, § 7 Rn. 13; Laubenthal/Baier, Jugendstrafrecht, 2006, Rn.
432; Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht, 14. Aufl. 2002, S. 91; Streng, Jugendstrafrecht, 2.
Aufl. 2008, § 8 Rn. 254; Wölfl, NZV 1999, 69 (70 f.) mit der Einschränkung: „Allerdings
sind die Sprunghaftigkeit der Entwicklung junger Menschen und die teilweise Episodenhaftigkeit ihrer Taten zu berücksichtigen, was dazu führt, daß die Möglichkeiten, von den Regelvermutungen abzuweichen im Vergleich zum Erwachsenenstrafrecht erheblich größer sein
dürften. Eine schematische Handhabung wie gegenüber erwachsenen Täters ist in jedem Fall
zu vermeiden.“
870 Vgl. Ostendorf, JGG, 7. Aufl. 2007, § 7 Rn. 15: „Allerdings sollte gerade im Jugendstrafrecht
die Sperrfrist nicht zu lang bemessen werden; ansonsten ergeben sich erhebliche Gefahren
von Folgekriminalität (Fahren ohne Fahrerlaubnis; Unfallflucht), da der jugendliche Fahrreiz
durch das Verbotensein noch verstärkt wird … .“; in diesem Sinne auch AG Saalfeld, VRS
107, 181; Eisenberg, JGG, 13. Aufl. 2009, § 7 Rn. 45; Böhm/Feuerhelm, Einführung in das
Jugendstrafrecht, 4. Aufl. 2004, S. 167 f.; dagegen wohl Brunner/Dölling, JGG, 11. Aufl.
2002, § 7 Rn. 13: „Bei der Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69 StGB) ist keinesfalls milder
als gegen Erw. zu verfahren, da das Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit hier im Vordergrund steht.“ – Hervorhebung von dort.
871 Vgl. Eisenberg, JGG, 13. Aufl. 2009, § 10 Rn. 32, Schöch in Meier/Rössner/Schöch, Jugendstrafrecht, 2. Aufl. 2007, § 9 Rn. 24 sowie Brunner/Dölling, JGG, 11. Aufl. 2002, § 10
Rn. 14; in diesem Sinne wohl auch OLG Oldenburg, NdsRpfl 1969, 235; siehe auch den
Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung der Jugenddelinquenz, BT-
Drucks. 15/1472 vom 06.08.2003, S. 10: „Die Verhängung eines Fahrverbots ist nach geltendem Recht auf Grund des offenen Weisungskatalogs des § 10 JGG als Erziehungsmaßregel
… zulässig.“; in diesem Sinne auch Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Sanktionenrechts,
BT-Drucks. 14/9358 vom 11.06.2002, S. 20 und BT-Drucks. 15/2725 vom 17.03.2004, S. 32.
872 Vgl. BT-Drucks. IV/651, S. 13; Stree in Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl. 2006, § 44 Rn. 9;
Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, § 44 Rn. 5; Geppert in LK-StGB, Bd. 2, 12. Aufl. 2006,
§ 44 Rn. 12; Fischer, StGB, 56. Aufl. 2009, § 44 Rn. 13; Herzog in NK-StGB, Bd. 1, 2. Aufl.
2005, § 44 Rn. 22; Eisenberg, JGG, 13. Aufl. 2009, § 6 Rn. 5; Ostendorf, JGG, 7. Aufl. 2007,
§ 6 Rn. 2; Brunner/Dölling, JGG, 11. Aufl. 2002, § 6 Rn. 6; Diemer in Diemer/Schoreit/Sonnen, JGG, 5. Aufl. 2008, § 8 Rn. 10; Hentschel, Trunkenheit – Fahrerlaubnisentziehung – Fahrverbot, 10. Aufl. 2006, Rn. 911; Janiszewski, Verkehrsstrafrecht,
5. Aufl. 2004, Rn. 666; Laubenthal/Baier, Jugendstrafrecht, 2006, Rn. 423; Böhm/Feuerhelm,
Einführung in das Jugendstrafrecht, 4. Aufl. 2004, S. 165 f.; Hartung, NJW 1965, 86 (88).
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II. Verhängung des Fahrverbotes in Form einer Weisung gemäß § 10 Abs. 1 JGG
Das Fahrverbot in Form der Weisung wird von seinen Befürwortern als zulässig angesehen, wenn es vorwiegend erzieherisch auf die Lebensführung des Täters einwirken soll873. Hintergrund bildet hier § 10 Abs. 1 JGG, wonach Weisungen nur Geund Verbote enthalten dürfen, welche die Lebensführung des Jugendlichen regeln
und dadurch seine Erziehung fördern und sichern874.
Gegen das Fahrverbot als Weisung wird eingewandt, es unterlaufe die in § 44 Abs. 1
Satz 1 StGB speziell geregelten Voraussetzungen für die Anordnung eines Fahrverbotes875.
Und in der Tat beinhaltet § 10 Abs. 1 JGG keinerlei Beschränkungen der Weisung
in zeitlicher Hinsicht, noch muss die Anlasstat wie im allgemeinen Strafrecht einen
Verkehrsbezug aufweisen. Auf Fragen wie Zeitpunkt der Wirksamkeit des Fahrverbotes (Rechtskraft der Entscheidung oder Abgabe des Führerscheins zu den Akten?)
und Berechnung der Verbotsfrist findet sich ebenfalls keine Antwort.876
873 So Eisenberg, JGG, 13. Aufl. 2009, § 10 Rn. 32, Schöch in Meier/Rössner/Schöch, Jugendstrafrecht, 2. Aufl. 2007, § 9 Rn. 24 sowie Brunner/Dölling, JGG, 11. Aufl. 2002, § 10 Rn.
14; wohl auch OLG Oldenburg, NdsRpfl 1969, 235.
874 Vgl. BVerfGE 74, 102 (123), wonach die jugendrichterliche Weisung dazu dient, „in abgewogener, angemessener Weise in die Lebensführung des Betroffenen einzugreifen, zur Förderung und Sicherung seiner Erziehung beizutragen und ihn so künftig vor der Begehung von
Straftaten und den hierfür drohenden, gegebenenfalls einschneidenderen Sanktionen zu bewahren.“; siehe hierzu auch Diemer in Diemer/Schoreit/Sonnen, JGG, 5. Aufl. 2008, § 10
Rn. 5 ff.; Streng, Jugendstrafrecht, 2. Aufl. 2008, § 10 Rn. 344 ff.; Laubenthal/Baier, Jugendstrafrecht, 2006, Rn. 527 f.
875 Vgl. Ostendorf, JGG, 7. Aufl. 2007, § 7 Rn. 16; Diemer in Diemer/Schoreit/Sonnen, JGG,
5. Aufl. 2008, § 10 Rn. 19; Laubenthal/Baier, Jugendstrafrecht, 2006, Rn. 564; P.-A. Albrecht, Jugendstrafrecht, 3. Aufl. 2000, S. 166 f.; Mrozynski, JR 1983, 397 (402): „Zwischen
dem Fahrverbot als Schuldausgleich (§ 44 StGB) und dem Fahrverbot zum Schutz der Allgemeinheit (§ 69 StGB) dürfte keine Raum mehr für ein Fahrverbot als Hilfe bestehen.“
876 In diesem Sinne bereits der Bundesrat in seiner Stellungnahme zum Gesetzesentwurf der
Bundesregierung zur Reform des Sanktionenrechts, BT-Drucks. 15/2725 vom 17.03.2004,
S. 44: „Wäre Rechtsgrundlage für ein Fahrverbot im Jugendstrafrecht … § 10 JGG, hätte dies
… die unter Erziehungsgesichtspunkten zumindest bedenkliche Folge, dass für diese Sanktion keine zeitlichen Grenzen festgelegt wären; der Wortlaut des § 10 JGG ließe im Einzelfall
auch eine über die Höchstdauer des Fahrverbots im allgemeinen Strafrecht hinausgehende
Weisung zu. Problematisch wäre ferner, dass die Regelungen zur Vollstreckung eines Fahrverbots in § 44 Abs. 2 und 3 StGB … jedenfalls unmittelbar nicht zur Anwendung kämen,
somit also z. B. hinsichtlich des Zeitpunkts des Wirksamwerdens des Fahrverbots, der Verfahrensweise bei ausländischen Führerscheinen und der Berechnung der Verbotsfrist nicht
hinnehmbare Regelungslücken bestünden. Unzureichend wäre zudem die Sanktionierung von
Verstößen gegen das Fahrverbot; denn § 21 StVG nimmt auf das Fahrverbot nach § 44 StGB
Bezug, nennt aber nicht eine entsprechende Weisung nach § 10 JGG.“ – gegen Letzteres ließe
sich allerdings die gemäß § 11 Abs. 3 JGG bestehende Möglichkeit der Verhängung von Jugendarrest i.S.d. § 16 JGG als sog. Ungehorsamsarrest einwenden, falls der Verurteilte der
angeordneten Weisung schuldhaft nicht nachkommt, siehe zu den Voraussetzungen im Einzelnen Laubenthal/Baier, Jugendstrafrecht, 2006, Rn. 538 ff.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die rechtsdogmatisch relevante Frage, inwieweit die Kriminalrechtsfolge Fahrverbot (§ 44 StGB) gleichzeitig als Rechtsfolge einer typischen Jugendverfehlung (§ 44 StGB i.V.m. § 8 Abs. 3 JGG) und einer Verkehrsordnungswidrigkeit (§ 25 StVG) fungieren kann.
Unter diesem Blickwinkel werden zunächst das Wesen und die Funktion des Fahrverbotes als sog. „Denkzettel“ herausgearbeitet. Anschließend wird das Fahrverbot in das jeweilige Sanktionssystem eingeordnet und die Voraussetzungen für seine Anordnung und Vollstreckung kritisch hinterfragt. Im Ergebnis ist festzustellen, dass das Fahrverbot im Strafrecht noch nicht den Platz einnimmt, der ihm ursprünglich vom Gesetzgeber zugedacht war. Dazu bedarf es in erster Linie einer zurückhaltenden Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 69 StGB. Im Jugendstrafrecht verstößt die Verhängung des Fahrverbotes nach derzeitiger Rechtslage gegen das Analogieverbot gemäß Art. 103 Abs. 2 GG. Neben der Verhängung einer Geldbuße für eine begangene Verkehrsordnungswidrigkeit vermag das Fahrverbot als sog. „Denkzettel“ nicht zu fungieren, es entfaltet für den Betroffenen vielmehr Strafwirkung.