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F. Vereinbarkeit der steuerlichen Anerkennung von Rückstellungen für die Stilllegungs- und Entsorgungskosten mit dem Europäischen Recht
Seit der Einleitung der Liberalisierung der Energiemärkte durch die Binnenmarktrichtlinien 96/92/EG491 und 98/30/EG492 stehen die Energieversorgungsunternehmen
in Europa im Wettbewerb zueinander. Deutschland hat aufgrund dieser beiden
Richtlinien 1998 begonnen seinen Strom- und Gasmarkt zu liberalisieren. Diese
Entwicklung wurde durch die im Jahr 2003 verabschiedeten Richtlinien
2003/54/EG493 und 2003/55/EG494 fortgesetzt, die vom deutschen Gesetzgeber im
Jahr 2005 durch eine umfassende Novellierung des deutschen Energiewirtschaftsgesetzes umgesetzt wurden.495 Hierdurch hat sich der Ordnungsrahmen der leitungsgebundenen Energiewirtschaft grundlegend geändert. Gerade zu Beginn der Liberalisierung traten neue Wettbewerber auf den Strommarkt und infolge des zunehmenden Wettbewerbs kam es zu stark sinkenden Strompreisen.496 Die großen Energieversorgungsunternehmen mit Beteiligungen an Kernkraftwerken reagierten auf die
neue Marktlage mit Zusammenschlüssen und Beteiligungskäufen. Hierdurch konnten sie ihre Marktmacht erheblich ausbauen und so ihre Wettbewerbsposition
verbessern. Die Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen boten ihnen dabei die
Möglichkeit, einen Teil dieser Transaktionen kostengünstig zu finanzieren.497
Dies hat dazu geführt, dass gerade von kleineren Energieversorgungsunternehmen
ohne Beteiligungen an Kernkraftwerken der Vorwurf erhoben wurde, die steuerliche
Anerkennung von Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen erfüllten den Tatbe-
491 Richtlinie 96/92/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 19.12.1996 betreffend
gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, 30.01.1997, Nr. L 27/20.
492 Richtlinie 98/30/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 22.07.1998 betreffend
gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, 21.07.1998, Nr. L 204/1).
493 Richtlinie 2003/54/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2003 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie
96/92/EG (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, 15.07.2004, Nr. L 176/37).
494 Richtlinie 2003/55/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2003 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie
98/30/EG (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, 15.07.2003, Nr. L 176/57).
495 Vgl. Schalast, ZNER 2004. S. 133 (136 f.).
496 von Petersdorff, Strompreise an der Grenze zum Dumping, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, vom 5.12.1999, Nr. 48, S. 33.
497 Die Deregulierungskommission kritisierte bereits 1991, dass die rückstellungsberechtigten
Energieversorgungsunternehmen die hohen Entsorgungsrückstellungen dazu verwenden,
massive Unternehmenskäufe vorzunehmen. Vgl. Deregulierungskommission, Marktöffnung
und Wettbewerb, S. 74. Diese Entwicklung verstärkte sich nach der Liberalisierung der Energiemärkte. Siehe hierzu Hermes, ZNER 1999, S. 156 (167 f.); Fouquet/Uexküll, ZNER 2003,
S. 310 (315 ff.).
117
stand einer wettbewerbsverzerrenden Subvention, die gegen das EG-Beihilfenrecht
verstoße.498
Der Gesetzgeber hat durch das „Steuerentlastungsgesetz“ auf diesen Vorwurf
teilweise reagiert, indem er Rückstellungen für Aufwendungen, die bei der Aufarbeitung bestrahlter Brennelemente anfallen, untersagte, den Ansammlungszeitraum für zeitlich unbestimmte Stilllegungsverpflichtungen bei Kernkraftwerken
von 19 Jahren auf 25 Jahre verlängerte und eine Abzinsungspflicht für Rückstellungen einführte.499
Dies hat jedoch zehn kommunale Energieversorger nicht davon abgehalten, im
Jahr 1999 bei der Europäischen Kommission die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen die Bundesrepublik Deutschland zu beantragen.500 Der
Vorwurf lautete, die steuerliche Zulassung der Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen verstoße gegen das Beihilfenverbot des Art. 87 Abs. 1 EG. Es handele sich um eine aus staatlichen Mitteln gewährte Begünstigung der Kernkraftwerkbetreiber, die den Wettbewerb verfälsche und den Handel zwischen den Mitgliedsstaaten beeinträchtige.
Die Europäische Kommission lehnte in ihrer Entscheidung vom 11. Dezember
2001501 den Antrag auf Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen die
Bundesrepublik Deutschland ab. Nach ihrer Auffassung beruhen die Rückstellungen
nicht auf einem begünstigenden Sonderrecht, sondern sind Ausfluss der allgemeinen
Regelungen des deutschen Steuerrechts und demnach liege keine Beihilfe im Sinne
von Art. 87 EG vor.
Gegen die ablehnende Entscheidung der Kommission haben vier Stadtwerke gemäß Art. 230 f. EG Nichtigkeitsklage erhoben.502 Das Europäische Gericht erster
Instanz entschied mit dem Urteil vom 26. Januar 2006503 die Klage abzuweisen.
Daraufhin haben die Stadtwerke beim EuGH Revision eingelegt. Eine Entscheidung
des EuGHs steht in dieser Sache noch aus. In der Literatur hat die Position der
Stadtwerke erhebliche Unterstützung erfahren.504
498 Siehe Kessler, IStR 2006, S. 98; Fouquet/Uexküll, ZNER 2003, S. 310 (313).
499 Auch wenn die Hauptintension des Gesetzgebers eher in der Gegenfinanzierung der damaligen Steuerreform durch die Verlängerung des Ansammlungszeitraums und die Einführung
einer generellen Abzinspflicht gelegen haben mag.
500 Antrag vom 19.11.1999 auf Einleitung eines Verfahrens der Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland nach Art. 87 ff EGV, Antragsteller: Stadtwerke Cottbus GmbH, Kraftwerk Dessau GmbH, Neubrandenburger Stadtwerke GmbH, Stadtwerke Schwäbisch Hall
GmbH, Elektrizitätswerke Schönau GmbH, Stadtwerke Speyer GmbH, Stadtwerke Tübingen
GmbH, Stadtwerke Uelzen GmbH, Heizkraftwerk Würzburg GmbH, Stadtwerke Wuppertal
AG, vertreten durch Becker, Peter von Becker/Büttner/Held.
501 Entscheidung der Europäische Kommission, v. 11.12.2001, C (2001) 3967fin., Staatliche
Beihilfen Nr. NN. 137/01 – Deutschland.
502 Klageschrift vom 28.03.2002 der Stadtwerke Schwäbisch Hall GmbH, Stadtwerke Thüringen
GmbH, Stadtwerke Uelzen GmbH, Wuppertaler Stadtwerke AG, vertreten durch Kuhbier
Rechtsanwälte, Fouquet, Dörte
503 EuG, Urt. vom 26.01.2006 - T- 92/02, RdE 2006, S. 192 ff.
504 Siehe unter anderem Hermes, ZNER 1999, S. 156 ff.; Fouquet/Uexküll, ZNER 2003,
S. 310 ff.; Reich/Helios, IStR 2005, S. 44 ff.
118
Die Kritik an der Anerkennung der Rückstellungspraxis stützt sich dabei auf zwei
Aspekte von beihilferechtlicher Relevanz, die im Folgenden näher untersucht werden: Zum einen stundet der Staat den kernkraftwerkbetreibenden Unternehmen bis
zur Auflösung der Rückstellungen einen Teil der Ertragssteuer und zum anderen
können die Unternehmen gleichzeitig über diese Mittel frei verfügen und Gewinne
erwirtschaften.505
I. Anwendbarkeit des EG-Beihilfenrechts
Eine Überprüfung der Rückstellungspraxis der Kernkraftwerkbetreiber am Maßstab
der Art. 87 ff. EG setzt zunächst die Klärung der Frage voraus, ob die Beihilfevorschriften des EG-Vertrages auf dem Gebiet der Kernenergie Anwendung finden
oder ob der Vertrag zur Bildung einer Europäischen Atomgemeinschaft506 („EAG-
Vertrag“) die Anwendung der Art. 87–89 EG ausschließt.507 Dafür muss zunächst
das grundsätzliche Verhältnis der beiden Verträge zueinander erörtert werden.
1. Verhältnis des EG-Vertrages zum EAG-Vertrag
Der EG-Vertrag und der EAG-Vertrag sind zwei eigenständig nebeneinander stehende Verträge.508 Beide Verträge wurden gleichzeitig ausgehandelt und am gleichen Tag unterzeichnet.509 Durch sie wurden zwei selbstständige Gemeinschaften
mit ursprünglich auch institutionell selbstständigen Organen gegründet.510 Erst seit
dem Inkrafttreten des Fusionsvertrages511 wurden die aus den beiden Verträgen resultierenden Befugnisse von einheitlichen Organen wahrgenommen.512 Das änderte
jedoch nichts an der Tatsache, dass in den beiden Bereichen unterschiedliche Verträge eingreifen. Je nachdem, ob sich das Handeln der Organe auf Kernenergie oder
andere Wirtschaftsbereiche bezieht, ist entweder der EAG-Vertrag oder der EG-
Vertrag als Rechtsgrundlage heranzuziehen. Die Fusionsverträge regelten nur die
Zusammensetzung der Organe; hinsichtlich der Kompetenzen, der Verfahren und
505 Kühling, RdE 2001, S. 93 (99).
506 Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft vom 25. März 1957
(BGBl. 1957 II S. 1014) in der Fassung des Europäischen Unionsvertrages vom 7. Februar
1992, BGBl. 1992 II S. 1253 (1286); zuletzt geändert durch die Akte zum Beitrittsvertrag
vom 16. April 2003 (BGBl. 2003 II S. 1410).
507 Literatur hierzu: Reich/Helios, IStR 2005, S. 44 (46); Fouquet/Uexküll, ZNER 2003, S. 310
(313 f.); Hermes, ZNER 1999, S. 156 (161).
508 Zusammen mit dem EKGS-Vertrag bildeten die drei Verträge die Grundlage der Europäischen Gemeinschaften.
509 Streinz, Europarecht, 20 ff.; Schweitzer, Europarecht, Rdnr. 89 ff.
510 Schroeder, JA 1995, S. 728; Oppermann, Europarecht, § 4, Rdnr. 3.
511 BGBl 1965 II, S. 1154.
512 Vgl. Oppermann, Europarecht, § 4, Rdnr. 3; Schroeder, JA 1995, S. 728.
119
der Befugnisse muss je nach Tätigkeitsbereich der EG-Vertrag oder der EAG-
Vertrag herangezogen werden.513
Das materielle Verhältnis der drei Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften zueinander regelt Art. 305 EG. Nach dessen Absatz 1 „ändert“ der EG-
Vertrag die Vorschriften des EGKS-Vertrages514 nicht und nach Absatz 2 „beeinträchtigt“ der EG-Vertrag nicht die Vorschriften des EAG-Vertrages. Dem lässt
sich entnehmen, dass der EAG-Vertrag für das Gebiet der Kernenergie eine dem
EG-Vertrag vorgehende Spezialregelung ist.515 Der Grundsatz der Spezialität stellt
allerdings noch keinen klaren Maßstab bereit, anhand dessen sich im Einzelfall genau bestimmen ließe, ob und in welchem Umfang der EG-Vertrag subsidiär Anwendung findet. Entscheidend ist dafür, welchen Regelungsanspruch man dem EAG-
Vertrag zuschreibt und wie das Fehlen einzelner Regelungen und Regelungskomplexe in diesem Vertrag zu verstehen ist.
a) Meinungsstand in der Literatur
In der Literatur finden sich unterschiedliche Auffassungen über die ergänzende Anwendung des EG-Vertrages im Anwendungsbereich des EAG-Vertrages.
Zum Teil wird der EAG-Vertrag als abschließende Sonderregelung für das gesamte Gebiet der Kernenergie verstanden.516 Begründet wird dies damit, dass mit
dem EAG-Vertrag ein selbstständiger und abschließender Verantwortungsbereich
bezüglich der Kernenergie und der damit zusammenhängenden Fragen geschaffen
wurde. Auch wenn einige Aspekte aus der Sicht des EG-Vertrages im EAG-Vertrag
unvollkommen und ausfüllungsbedürftig erscheinen, dürfen sie nach dieser Auffassung nicht aus dem Verantwortungszusammenhang der Atomgemeinschaft herausgelöst und über den EG-Vertrag gelöst werden. Denn der EAG-Vertrag enthalte
für solche Lücken eine eigenständige Vertragsergänzungsmöglichkeit in Art. 203
EAG, so dass ein Rückgriff auf die EG-Vorschriften nicht notwendig sei.517
513 Siehe ausführlich Bleckmann, Europarecht, Rdnr. 170.
514 Vertrag zur Gründung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vom 18. April
1951 (BGBl 1952 II S. 448). Der EGKS-Vertrag trat am 23. Juli 1952 in Kraft und war auf 50
Jahre befristet. Seit dem 23.07.2002 unterliegt auch der Bereich der Kohle und Stahl dem
EG-Binnenmarktregime.
515 Vgl. Folz, in: Grabitz/Hilf, Art. 305, Rdnr. 4; Art. 305, Rdnr. 5; Geiger, EUV/EGV, Art. 305,
Rdnr. 4; Schweitzer/Hummer, Europarecht, Rdnr. 95; Lukes, ET 1990, S. 587 (590); Schattke, in: Pelzer (Hrsg.), Kernenergierecht und Binnenmarkt, S. 182 (185); Schröder, in: Pelzer
(Hrsg.), Kernenergie und Binnenmarkt, S. 133.
516 So Lukes, in: Due/Lutter/Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Everling, S. 741 ff.; Schröder,
Diskussionsbericht, in: Pelzer (Hrsg.), Kernenergierecht und Binnenmarkt, S. 217.
517 Vgl. Schröder, Diskussionsbericht, in: Pelzer (Hrsg.) Kernenergierecht und Binnenmarkt, S.
217; Lukes, in: Due/Lutter/Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Everling, S. 741 ff
120
Demgegenüber will ein Großteil der Literatur in begrenzten Einzelfällen eine
subsidiäre Anwendung der EG-Vorschriften im Bereich der Kernenergie zulassen.518
Diese Ansicht stellt in den Vordergrund, dass beide Gemeinschaften an einheitlichen
Zielen ausgerichtet seien, der EAG-Vertrag eine mit dem EG-Vertrag übereinstimmende Struktur habe und dass vor allem der Gemeinsame Markt nach dem
Sinn der Verträge grundsätzlich die Gesamtheit der Wirtschaft umfassen müsse.519
Enthalte der EAG-Vertrag eine Lücke, könne diese durch die Anwendung des EG-
Vertrages geschlossen werden, wenn die EG-Vorschriften die Ziele des EAG-
Vertrages nicht beeinträchtige.
b) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
Der EuGH hat zwar zu einzelnen Aspekten des Verhältnisses des EAG-Vertrages
zum EG-Vertrag Stellung genommen, eine präzise Klärung dieser Frage ist seiner
Rechtsprechung bislang jedoch nicht zu entnehmen.520
Erstmals lassen sich einer Entscheidung des EuGH aus dem Jahr 1978521 Aussagen über das Verhältnis des EAG- zum EG-Vertrag entnehmen. Danach stellen die
Vorschriften über den Gemeinsamen Markt auf dem Gebiet der Kernenergie nach
Art. 92 ff. EA „bloße Ausformung der Rechtsvorstellungen, von denen das Gefüge
des allgemeinen Gemeinsamen Marktes getragen wird, auf einem hoch spezialisierten Gebiet dar; (…). Wie der EWG-Vertrag so ist auch der EAG-Vertrag darauf gerichtet, in seinem materiellen Anwendungsbereich einen einheitlichen Wirtschaftsraum zu schaffen; die Kommission und die Agentur haben im inneren dieses
von Hindernissen befreiten Raums ihre ausschließlichen Befugnisse im Rahmen der
Gemeinschaft auszuüben“522. Damit stellt diese Entscheidung lediglich klar, dass
beide Verträge die gleiche Zielrichtung besitzen und schließt daraus, dass auch einheitliche Auslegungsgrundsätze heranzuziehen sind.523 Weitere Aussagen darüber
hinaus, insbesondere inwieweit einzelne EG-Vorschriften auch auf dem Gebiet des
EAG-Vertrages anzuwenden sind, lassen sich der Entscheidung nicht entnehmen.
Auch in zwei weiteren Entscheidungen des EuGH, die sich mit der Beurteilung
der richtigen Rechtsgrundlage für zwei Rechtsakte befassen, spielte das Verhältnis
des EAG- zum EG-Vertrag eine Rolle. Im ersten Fall wollte Griechenland eine Verordnung, welche die Zulassung von landwirtschaftlichen Erzeugnissen aus Drittlän-
518 So u. a. Petersmann/Spennemann, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 305, Rdnr. 14; Geiger,
EUV/EGV, Art. 305, Rdnr. 4; Wahl/Hermes, Kernenergiepolitik und Gemeinschaftsrecht, S.
95; Schattke, in: Pelzer (Hrsg.), Kernenergierecht und Binnenmarkt, S. 182 (185); Pechstein,
EuZW 2001, S. 307 ff.; Lukes, ET 1990, S. 587 (590).
519 Oppermann, Europarecht, § 4, Rdnr. 68; Pechstein, EuZW 2001, S. 307 (309).
520 Wahl/Hermes, Kernenergiepolitik und Gemeinschaftsrecht, S. 91; Pechstein, EuZW 2001,
S. 307 (309).
521 EuGH v. 14.11.1978, Beschluss 1/78 nach Art. 103 Abs. 3 EAGV, Slg. 1978 I, S. 2151 ff.
522 EuGH v. 14.11.1978, Beschluss 1/78 nach Art. 103 Abs. 3 EAGV, Slg. 1978 I, S. 2151
(2172f).
523 Wahl/Hermes, Kernenergiepolitik und Gemeinschaftsrecht, S. 93f.
121
dern zum freien Verkehr von der Einhaltung bestimmter Höchstwerte für die radioaktive Kontamination abhängig machte, vom EuGH für nichtig erklären lassen, da
sie sich auf Art. 113 EG und nicht auf Art. 31 EA stützte.524 Griechenland argumentierte, dass Art. 31 EA eine Spezialnorm für den Gesundheitsschutz gegen die Gefahren der ionisierenden Strahlung sei und deswegen Art. 113 EG als allgemeinere
Bestimmung verdränge.525
Der EuGH hat demgegenüber Ziel und Inhalt der Verordnung darin gesehen, einheitliche Regelungen für die Einfuhr möglicherweise kontaminierter Erzeugnisse zu
schaffen. Damit habe die Verordnung den Handel zwischen der Gemeinschaft und
Drittländern zum Gegenstand. Deswegen sei Art. 113 EG, der die gemeinsame Handelspolitik regelt, die richtige Rechtsgrundlage.526 Der Entscheidung lässt sich entnehmen, dass nicht jeder Bezug zur Kernenergie und ihren Gefahren zwangsläufig
den Spezialitätsvorrang des EAG-Vertrages auslöst.527 Zwar bezeichnet der EuGH
in seinem Urteil die Art. 30 ff. EA als „Sonderregeln“ für den Gesundheitsschutz
vor ionisierender Strahlung.528 Weitere klärende Aussagen zum Verhältnis der beiden Verträge sind der Entscheidung allerdings nicht zu entnehmen, da die umstrittene Verordnung nach Auffassung des EuGH nicht in den Anwendungsbereich des
EAG-Vertrages fiel. Deswegen musste der EuGH nicht näher auf die Frage des Verhältnisses des EAG-Vertrages zum EG-Vertrag eingehen.
Im zweiten Fall klagte das Europäische Parlament gegen eine Verordnung zur
Festlegung von Höchstwerten für Radioaktivität in Nahrungsmitteln und Futtermitteln im Falle eines nuklearen Unfalls oder einer anderen radiologischen Notstandssituation.529 Der Rat hatte die Verordnung allein auf Art. 31 EA gestützt. Das
Europäische Parlament war dagegen der Ansicht, die Verordnung hätte vor allem
mit Blick auf seine Mitwirkungsbefugnisse auch auf Art. 100a EG gestützt werden
müssen. Dies begründete das Europäische Parlament damit, dass die Art. 30 ff. EA
eng auszulegen und daher nur auf „primäre“ Strahlenquellen (z. B. kerntechnische
Anlagen) anwendbar seien.530
Der EuGH schloss sich dieser Ansicht jedoch nicht an. Das Gericht verwies in
seiner Entscheidung vom 4. Oktober 1991 darauf, dass „eine restriktive Auslegung
keine Stütze in den Rechtsvorschriften findet (…). Vielmehr ist festzustellen, daß die
angeführten Artikel darauf abzielen, einen lückenlosen und wirksamen Gesundheitsschutz der Bevölkerung gegen die Gefahren durch ionisierende Strahlung sicherzustellen, ungeachtet der Strahlenquelle und unabhängig davon, welche Personengruppen diesen Strahlungen ausgesetzt sind“531. Der EuGH prüft allerdings trotz-
524 EuGH v. 20.03.1990, Rs. C-62/88, Griechenland/Rat, Slg. 1990 I, S. 1527 ff.
525 EuGH v. 20.03.1990, Rs. C-62/88, Griechenland/Rat, Slg. 1990 I, S. 1527 (1531 f.).
526 EuGH v. 20.03.1990, Rs. C-62/88, Griechenland/Rat, Slg. 1990 I, S. 1527 (1548 ff.).
527 Wahl/Hermes, Kernenergiepolitik und Gemeinschaftsrecht, S. 93 f.
528 EuGH v. 20.03.1990, Rs. C-62/88, Griechenland/Rat, Slg. 1990 I, S. 1527 ff. (1550).
529 EuGH v. 4.10.1991, Rs. C-70/88, Parlament/Rat, Slg. 1991 I, S. 4529 (4561) = EuZW 1991,
S. 701.
530 EuGH v. 4.10.1991, Rs. C-70/88, Parlament/Rat, Slg. 1991 I, S. 4529 (4562).
531 EuGH v. 4.10.1991, Rs. C-70/88, Parlament/Rat, Slg. 1991 I, S. 4529 (4561) = EuZW 1991,
S. 701.
122
dem, ob die Verordnung daneben nicht auch auf Art. 100a EG-Vertrag gestützt werden muss. Demgegenüber hatte der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen eine
solche Prüfung wegen der Spezialität des EAG-Vertrages noch für überflüssig
gehalten.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch ein Urteil des EuGH aus dem Jahr
1987 zum Verhältnis des EGKS-Vertrages532 zum EG-Vertrag, da sich der Wortlaut
der Kollisionsregeln für die drei europäischen Verträge in Art. 305 EG kaum voneinander unterscheidet.533 In diesem Urteil hatte das Gericht die Frage zu beantworten, ob eine Verordnung über die Erstattung oder den Erlass von Eingangs- oder
Ausfuhrabgaben, die ausschließlich auf der Grundlage von Vorschriften des EG-
Vertrages erlassen worden war, auch auf Waren Anwendung finden kann, die unter
den EGKS-Vertrag fallen.534 Es bejahte diese Frage mit der Begründung, dass „der
EWG-Vertrag im Gegensatz zum EGKS-Vertrag nicht auf bestimmte Waren beschränkt ist“535 und dem Art. 305 Abs. 1 EG (Art. 232 Abs. 1 EG a. F.) die Aussage
zu entnehmen sei, dass der EG-Vertrag dann auf EGKS-Waren anwendbar ist, wenn
„die Fragen nicht Gegenstand von Bestimmungen des EGKS-Vertrages oder der auf
seiner Grundlage erlassenen Regelungen sind“536. Da weder primäres noch sekundäres EGKS-Recht die Frage der Erstattung oder des Erlasses von Eingangs- oder
Ausfuhrabgaben regelte, stand der Anwendung der Verordnung auf EGKS-Erzeugnisse nichts entgegen. Damit sprach sich der EuGH für eine subsidiäre Anwendung
des EG-Vertrags im Bereich des EGKS-Rechts aus. Diese Entscheidung lässt vermuten, dass der EuGH das Verhältnis des EAG-Vertrages zum EG-Vertrag aufgrund
der fast identischen Wortwahl in Art. 305 Abs. 1 und 2 EG ähnlich beurteilen würde.537
Somit deuten die bisherigen Entscheidungen zwar eher darauf hin, dass der EuGH
eine subsidiäre Anwendung der EG-Vorschriften im Bereich des EAG-Vertrages
532 Der Vertrag zur Gründung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl war auf 50
Jahre begrenzt und ist am 23.07.2002 ausgelaufen. Seit diesem Datum unterliegt auch der Bereich der Kohle und Stahl dem EG-Binnenmarktregime.
533 Der einzige Unterschied liegt darin, dass nach Art. 305 Abs. 1 EG der EG-Vertrag die Bestimmungen des Vertrages über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und
Stahl nicht „ändert“, während er nach Absatz 2 die Vorschriften des Vertrages zur Gründung
der Europäischen Atomgemeinschaft nicht „beeinträchtigt“. Diese unterschiedliche Wortwahl
beruht lediglich darauf, dass der EGKS-Vertrag dem EG-Vertrag voranging, während der
EAG-Vertrag zeitgleich mit dem EG-Vertrag in Kraft trat. Sie hat nach allgemeiner Ansicht
keine rechtliche Bedeutung. Siehe u. a. Everling, RIW 1993 Beilage 2 zu Heft 3/1993, S. 3;
Wahl/Hermes, Kernenergiepolitik und Gemeinschaftsrecht, S. 91.
534 EuGH v. 15.12.1987, Rs. 328/85, Deutsche Babcook/Hauptzollamt-Lübeck, Slg. 1987 I, S.
5119, (5136 ff.).
535 EuGH v. 15.12.1987, Rs. 328/85, Deutsche Babcook/Hauptzollamt-Lübeck, Slg. 1987 I, S.
5119, (5139).
536 EuGH v. 15.12.1987, Rs. 328/85, Deutsche Babcook/Hauptzollamt-Lübeck, Slg. 1987 I, S.
5119, (5139).
537 Siehe u. a. Everling, RIW 1993 Beilage 2 zu Heft 3/1993, S. 3; Wahl/Hermes, Kernenergiepolitik und Gemeinschaftsrecht, S. 91.
123
zuneigt; eine endgültige und grundsätzliche Klärung des Verhältnisses der beiden
Verträge zueinander steht aber bislang noch aus.
c) Stellungnahme
Ausgangspunkt für die Frage des Verhältnisses zwischen dem EG-Vertrag und dem
EAG-Vertrag ist Art. 305 Abs. 2 EG. Dem Wortlaut des Art. 305 Abs. 2 EG, wonach durch den EG-Vertrag „die Vorschriften“ des EAG-Vertrages nicht beeinträchtigt werden, lässt sich die Spezialität des EAG-Vertrages gegenüber dem EG-
Vertrag entnehmen.538 Der Wortlaut macht dabei zugleich deutlich, dass nicht generell der gesamte Bereich der Kernenergie aus dem Anwendungsbereich des EG-
Vertrages herausgenommen wird, sondern nur soweit, er „die Vorschriften“ des
EAG-Vertrages beeinträchtigt.539 Daraus folgt, dass immer dann, wenn der EAG-
Vertrag abschließende Regelungen auf einem Sachgebiet trifft, eine Anwendung der
EG-Vorschriften nicht zulässig ist. Inwieweit der EAG-Vertrag auf dem gesamten
Gebiet der Kernenergie noch Raum für die Anwendbarkeit der EG-Normen lässt,
hängt daher vom Regelungsumfang des EAG-Vertrages ab.
Dessen grundsätzliche Aufgabe ist es nach Art. 1 EA, „durch die Schaffung der
für die schnelle Bildung und Entwicklung von Kernindustrien erforderlichen Voraussetzungen zur Hebung der Lebenshaltung in den Mitgliedstaaten und zur Entwicklung der Beziehungen mit den anderen Ländern beizutragen“. Zur Erfüllung
dieser Ziele umfasst der EAG-Vertrag Regelungen über die Forschungs- und Investitionsförderung, den Bereich des Umwelt- und Gesundheitsschutzes, über den Gemeinsamen Markt und die Außenbeziehungen auf dem Gebiet der Kernenergie. In
diesen Bereichen enthält der EAG-Vertrag zwar teilweise sehr ausführliche Regelungen und weitreichende Befugnisse für die Organe, jedoch sind die Regelungen
insbesondere im Bereich der Investitionsförderung und auf dem Gebiet des Gemeinsamen Marktes lückenhaft und ergänzungsbedürftig.540 Außerdem sind andere Bereiche, wie zum Beispiel das Wettbewerbsrecht im EAG-Vertrag nicht behandelt.541
Insofern umfasst der Regelungsumfang des EAG-Vertrages nicht alle mit der Kernenergie zusammenhängenden Bereiche abschließend. Allerdings eröffnet Art. 203
EA dem Rat die Möglichkeit geeignete Vorschriften auch dann zu erlassen, wenn
der EAG-Vertrag die dafür erforderliche Befugnis nicht vorsieht, aber ein Tätigwerden zur Erreichung der Vertragsziele erforderlich ist.
Diese Vertragsergänzungsbefugnis wird von einem Teil der Literatur als Argument für den abschließenden Charakter des EAG-Vertrages herangezogen. Denn sie
538 In der Literatur weitgehend unumstritten. Siehe u. a. Pechstein, EuZW 2001, S. 307 (309);
Oppermann, Europarecht, § 4, Rdnr. 67; Geiger, Art. 305, Rdnr. 6; Grunwald, in: Pelzer
(Hrsg.) Kernenergierecht und Gemeinschaftsrecht, S. 149 ff.
539 So auch Fouquet/Uexküll, ZNER 2003, S. 310 (314).
540 Nähere Untersuchung dieser beiden Bereiche bei Everling, RIW 1993, Beilage 2 zu Heft 3,
S. 3 und bei Wahl/Hermes, Kernenergiepolitik und Gemeinschaftsrecht, S. 95 ff.
541 Vgl. Hermes, ZNER 1999, S. 156 (161); Reich/Helios, IStR 2005, S. 44 (46).
124
verdeutliche, dass der EAG-Vertrag einen einheitlichen Verantwortungsbereich für
das Gebiet der Kernenergie schaffen wolle.542 Eine subsidiäre Anwendung der EG-
Vorschriften bei Lücken im EAG-Vertrag würde den für die Schließung von Vertragslücken vorgesehenen Weg des Art. 203 EA aushöhlen. Dies führe zu einer Verletzung des in Art. 203 EA vorgesehenen Einstimmigkeitsgebots im Rat und sei
deswegen eine unzulässige Beeinträchtigung des EAG-Vertrages im Sinne des
Art. 305 Abs. 2 EG.543
Dieser Auffassung ist nicht zuzustimmen, denn zum einen ist die Ergänzungsklausel des Art. 203 EA ohnehin nicht dafür verwendbar, ganze Regelungskomplexe, wie etwa das Wettbewerbsrecht, in den EAG-Vertrag einzuführen. Art.
203 EA ist vielmehr auf punktuelle Ergänzungen angelegt.544 In erster Linie soll die
Vorschrift wie Art. 308 EG dem Zweck der „Vertragsabrundung“ dienen und punktuell Lücken schließen.545 Daneben ist zu berücksichtigen, dass Art. 203 EA selbst
eine Ausnahmevorschrift darstellt, die grundsätzlich restriktiv auszulegen ist. Sie
findet lediglich dann Anwendung, wenn im „Vertrag die erforderlichen Befugnisse
nicht vorgesehen“ sind. Eine subsidiäre Anwendung der EG-Vorschriften entzieht
dieser Bestimmung auch keineswegs jeden Anwendungsbereich, denn es kann im
EAG-Vertrag gerade aufgrund seiner Spezialität Ergänzungsbedürfnisse geben, für
die der EG-Vertrag gar keine heranziehbaren Regelungen enthält.546 Daher ist bei
Lücken im EAG-Vertrag grundsätzlich folgende Aufgabenteilung zwischen der subsidiären Anwendung des EG-Rechts und der subsidiären Anwendung des Art. 203
EAG vorzunehmen: Das EG-Recht ist subsidiär anwendbar, wenn der EAG-Vertrag
keine abschließende Regelung für allgemeine Fragen enthält; dagegen sind Regelungslücken zu nuklearspezifischen Fragen über den Weg der Vertragsergänzung
nach Art. 203 EA zu lösen.
Die subsidiäre Anwendung der EG-Vorschriften führt somit nicht zu einer Beeinträchtigung des Art. 203 EA. Daher kann aus der Existenz des Art. 203 EG nicht der
Schluss gezogen werden, dass der EAG-Vertrag einen „einheitlichen abgeschlossenen Verantwortungsbereich“ darstellt, vielmehr deuten die im EAG-Vertrag
nicht geregelten Sachbereiche und Regelungslücken darauf hin, dass der EAG-
Vertrag nicht den Anspruch erhebt, abschließend den gesamten Bereich der Kernenergie zu regeln.
Dies wird durch die Systematik der beiden Gemeinschaftsverträge bestätigt. Mit
dem EAG-Vertrag wurde eine Gemeinschaft mit teilweise detaillierten Regelungen
auf dem speziellen Gebiet der Kernenergie und weitreichenden Wirtschaftslenkungsbefugnissen der Gemeinschaftsorgane (z. B. in den Art. 40 ff. EAG) geschaf-
542 So Schröder, Diskussionsbericht, in: Pelzer (Hrsg.) Kernenergierecht und Gemeinschaftsrecht, S. 217; Lukes, in: Due/Lutter/Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Everling, S. 741 (746
f.).
543 Lukes, in: Due/Lutter/Schwarze (Hrsg.) Festschrift für Everling, S. 741 (746 f.).
544 Pechstein, EuZW 2001 S. 307 (309).
545 Da der Art. 203 EAG fast denselben Wortlaut und Funktion wie Art. 308 EG hat, wird auf die
Literatur zu Art. 308 EG verwiesen. Siehe hierzu u. a. Bitterlich, in: Lenz/Borchardt, EG/EU-
Vertrag, Art. 308, Rdnr. 3; Oppermann, Europarecht, § 6, Rdnr. 58.
546 So auch Pechstein, EuZW 2001 S. 307 (309).
125
fen.547 Der EG-Vertrag stellt demgegenüber weitgehend einen Rahmenvertrag („traite cadre“) mit allgemeinen Grundsatzbestimmungen, Verfahrensregeln und Rechtsetzungsermächtigungen für grundsätzlich alle Wirtschaftsbereiche einschließlich
der Kernenergie dar.548 Der unterschiedliche Charakter des EG-Vertrages als umfassender Rahmenvertrag gegenüber dem sektoriellen und speziellen Charakter des
EAG-Vertrags legt dabei nahe, eine ergänzende Anwendbarkeit des allgemeinen
EG-Vertrages bei Schweigen des EAG-Vertrages nicht grundsätzlich auszuschließen. Hierfür spricht auch, dass beide Gemeinschaften das gemeinsame Ziel
besitzen, die europäische Integration voranzutreiben und zusammen eine funktionelle Einheit des europäischen Integrationsprozesses bilden.549
Diejenigen, die den Euratom-Bereich als „einheitlichen und abschließenden Verantwortungsbereich“550 sehen, verkennen diese Verbundenheiten und die sich teilweise ergänzenden Funktionen der beiden Verträge. Eine subsidiäre Anwendung der
EG-Vorschriften kann den gemeinsamen Integrationsprozess mit dem Ziel der Realisierung eines umfassenden gemeinsamen Marktes dienen, indem sie dazu beiträgt,
dass beide Verträge sich einheitlich entwickeln und konsistent zueinander bleiben.
Die Gründungsväter haben deswegen auch nicht den gesamten Bereich der Kernenergie aus dem Anwendungsbereich des EG-Vertrages herausgenommen, sondern
mit Art. 305 Abs. 2 EG (Art. 232 Abs. 2 EWG a. F.) eine klassische Kollisionsregel
aufgenommen, der nicht nur zu entnehmen ist, dass der EAG-Vertrag vorrangig anwendbar ist, sondern auch, dass der EG-Vertrag als „lex generalis“ anzusehen ist.551
Auch aus Sinn und Zweck des Art. 305 Abs. 2 EG ergibt sich, dass der EG-
Vertrag auf dem Gebiet des EAG-Rechts subsidiär anwendbar ist. Der Sinn und
Zweck des Art. 305 Abs. 2 EG ist, die im EAG-Vertrag vorgesehenen Regelungen
und Instrumentarien, die das Ziel verfolgen, die Voraussetzungen für eine möglichst
schnelle Entwicklung einer Atomindustrie zu schaffen, uneingeschränkt zur Anwendung kommen zu lassen.552 Die Anwendung soll nicht durch allgemeine Rechtsvorschriften des EG-Vertrages beeinträchtigt werden. Soweit der EG-Vertrag allerdings
allgemeine Vorschriften enthält, die sich mit den allgemeinen und besonderen Zielsetzungen des EAG-Vertrages vereinbaren lassen, steht nach dem Sinn und Zweck
des Art. 305 Abs. 2 EG ihrer Anwendung auf dem Gebiet der Kernenergie nichts
entgegen.
Demnach ist der EAG-Vertrag gegenüber dem EG-Vertrag zwar das vorrangig
anzuwendende speziellere Recht. Da der EAG-Vertrag jedoch nicht alle mit der
Kernenergie zusammenhängende Bereiche abschließend regelt, bleibt für die subsidiäre Anwendung des EG-Vertrages Raum. Hierfür muss allerdings in jedem Einzel-
547 Siehe Schweitzer, Europarecht, Rdnr. 1758 ff.
548 Petersmann/Spennemann, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 305, Rdnr. 8.
549 Vgl. Oppermann, Europarecht, § 4, Rdnr. 67.
550 So Schröder, Diskussionsbericht, in: Pelzer (Hrsg.) Kernenergierecht und Gemeinschaftsrecht, S. 217; Lukes, in: Due/Lutter/Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Everling, S. 741 (746
f.).
551 Vgl. Oppermann, Europarecht, § 4, Rdnr. 67.
552 Lukes, in: Due/Lutter/Schwarze (Hrsg.) Festschrift für Everling, S. 741 (746 f.).
126
fall die Reichweite der rechtlichen Regelungen des EAG-Vertrages unter Berücksichtigung der Vertragsziele ermittelt werden, und erst wenn sich dann kein abschließender Charakter ergibt, sind die EG-Vorschriften anwendbar.553
2. Anwendbarkeit des EG-Beihilfenrechts im Kernenergiebereich
Das EG-Beihilfenrecht der Art. 87 ff. EG ist daher nur dann im Bereich des EAG-
Rechts anwendbar, wenn keine EAG-Vorschriften hierdurch beeinträchtigt werden
und die Anwendung des EG-Beihilfenrechts nicht den Zielen des EAG-Vertrages
zuwiderläuft.
a) Meinungsstand in Literatur und Rechtsprechung
Im Rahmen des Verfahrens gegen die Rückstellungen der deutschen Kernkraftwerkbetreiber ist es zur Frage der Anwendbarkeit des EG-Beihilfenrechts im Bereich der
Kernenergie auch innerhalb der Europäischen Kommission zu Meinungsverschiedenheiten gekommen.554
Der für Wettbewerb damals zuständige Kommissar Monti wollte die Rückstellungen im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit den Art. 87 ff. EG überprüfen. Die
für Energiefragen zuständige Kommissarin de Palacio dagegen lehnte eine Anwendung des EG-Beihilfenrechts auf dem Gebiet der Kernenergie strikt ab.555 Die
Kommission hat diesbezüglich bis heute keine einheitliche Auffassung entwickelt.
Auch in der Literatur gehen in dieser Frage die Meinungen weit auseinander.
Teilweise wird darauf hingewiesen, dass der EAG-Vertrag keine Regelungen über
das Beihilferecht enthalte und daher dem Schweigen des EAG-Vertrages entnommen werden könne, dass das EG-Beihilfenrecht anwendbar sei.556 Andere dagegen argumentieren, das EG-Beihilfenrecht sei mit dem Förderprinzip, welches dem
EAG-Vertrag zugrunde liegt, nicht vereinbar und dürfe deswegen im Bereich der
Kernenergie nicht Anwendung finden.557
In der Rechtsprechung hat sich bislang weder der EuGH noch das Europäische
Gericht erster Instanz mit dieser Frage näher auseinandergesetzt. Auch in der Entscheidung über die Vereinbarkeit der deutschen Stilllegungsrückstellungen mit dem
EG-Beihilfenrecht, ist das Europäische Gericht erster Instanz dieser Frage aus dem
Weg gegangen, indem es zunächst geprüft hat, ob überhaupt eine Beihilfe im Sinne
553 Wahl/Hermes, Kernenergiepolitik und Gemeinschaftsrecht, S. 94.
554 Financial Times Deutschland vom 13.11.2000, S. 14; Petersmann/Spennemann, in: von der
Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 305, Rdnr. 14; (314).
555 Vgl. Fouquet/Uexküll, ZNER 2003, S. 310.
556 Reich/Helios, IStR 2005, S. 44 (46); Hermes, ZNER 1999, S. 156 (161), so auch Generalanwalt Gerhard Reischl beim Urteil des EuGH vom 6.07.1982, EuGH v. 6.07.1982, Rs. 188 u.
190/80, Frankreich, Italien, Vereinigtes Königreich/Kommission, Slg. 1982,I-S. 2545 (2599).
557 Vgl. Cusack, CMLRev. 2003, S. 117 (130 ff.); Grunwald, Energierecht, S. 236.
127
des Art. 87 Abs. 1 EG vorlag. Da das Gericht diese Frage schon verneinte, brauchte
es auch keine Stellung mehr zur Anwendbarkeit der Art. 87 ff. EG auf dem Gebiet
des EAG-Vertrages nehmen.558 Demnach steht eine Klärung der Frage weiterhin
aus.
b) Stellungnahme
Ausgangspunkt für die Klärung dieser Frage ist der EAG-Vertrag als die speziellere
Regelungsmaterie.
Der EAG-Vertrag selbst enthält keine besonderen Wettbewerbs- und insbesondere keine spezifischen Beihilferegeln für das Gebiet der Kernenergie.559 Das
Schweigen des EAG-Vertrages bedeutet allerdings nicht zwangsläufig, dass das EG-
Beihilferecht anwendbar ist. Vielmehr stellt sich die Frage, ob das Fehlen einer
„nuklearen“ Beihilfekontrolle aus der Sicht des EAG-Vertrages eine gewollte oder
eine planwidrige und ausfüllungsbedürftige Lücke darstellt.560 Da der EG-Vertrag
und der EAG-Vertrag gleichzeitig ausgehandelt und am gleichen Tag unterzeichnet
wurden, wird die Auffassung vertreten, es sei Absicht der Mitgliedsstaaten gewesen,
den Bereich der Kernenergie von der Beihilfenkontrolle auszunehmen.561 Hierfür
spricht auch die Präambel sowie der Art. 1 EA, nach dem der EAG-Vertrag „die
schnelle Bildung und Entwicklung von Kernindustrien“ bezweckt. Zur Verwirklichung dieses Zieles enthält der EAG-Vertrag in mehreren Kapiteln Vorschriften
über die Förderung der Kernenergie, mit denen die Beihilfekontrolle kollidieren
kann. Denn in einigen Bereichen wird ohne Beihilfen der Mitgliedsstaaten das Ziel
des schnellen Aufbaus und der Entwicklung einer starken Kernindustrie nicht erreicht werden können.562 Ein generelles Verbot von Beihilfen wie es Art. 87 Abs. 1
EG vorsieht, läuft deswegen dem Förderungszweck des EAG-Vertrages zuwider.563
Ob und inwieweit allerdings die gesamte Beihilfenkontrolle der Art. 87 ff. EG
damit vom Anwendungsbereich des EAG-Vertrages ausgeschlossen ist, hängt vom
Umfang und der Tragweite des dem EAG-Vertrag zu Grunde liegenden Förderprinzips und seiner eventuellen „Beihilfekontrollresistenz“ ab. Zur Beantwortung
dieser Frage ist zunächst zu untersuchen, in welchen Bereichen der EAG-Vertrag die
Förderung der Kernenergie regelt und inwieweit eine Anwendung der Beihilfenkontrollvorschriften das Ziel dieser Vorschriften beeinträchtigt.
558 EuG, Urt. vom 26.01.2006 - T- 92/02, RdE 2006, S. 192 ff.
559 Mederer, in: von der Groeben/Schwarze, Vorb. Art. 87-89, Rdnr. 6; Rawlinson, in:
Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Vorb. Art. 87-89, Rdnr. 10; Reich/Helios, IStR 2005, S. 44 (46).
560 Grunwald, Energierecht, S. 236.
561 Vgl. Cusack, CMLRev. 2003, S. 117 (130 ff.).
562 Vgl. Grunwald, Energierecht, S. 237 f.
563 Vgl. Cusack, CMLRev. 2003, S. 117 (130 ff.).
128
aa) Beihilfenkontrolle und Förderungsprinzip des EAG-Vertrages
Nach Art. 2 a) EA hat die Euratom-Gemeinschaft die Aufgabe die „Forschung zu
entwickeln und die Verbreitung der technischen Kenntnisse sicherzustellen“.
Art. 2 c) EA nennt als Aufgabe der Euratom-Gemeinschaft „die Investitionen zu erleichtern und insbesondere durch Förderung der Initiative der Unternehmen, die
Schaffung der wesentlichen Anlagen sicherzustellen, die für die Entwicklung der
Kernenergie in der Gemeinschaft notwendig sind“. Aus Art. 2 a) und c) lässt sich
entnehmen, dass die Förderung der Kernenergie ein grundlegender Zweck der Euratom-Gemeinschaft ist. Dieses Förderprinzip findet seinen konkreten Ausdruck in
den Artikeln über die Forschungsförderung (Art. 4 ff EA), die Investitionsförderung
(Art. 40 ff EA) und über die Erleichterung des Abschlusses von Versicherungsverträgen (Art. 98 EA).
Die Bestimmungen über die Forschungsförderung beinhalten allerdings nur eine
Pflicht der Gemeinschaft zur Förderung der Kernenergieforschung, nicht dagegen
eine entsprechende Pflicht der Mitgliedsstaaten.564 Das heißt jedoch nicht, dass die
Forschungsförderung der Mitgliedsstaaten ausgeschlossen sein soll. Im Gegenteil
soll nach Art. 5 und 6 EA die Forschungsförderung der Gemeinschaft die mitgliedsstaatliche Forschungsförderung ergänzen und koordinieren, um letztlich eine möglichst optimale Forschungsförderung im Bereich der Kernenergie zu erreichen. Den
Art. 4 ff. EA ist zu entnehmen, dass die mitgliedsstaatliche Forschungsförderung im
Bereich der Kernenergie uneingeschränkt erwünscht ist und von den Mitgliedsstaaten autonom ausgestaltet werden darf.565 Das gilt sowohl für die staatliche und staatlich geförderte als auch für die private Forschung in den Mitgliedsländern. In Anbetracht der Bedeutung, die der EAG-Vertrag der Förderung der Forschung auf dem
Gebiet der Kernenergie einräumt, muss jede, auch wettbewerbspolitisch motivierte
Beschränkung der Forschungsförderung als Verstoß gegen den Förderungszweck
des EAG-Vertrages angesehen werden.566 Die Anwendung der EG-Beihilfenkontrolle bezogen auf mitgliedsstaatliche Forschungsförderungsmaßnahmen würde
daher auf Grund der insoweit abschließenden Bewertung durch den EAG-Vertrag zu
einer nach Art. 305 Abs. 2 EG unzulässigen Beeinträchtigung „der Vorschriften“
des EAG-Vertrages führen.567
Ähnliches gilt für die nach Art. 98 EA vorgesehene Förderungsbefugnis der Mitgliedsstaaten beim Abschluss von Versicherungsverträgen zur Deckung der Gefahren auf dem Gebiet der Kernenergie. Auch in diesem Bereich darf durch die EG-
Beihilfenkontrolle nicht die Befugnis der Mitgliedsstaaten, den Abschluss von Versicherungsverträgen zu erleichtern, ausgehebelt werden. Die Anwendung der Art. 87
ff. EG auf eventuell wettbewerbsverzerrende Erleichterungen beim Abschluss von
Versicherungsverträgen ist daher nicht zulässig.
564 Pernice, EuZW 1993, S. 497 (498).
565 Vgl. Hilf, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Vorb. Art. 163-173 EG, Rdnr. 20 f.
566 Pechstein, EuZW 2001, S. 307 (310).
567 Vgl. Hilf, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Vorb. Art. 163-173 EG, Rdnr. 21.
129
Die Vorschrift über die Förderung von Investitionen auf dem Gebiet der Kernenergie in den Art. 40 ff. EA lassen dagegen nicht erkennen, dass sie eine mitgliedsstaatliche Investitionsförderung voraussetzen bzw. auf ihr aufbauen. Vielmehr soll
nach Art. 40 Abs. 1 EA die Initiative von Personen und Unternehmen durch die
Kommission angeregt und eine abgestimmte Entwicklung ihrer Investitionen auf
dem Gebiet der Kernenergie erleichtert werden. Die Anzeigepflicht für Investitionen
nach Art. 41 EG richtet sich dementsprechend an die Personen und Unternehmen,
die die Investitionen tätigen wollen. Nur mit diesen Personen und Unternehmen er-
örtert die Kommission nach Art. 43 EA alle Gesichtspunkte der Investition einschließlich ihrer Finanzierung.568 Vorschriften über die mitgliedsstaatliche Beteiligung oder Unterstützung von Investitionen im Bereich der Kernenergie sind den Art.
40 ff. EA nicht zu entnehmen. Lediglich Art. 48 EA verpflichtet die Mitgliedsstaaten zur Gewährung von Vergünstigungen für gemeinsame Unternehmen, allerdings
nur dann, wenn der Rat einstimmig auf Vorschlag der Kommission Vergünstigungen beschlossen hat. Eine Pflicht oder die Befugnis der Mitgliedsstaaten eigene autonome Fördermaßnahmen für Investitionen im Bereich der Kernenergie zu veranlassen, enthält der EAG-Vertrag nicht.
Die Anwendung der EG-Beihilfevorschriften kollidiert daher nicht mit den Normen zur Investitionsförderung im EAG.569 Damit bleibt im Bereich der Investitionsförderung grundsätzlich Raum für die Anwendung der Art. 87 ff. EG. Dem
steht auch nicht das in Art. 2 c) EA normierte allgemeine Förderprinzip für Investitionen entgegen. Denn zum einen ergibt sich aus Art. 2 c) EA nicht, dass die Mitgliedsstaaten eigenständig Investitionen fördern sollen, sondern vielmehr ein Auftrag
an die Euratom-Gemeinschaft zur Investitionsförderung, der durch die Art. 40 ff EA
konkretisiert wird. Zum anderen ergibt sich aus Art. 2 g) EA, dass neben dem Ziel
der Förderung der Kernenergie, die Euratom-Gemeinschaft auch die Aufgabe hat,
„durch die Schaffung eines Gemeinsamen Marktes für die besonderen auf dem
Kerngebiet verwendeten Stoffe und Ausrüstungen, durch den freien Kapitalverkehr
für Investitionen auf dem Kerngebiet und durch die Freiheit der Beschäftigung für
die Fachkräfte innerhalb der Gemeinschaft“ den Zugang zu den besten technischen
Mitteln sicherzustellen. Damit macht Art. 2 g) EA deutlich, dass die Euratom-
Gemeinschaft grundsätzlich marktwirtschaftlich ausgerichtet sein soll. Dies lässt
sich auch aus Art. 67 EA ableiten, nach dem sich die Preise für die dem EAG-
Vertrag unterfallenden Produkte grundsätzlich „aus der Gegenüberstellung von Angebot und Nachfrage“ ergeben. Eine demnach prinzipiell marktwirtschaftliche Ordnung benötigt aber Wettbewerbsvorschriften, damit dieser Markt funktioniert.570
Schon in der Entscheidung aus dem Jahr 1978 verwies der EuGH darauf, dass die
Bestimmungen des EAG-Vertrages „bloße Ausformungen der Rechtsvorstellungen,
von denen das Gefüge des allgemeinen Gemeinsamen Marktes getragen wird, auf
einem hoch spezialisierten Gebiet“571 darstellen und dass diesem Markt nicht „Hin-
568 Vgl. Grunwald, Energierecht, S. 236.
569 So im Ergebnis auch Pechstein, EuZW 2001, S. 307 (310).
570 Pechstein, EuZW 2001, S. 307 (310).
571 EuGH v. 14.11.1978, Beschluss 1/78 n. Art. 103 Abs. 3 EAGV, Slg. 1978 I, S. 2151, (2173).
130
dernisse entgegenstehen dürfen, die sich unmittelbar oder mittelbar aus den einzelstaatlichen Vorschriften auf dem steuerrechtlichem, handelsrechtlichem oder technischen Gebiet ergeben“572. Die für die Realisierung eines gemeinsamen Marktes unerlässlichen Beihilfevorschriften sind deswegen im Bereich der Investitionsförderung anzuwenden. Demnach enthält der EAG-Vertrag in Bezug auf Beihilfemaßnahmen im Bereich der Europäischen Atomgemeinschaft zwar einzelne
Sondertatbestände, nicht aber ein abschließende Regelung der ganzen Materie. Die
Art. 87-89 EG sind daher ergänzend auf beihilferechtliche Sachverhalte anwendbar,
soweit diese nicht den Sonderbestimmungen des EAG-Vertrages unterfallen.573
bb) Beihilferechtliche Überprüfung der Rückstellungspraxis der deutschen Kernkraftwerkbetreiber
Im Hinblick auf die Rückstellungspraxis der deutschen Kernkraftwerkbetreiber muss
daher hinsichtlich der Zulässigkeit einer beihilfenrechtlichen Kontrolle und ggf. Beanstandung geprüft werden, ob sie in den beihilferechtlich resistenten Bereich fallen.
Davon kann jedoch keine Rede sein. Die Steuerbegünstigung von Rückstellung für
die Stilllegung und Beseitigung von Kernkraftwerken hat weder etwas mit Forschungsförderung noch mit der Erleichterung des Abschlusses von Versicherungsverträgen zu tun.
Die Kernkraftwerkbetreiber sollen durch die steuerliche Anerkennung der Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen Vorsorge für die Finanzierung der mit der
Stilllegung und Entsorgung verbundenen Investitionen treffen. Somit kann die Anerkennung von Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen dem Bereich der Investitionsförderung zugeordnet werden, in dem der EAG-Vertrag keine das EG-
Beihilferecht ausschließende Regelungen enthält. Einer Kontrolle der Rückstellungspraxis anhand des EG-Beihilfenrechts steht somit nichts entgegen.
Im Folgenden wird deswegen geprüft, ob die steuerliche Anerkennung von Rückstellungen für die Stilllegung und Entsorgung im Kernenergiebereich eine verbotene
Beihilfe im Sinne des Art. 87 Abs. 1 EG darstellt.
II. Steuerliche Anerkennung von Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen
als Beihilfe
Artikel 87 Abs. 1 EG erklärt „staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder
Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, für mit
dem Gemeinsamen Markt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen den Mit-
572 EuGH v. 14.11.1978, Beschluss 1/78 n. Art. 103 Abs. 3 EAGV, Slg. 1978 I, S. 2151, (2173).
573 Koenig/Kühling/Ritter, EG-Beihilfenrecht, S. 54.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die nukleare Entsorgung und die Stilllegung von Kernkraftwerken ist nicht nur eine technische, sondern auch eine finanzielle Herausforderung. Die hohen Kosten und der lange Zeitraum, über den sich die notwendigen Stilllegungs- und Entsorgungsmaßnahmen erstrecken, stellen besondere Anforderungen an die finanzielle Vorsorge.
Dieses Buch analysiert die gesetzlichen Vorschriften, nach denen in Deutschland und der Schweiz finanzielle Vorsorge für die Stilllegung und Entsorgung betrieben wird, da diese beiden Länder unterschiedliche Wege gewählt haben, die weltweit exemplarisch für die unterschiedliche Herangehensweise an dieses Problem sind. In Deutschland basiert die Finanzierungsvorsorge auf einer unternehmensinternen Lösung durch die Bildung von Rückstellungen bei den kernkraftwerkbetreibenden Unternehmen. Diese Art der Finanzierungsvorsorge führt zu erheblichen Wettbewerbsvorteilen zugunsten der Kernkraftwerkbetreiber. Inwieweit diese mit dem nationalen und dem europäischen Recht vereinbar sind, bildet ein Schwerpunkt dieses Buchs. Ein anderer Schwerpunkt ist der Vergleich mit dem unternehmensexternen Finanzierungssystem, das die Schweiz zur Finanzierungsvorsorge gewählt hat.