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Zweites Kapitel: Allgemeines
A. Technische Aspekte der Stilllegung
In Deutschland sind derzeit noch 17 und in der Schweiz 5 Kernkraftwerke in Betrieb. Die meisten dieser Kernkraftwerke sind ursprünglich auf einen 40jährigen Betrieb ausgelegt worden.15 Nach der geltenden Rechtslage in Deutschland müssen die
Kernkraftwerke aber schon nach rund 32 Jahren stillgelegt werden.16 In der Schweiz
wird dagegen über eine Verlängerung der Laufzeiten auf 50 Jahre diskutiert.17 Unabhängig von der Debatte über die Laufzeiten müssen die Kernkraftwerke jedoch
früher oder später aus sicherheitstechnischen Gründen ihren Betrieb einstellen.
Die hieran anknüpfende Stilllegung eines Kernkraftwerks verläuft in mehreren
aufeinander aufbauenden Schritten, die im Folgenden kurz dargestellt werden.
Mit der Abschaltung des Kernreaktors nach dem Ende seines Leistungsbetriebs
beginnt die so genannte Nachbetriebsphase. Diese dauert so lange an, bis der gesamte Kernbrennstoff, d. h. in der Regel die in der Anlage vorhandenen Brennelemente
sowie die sonstigen radioaktiv kontaminierten Betriebsmittel aus der Anlage entfernt
worden sind.18 Hierdurch wird das Aktivitätsinventar in der Anlage erheblich reduziert.19 Das Gefährdungspotential der Anlage verringert sich infolgedessen deutlich.
Insbesondere ist kein Potential mehr für eine Kernschmelze vorhanden. Bei der anschließenden eigentlichen Stilllegungsphase werden die beiden Varianten „sicherer
Einschluss“ und „unmittelbare Abbau“ unterschieden.20
I. Sicherer Einschluss einer kerntechnischen Anlage
Beim sicheren Einschluss einer kerntechnischen Anlage werden alle festen und unlöslichen radioaktiven Substanzen in einer Sicherheitsumhüllung am Standort eingeschlossen. Alle aktiven Systeme werden dabei auf ein Minimum reduziert, wobei die
15 Bürger, Energiewirtschaftliche Bewertung der Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen,
S. 46 ff.
16 Näheres hierzu siehe Drittes Kapitel, E. II. 1. b).
17 Näheres hierzu siehe Viertes Kapitel C.
18 Siegel, in: Michaelis/Salander, Handbuch Kernenergie, S. 122 f.; Grawe, in: Blümel/Wagner
(Hrsg.), Technische und rechtliche Fragen der Stilllegung und Beseitigung nuklearer Anlagen, S. 13 (15).
19 Wieland, in: Ossenbühl (Hrsg.) Deutscher Atomrechtstag 2002, S. 165 ff.
20 Näheres zu dem gesamten Ablauf der Stilllegung, siehe Thomas, in: Pelzer (Hrsg.) Stilllegung und Beseitigung kerntechnischer Anlagen, S. 29 ff..
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sicherheitstechnische Überwachung der Anlage gewährleistet bleiben muss.21 Im
Kernkraftwerk Lingen, das 1988 in den Zustand des sicheren Einschlusses überführt
wurde, stellte beispielsweise die Anlage zur Trocknung der Gebäudeluft zum Schutz
des Anlageinventars vor Korrosionsschäden die aufwendigste Einrichtung für den
„Betrieb“ des sicheren Einschlusses dar.22
Grundsätzlich wäre es möglich, es beim sicheren Einschluss der Anlage zu belassen. Die Frage, ob dieses in Deutschland oder in der Schweiz atomrechtlich zulässig
wäre, wird in dieser Arbeit an anderer Stelle noch näher untersucht.23
In der Praxis wird der sichere Einschluss einer kerntechnischen Anlage aber meist
als Übergangsphase bis zum anschließenden Abbau der Anlage angesehen. Er dient
einem ersten Abklingen der Radioaktivität innerhalb der Anlage. Auf diese Weise
soll der spätere Abbau der Anlage erleichtert werden, denn aufgrund der niedrigeren
radioaktiven Strahlung sind geringe Strahlenschutzmaßnahmen für das Abbaupersonal und damit auch geringere Abbaukosten zu erwarten. Außerdem wird die später
endzulagernde radioaktive Masse reduziert.24 Als optimaler Zeitraum für den Einschluss gelten in der Praxis 30 Jahre.25
II. Unmittelbarer Abbau einer kerntechnischen Anlage
Beim unmittelbaren Abbau der Anlage wird gleich nach dem Ende der Nachbetriebsphase mit den Demontagearbeiten am Kernkraftwerk begonnen.
Die Demontagearbeiten lassen sich in zwei Phasen unterteilen.26 In der ersten
Phase erfolgt der sog. nukleare Abbau der kontaminierten Anlagenteile. Dabei werden zuerst gering kontaminierte Anlagenteile abgebaut, bevor der fernbediente Abbau stark kontaminierter Teile und der schichtweise Abbau des aktivierten Betons
des Reaktorgebäudes erfolgt. Am Ende des nuklearen Abbaus steht die Freigabe für
den konventionellen Abbau. Diese wird erst dann erteilt, wenn bestimmte oberflächen- und massenspezifische Strahlengrenzwerte unterschritten worden sind. Mit
der Freigabe beginnt mit dem konventionellen Abbau die zweite Phase der Demontage des Kernkraftwerks.27 Ob das Kernkraftwerk dann vollständig bis zur so genannten „Grünen Wiese“ abgebaut werden muss, hängt sowohl in Deutschland als
auch in der Schweiz vom jeweiligen Einzelfall ab.28
21 Vgl. Preuss/Brosche, in: Lukes (Hrsg.), Fünftes Deutsches Atomrechtssymposium, S.121
(122).
22 Harbecke, atw 1991, S. 565f.
23 Siehe Drittes Kapitel C. II. 5. und Viertes Kapitel C. I.
24 Wieland, in: Ossenbühl (Hrsg.) Deutscher Atomrechtstag 2002, S. 165 (167 ff.).
25 Bürger, Energiewirtschaftliche Bewertung der Stilllegungs- und Entsorgungsrückstellungen,
S. 23.
26 Vgl. eingehend zum technischen Ablauf der Demontagearbeiten: Thomas, in: Pelzer, Stillegung und Beseitigung kerntechnische Anlagen, S. 29 (36 ff.).
27 Irrek, in: Wuppertal Papers Nr. 53, S. 4.
28 Näheres hierzu für Deutschland: Drittes Kapitel, C. II. 6. für die Schweiz: Viertes Kapitel, C.
II.
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References
Zusammenfassung
Die nukleare Entsorgung und die Stilllegung von Kernkraftwerken ist nicht nur eine technische, sondern auch eine finanzielle Herausforderung. Die hohen Kosten und der lange Zeitraum, über den sich die notwendigen Stilllegungs- und Entsorgungsmaßnahmen erstrecken, stellen besondere Anforderungen an die finanzielle Vorsorge.
Dieses Buch analysiert die gesetzlichen Vorschriften, nach denen in Deutschland und der Schweiz finanzielle Vorsorge für die Stilllegung und Entsorgung betrieben wird, da diese beiden Länder unterschiedliche Wege gewählt haben, die weltweit exemplarisch für die unterschiedliche Herangehensweise an dieses Problem sind. In Deutschland basiert die Finanzierungsvorsorge auf einer unternehmensinternen Lösung durch die Bildung von Rückstellungen bei den kernkraftwerkbetreibenden Unternehmen. Diese Art der Finanzierungsvorsorge führt zu erheblichen Wettbewerbsvorteilen zugunsten der Kernkraftwerkbetreiber. Inwieweit diese mit dem nationalen und dem europäischen Recht vereinbar sind, bildet ein Schwerpunkt dieses Buchs. Ein anderer Schwerpunkt ist der Vergleich mit dem unternehmensexternen Finanzierungssystem, das die Schweiz zur Finanzierungsvorsorge gewählt hat.