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H. Reformbemühungen um die Ehrenstrafe
Nach Inkrafttreten des RStGB kam es auch im Bezug auf die Ehrenstrafe zu Reformbestrebungen, die sich sowohl in der wissenschaftlichen Diskussion, als auch in
den einzelnen Gesetzesvorschlägen abbildeten.
I. Die Reformdiskussion in der Wissenschaft
Auf dem internationalen Kongress für Gefängniswesen in Rom 1885 wurden die
Ehrenstrafen zwar diskutiert, es herrschte allerdings noch weitgehende Einigkeit
über ihre Notwendigkeit.701 Dennoch wurde ihre Vereinbarkeit mit anerkannten
Strafzwecken bestritten.702 In der Vergleichenden Darstellung von 1908 äußerte
Goldschmidt dann bereits Zweifel an der Berechtigung der Ehrenstrafen,703 welche
die Diskussion aus dem Reichstag des norddeutschen Bundes wieder beleben sollten. Diese Diskussion dauerte – bei unterschiedlicher Intensität – bis zu ihrer Unterbrechung durch den Nationalsozialismus an und beeinflusste, wie wir später sehen
werden, den Gang der Vorschläge zur Strafrechtsreform bis 1969.
Ein Ausgangspunkt der Unzufriedenheit mit der Ehrenstrafe innerhalb des RStGB
war dabei ihre konkrete Ausgestaltung, die Binding zu der Aussage führte, dass der
Gesetzgeber sich für keine der möglichen Lösungen der Statusminderungen konsequent entschieden habe.704 Während die Befürworter der Ehrenstrafe gegen Ende des
19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Mehrheit waren,705 nahm die Zahl
ihrer Gegner insbesondere ab den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts deutlich zu.706
Die Forderungen der Gegner waren jedoch keinesfalls gleich. Unterschiede gab es
bereits in der Frage, ob und in welcher Form die Aberkennung bestimmter Statusrechte, insbesondere der Amtsfähigkeit, des Wahlrechts und der Wählbarkeit, notwendig sei. Sowohl die Forderung, die Ehrenstrafe in eine Maßregel der Besserung
und Sicherung umzuwandeln, als auch die gänzliche Ausgliederung der Materie aus
dem Strafgesetzbuch und ihre Regelung in Sondergesetzen,707 gegebenenfalls unter
Beibehaltung einer weitgehend reduzierten Statusminderungssanktion im RStGB,708
fand dabei Anhänger, eine vollständige Streichung wurde jedoch nicht vertreten.
701 Köhne, ZStW 8 (1888), Seite 441.
702 Köhne, ZStW 8 (1888), Seite 460 f.
703 Goldschmidt, Vergleichende Darstellung, Band IV, Seite 414.
704 Vgl. Binding, Grundriss des Deutschen Strafrechts, Seite 251: „Er…“ (der Gesetzgeber) „hat
aber nichts ganz getan!“
705 Vgl. für viele Holzer, Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte, Seite 44ff., der allerdings eine
einhellig festgestellte Reformbedürftigkeit darlegt.
706 Vgl. aber schon Merkel, Die Lehre von Verbrechen und Strafen, 286, der die hinter der Ehrenstrafe stehende Argumentation schon 1913 für dem RStGB systemfremd hält.
707 Schmidt, ZStW 45 (1925), Seite 37ff., der sich allerdings für die Beibehaltung der strafrichterlichen Aberkennung des bekleideten Amtes ausspricht; Grünhut, ZStW 46 (1926), Seite
278; Liepmann, Hamburgische Schriften 1, Seite 108; Freisler, ZStW 42 (1922), Seite 442.
708 Kühne, Die Ehrenstrafen, Seite 63.
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Die Befürworter der Ehrenstrafe gingen demgegenüber in der Tradition der Aufklärung von der Annahme aus, dass die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte
nicht gegen die allgemeine Menschenehre gerichtet sei.709 Zum Teil wurde sogar
vorgebracht, die Ehrenstrafen des RStGB richteten sich überhaupt nicht gegen die
Ehre, sondern seien Reaktionen des Staates auf die Ehrlosigkeit des Einzelnen.710
Dies wurde damit begründet, dass der Ehrverlust nicht durch die Verhängung der
Ehrenstrafe, sondern durch die vorangegangene Ehrlosigkeit der Tat eintrete,711 das
Urteil also quasi nur Bestätigung eines bereits bestehenden Zustandes sei. In der
Ehrenstrafe drücke sich überdies eine notwendige Differenzierung des Sanktionensystems aus,712 ein Argument, das sogar von Gegnern der Sanktion geteilt wurde, da
eine vollständige Sühne durch die Haft nicht erreicht werden könne und die Ehrenstrafe somit als kleineres Übel in Kauf zu nehmen sei.713 Dies führt in der Konsequenz zu der Auffassung, dass die Ehrenstrafe mit den Strafzwecken vereinbar714
und auch der Resozialisierung nicht abträglich ist. 715 Die Billigung des Entzugs der
bürgerlichen Ehrenrechte wurde damit begründet, dass der Verbrecher sie nicht
verdienen würde.716 Eines der stärksten Argumente war jedoch, dass die Ehrenstrafe
eine starke Verbindung zum sittlichen Volksbewusstseins habe717 und in der Bevölkerung verwurzelt sei.718
Die Zahl der Gegner der Ehrenstrafe vermehrte sich mit dem Vordringen der modernen Strafrechtsschule, welche die Ehrenstrafe als Gesinnungsstrafrecht begriff.719
Sie forderten nachdrücklich das Ende aller demütigenden Strafen innerhalb des
deutschen Strafrechtssystems.720 Die Gegnerschaft nahm im Sinne der Aufklärung
ihren Ausgang in der Annahme, dass die bürgerliche Ehre als Bestandteil der Menschenehre dem Staat als solchem nicht zugänglich sei.721 Außerdem wurde sowohl
die Unbestimmtheit des Begriffs der ehrlosen Gesinnung als auch die Unzugänglichkeit der Ehrenstrafe für spezialpräventive Strafzwecke kritisiert.722 Die Ehrenstrafe entfalte sich erst nach der Strafentlassung und wirke durch ihren Makel gegen
709 Ebermayer, 29. Deutscher Juristentag, Band I, Seite 300; Fuchs, Die Ehrenstrafen, Seite 75.
710 Lemme, Der Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte, Seite 15.
711 Kahl, DJZ 1923, Seite 512.
712 Oetker, JW 1924, Seite 255; Ketteler, Die Erneuerung der Ehrenstrafen, Seite 31, formuliert,
dass es eigentlich um die Frage gehe, ob eine solche Differenzierung erwünscht sei; von
Liszt, ZStW 10 (1890), Seite 58, spricht davon, dass sich die Zuchthausstrafe von den anderen Strafen so weit wie möglich unterscheiden müsse.
713 Marcuse, Die Ehrenstrafen, Seite 27; für die Befürworter Oetker, JW 1924, Seite 256.
714 Fuchs, Die Ehrenstrafen, Seite 161.
715 Kahl, DJZ 1923, Seite 511.
716 Dolles, Die Nebenstrafen an der Ehre, Seite 15; Oetker, JW 1924, Seite 259, spricht davon,
dass der Straftäter des Rechtsgebrauchs nicht mehr wert sei.
717 Kahl, DJZ 1923, Seite 510.
718 Kahl, DJZ 1923, Seite 509, Oetker, JW 1924, Seite 255.
719 Grünhut, ZStW 46 (1926), Seite 265.
720 Schmidt, ZStW 45 (1925), Seite 22; Liepmann, Hamburgische Schriften 2, Seite 131, ruft
zum Kampf gegen jede Ehrenstrafe auf.
721 Liepmann, Hamburgische Schriften 2, Seite 124.
722 Grünhut, ZStW 46 (1926), Seite 264; Schmidt, ZStW 45 (1925), Seite 30; Liepmann, Hamburgische Schriften 2, Seite 125.
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die Reintegration in die Gesellschaft, was den Entlassenen aus der Gesellschaft
heraustreibe.723 Auf der anderen Seite wurde bereits ihre Wirkung als Übel für den
Delinquenten verneint.724 Auch die Aufgabe der Sicherung könne die Ehrenstrafe
nicht erfüllen.725 Somit wurde bestritten, dass die Ehrenstrafe Strafzwecken überhaupt gerecht werden könne.726 Auch die von Befürwortern behauptete Verwurzelung der Ehrenstrafe in der Bevölkerung wurde anders beurteilt,727 da der Zusammenhang zwischen Recht und Sittlichkeit gerade die Abschaffung der Ehrenstrafe
gebiete,728 bzw. da das Abstellen auf das Volksempfinden nutzlos sei.729 Aus dieser
Analyse wurde gefolgert, dass die Ehrenstrafe nicht notwendig sei.730 Sie sei somit
einzig eine Form der „geistigen Brandmarkung“731 und letztlich verhängnisvolles
Überbleibsel der alten Friedlosigkeit.732
In der Reformdebatte war zunächst Mehrheitsmeinung, dass die Ehrenfolgen ähnlich wie im preußischen Strafgesetzbuch allein an die Zuchthausstrafe und nicht an
eine ehrlose Gesinnung angeknüpft werden sollten.733 Ebenfalls eine kaum widersprochene Forderung war die nach Abschaffung der Unfähigkeit, Würden, Titel,
Orden und Ehrenzeichen zu erlangen, sowie Zeuge bei der Aufnahme von Urkunden
und des Rechtes Vormund zu sein.734 Beachtet wurde auch die Frage, ob die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte überhaupt eine Strafe sein könne, oder ob sie
nicht besser als sichernde Maßnahme ausgestaltet wäre.735 Diese Überlegung, die
sich – wie noch zu schildern sein wird – in den Entwürfen niederschlug, ist dabei
723 Schmidt, ZStW 45 (1925), Seite 27; Liepmann, Hamburgische Schriften 2, Seite 128; Freisler, ZStW 42 (1922), Seite 441.
724 Schmidt, ZStW 45 (1925), Seite 26; Freisler, ZStW 42 (1922), Seite 441.
725 Schmidt, ZStW 45 (1925), Seite 33; Liepmann, Hamburgische Schriften 2, Seite 128; Grünhut, Reform des Strafrechts, 1. Buch, Seite 179 unterstellte, dass es nicht um Sicherung, sondern um „die Fernhaltung gewisser Elemente von der Wahlurne“ ging.
726 Vgl. Metten, Die Natur der Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte, Seite 31; Schmidt,
ZStW 45 (1925), Seite 26; Grünhut, ZStW 46 (1926), Seite 267; Kühne, Die Ehrenstrafen,
Seite 59, bestreitet auch ihre vergeltende Wirkung.
727 Vgl. Marcuse, Die Ehrenstrafen, Seite 28, Schmidt, ZStW 45 (1925), Seite 34, will auf ein
solches Gefühl keine Rücksicht nehmen.
728 Grünhut, ZStW 46 (1926), Seite 270.
729 Liepmann, Hamburgische Schriften 2, Seite 129.
730 Metten, Die Natur der Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte, Seite 31; Grünhut, Reform
des Strafrechts, 1. Buch, Seite 179.
731 Metten, Die Natur der Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte, Seite 33; Grünhut, ZStW
46 (1926), Seite 266; Grünhut, Reform des Strafrechts, 1. Buch, Seite 177; Freisler, ZStW 42
(1922), Seite 441.
732 Liepmann, Hamburgische Schriften 2, Seite 124; vgl. auch schon Merkel, Die Lehre von
Verbrechen und Strafen, Seite 287, der von der Erhaltung von Apparaten des peinlichen
Rechts in einem vergessenen Winkel spricht.
733 Ebermayer, 29. Deutscher Juristentag, Seite 300; Goldschmidt, Vergleichende Darstellung,
Band IV, Seite 415; Hagen, Die Entwicklung der Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte,
Seite 42; Oetker, JW 1924, Seite 256; von Liszt, ZStW 10 (1890), Seite 57; allerdings sprach
sich demgegenüber van Calker, Vergleichende Darstellung Band III, Seite 187, dafür aus,
entehrende Strafen nur bei Taten anzuwenden, die aus einer ehrlosen Gesinnung entspringen.
734 Hagen, Die Entwicklung der Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte, Seite 43
735 Delaquis, ZStW 32 (1912), Seite 678.
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vor dem beschriebenen historischen Hintergrund zu sehen, da die Ehrenstrafe über
lange Strecken allein der Sicherung diente. Zuletzt beinhaltete bereits die Vergleichende Darstellung die Position, dass der Begriff der Ehrenstrafe aufzugeben sei,736
was sich in den Entwürfen ab 1922 niederschlug.
Auch wenn bestritten wurde, dass sich im Streit um die Ehrenstrafe ein Ausdruck
des Konfliktes zwischen moderner und klassischer Strafrechtsschule zeigt,737 wird
deutlich, dass sich darin eine Richtung der beiden Schulen ausdrückt und die Ablehnung der Ehrenstrafe mit dem Anwachsen der Anhänger der modernen Schule stärker wurde. Während diese für die Abschaffung der Ehrenstrafe eintraten und dies
entweder durch die Ausgliederung der Regelungsmaterie aus dem StGB oder durch
die Formulierung einzelner Folgen als Maßregeln erreichen wollten, traten die Vertreter der klassischen Strafrechtsschule überwiegend für eine Beibehaltung der Ehrenstrafe ein. Die Dominanz der einen oder der anderen Richtung zeigte sich dabei
in den Reformvorschlägen, die bald nach inkrafttreten des RStGB gemacht wurden.
II. Die Ehrenstrafe in den Reformvorschlägen
Nachdem sich bereits im beginnenden 20. Jahrhunderts die Erkenntnis durchgesetzt
hatte, dass das RStGB insgesamt reformbedürftig sei,738 begann die Arbeit an der
Erneuerung des RStGB,739 die sich auch in den Vorschlägen zur Ehrenstrafe zeigte.
1. Die Ehrenstrafe im Vorentwurf von 1909
Der Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch740 aus dem Jahr 1909 war
wesentlich vom Vergeltungsgedanken geprägt741 und wollte daher die Ehrenstrafe
des RStGB erhalten wissen, ergänzt durch den Verweis, der nun auch gegenüber
Erwachsenen angewandt werden sollte. § 50 sah die Möglichkeit einer Rehabilitation vor.
736 Goldschmidt, Vergleichende Darstellung Band IV, Seite 415.
737 Schmidt, ZStW 45 (1925), Seite 15; Kahl, DJZ 1923, Seite 509.
738 Schmidt, Die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Seite 394.
739 Die einzelnen Reformvorschläge ab 1918 sind abgedruckt in Schubert/Regge/Rieß/Schmid,
Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozessrechts, 1995.
740 Reichs-Justizamt, Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch, 1909; zur Ehrenstrafe im
Vorentwurf im Einzelnen Hagen, Die Entwicklung der Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte, Seite 40ff.
741 Schmidt, Die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Seite 395.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die statusmindernden Nebenfolgen stellen die Ehrenstrafen des heutigen StGB dar. Dieses Ergebnis steht am Ende einer Untersuchung, in der der Autor sich mit den Nebenfolgen, aber auch mit den Begriffen Ehre und Strafe auseinandersetzt. Dabei gelingt es ihm, die Verbindung von Ehrverständnissen und Ehrenstrafen durch die Geschichte nachzuweisen und zu zeigen, dass die Geschichte der Ehrenstrafe in Deutschland mit der Strafrechtsreform von 1969 keinen Abbruch gefunden hat. Gleichzeitig stellt er sich die Frage nach der Notwendigkeit von Ehrenstrafen in heutiger Zeit, die er in begrenztem Umfang für notwendig erachtet.