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Die Mitwirkung der Öffentlichkeit an der Bestrafung ist den mittelalterlichen Ehrenstrafen immanent, da sie auf die Umsetzung durch die entsprechende Ehrengemeinschaft angewiesen waren. Eine hieraus begründete Ablehnung mittelalterlicher
Ehrenstrafen als Ausgangspunkt späterer Sanktionen wäre also verfehlt. Darüber
hinaus war die mittelalterliche Gesellschaft wegen des Fehlens anderer Sicherungsinstrumente auf die Einbindung der Öffentlichkeit in den Strafakt zwangsläufig
angewiesen, da ein modernes Staatsystem, dass die Bestrafung hätte übernehmen
können, noch nicht existierte und so die Öffentlichkeit das effektivste Mittel war,
um die Ehrenminderung tatsächlich durchzusetzen. Ihr Zweck kann wegen der Anknüpfung an die Ehre als gesellschaftsstabilisierendes Element nur darin bestehen,
die Standesgesellschaft zu stabilisieren, was, jenseits der inhaltlichen Anbindung an
die Standesgesellschaft, die Stabilisierung einer Gesellschaftsordnung als übergeordneten Zweck bedeutet.
D. Die Ehrenstrafe und die Rezeption
I. Darstellung der Veränderungen durch die Rezeption
Mit dem Aufkommen der Universitäten und dem sich vertiefenden Prozess der Rezeption489 römischen Rechtsdenkens erfuhr auch das System der Ehrenstrafen Ver-
änderungen.490 Entscheidend für die Rezeption römischer Rechtsgedanken war vor
allem der so genannte Gerichtsgebrauch.491 Da die Reichsgewalt im Strafrecht nur
schwach war, waren es zu dieser Zeit die einzelnen Territorien, die das Strafrecht
weiterentwickelten, wobei sie sich jedoch an der Constitutio Criminalis Carolina
Kaiser Karls V. aus dem Jahr 1532492 orientierten.493
In den Territorialrechten lassen sich nun an eine Verurteilung geknüpfte Minderungen der Ehre im Sinne von geminderten Beteiligungsmöglichkeiten nachweisen.494 Diese Entwicklung wurde durch den Umstand begünstigt, dass sich in den
Territorien nun auch eine Idee des Verhältnisses zum eigenen Territorium entwickelte, die der römischen Vorstellung des Bürgers näher kam.495 So rückte also mit
der Eigenschaft als Untertan bzw. Bürger eine weitere Anknüpfungsmöglichkeit für
die Ehrenstrafe im Sinne der Vermittlung von Rechten über einen allgemeineren
gesellschaftlichen Status in den Vordergrund. Der Abschreckungsgedanke spielte
bei den Ehrenstrafen des gemeinen Rechts eine zentrale Rolle.496
489 Zum Begriff der Rezeption vgl. Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, Rn. 137.
490 Anders Freisler, ZStW 42 (1922), Seite 438, der keinen wesentlichen Einfluss der Rezeption
auf die Ehrenstrafen sieht.
491 Marezoll, Über die bürgerliche Ehre, Seite 322.
492 Abgedruckt bei Buschmann, Textbuch zur Strafrechtsgeschichte.
493 von Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, Seite 26.
494 Dolles, Die Nebenstrafen an der Ehre, Seite 25.
495 Fuchs, Die Ehrenstrafen, Seite 45.
496 Fuchs, Die Ehrenstrafen, Seite 49.
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Bemerkenswert ist, dass im Rahmen des Prozesses der Rezeption der Begriff der
Rechtlosigkeit zugunsten der römischrechtlichen infamie verschwand, was sich in
der Prägung des Begriffes „Ehrlosigkeit“ niederschlug.497 Dieser, aber auch der
Begriff der Infamie, tauchte nun in Gesetzbüchern wie der Carolina498 und ihrem
Vorläufer, der Bambergischen Halsgerichtsordnung von 1507499 auf,500 während der
Begriff der Rechtlosigkeit in diesen Werken nicht mehr enthalten war.501 Einiges
spricht an dieser Stelle dafür, dass eine Verschmelzung der Institute infamie und
Rechtlosigkeit stattfand.502 Dabei wurde die Ehrlosigkeit nun zum Teil ausdrücklich
innerhalb einzelner Gesetze als Sanktion angedroht, zum Teil war sie Folge bestimmter Sanktionen, wie etwa der durch den Henker vollstreckten Sanktionen.503
Inhalt der Ehrlosigkeit war der Verlust von privaten und öffentlichen Rechten. Sie
umfasste den Verlust der Staats- und Gemeindebürgerrechte, aller Ämter, der Fähigkeit diese zu erlangen und den Verlust der Fähigkeit zur Stellung als Notar, Anwalt,
Prokurator und Vormund, die Zeugnisunfähigkeit und die Aberkennung einzelner
privater Klagerechte.504 Unabhängig von der im genauen umstrittenen Übertragung505 römischrechtlicher Gedanken im Rahmen der Carolina506 kann festgestellt
werden, dass es bei dieser Sanktion um eine Herabsetzung des Einzelnen in der
Gemeinschaft ging. Sie war Sanktion im Sinne einer Folge entehrender Handlungen
oder Folge entehrender Strafen.507 Nie im deutschen Recht wurde demgegenüber
eine an eine zivilprozessuale Verurteilung anknüpfende Statusfolge rezipiert.508
Das kanonische Recht hat im Bereich der Ehrenstrafen ebenfalls viel zur Rezeption der römischen Rechtsgedanken beigetragen.509 Dies steht vor dem Hintergrund,
497 Fuchs, Die Ehrenstrafen, Seite 46; allerdings wurde auch bestritten, dass dieser Begriff mit
der römischrechtlichen Infamie übereinstimmt, vgl. Kalbfleisch, Die Ehrenstrafen des gemeinen peinlichen Rechts und ihre Entwicklung, Seite 6a; Marezoll, Über die bürgerliche Ehre,
Seite 344.
498 Die Constitutio Criminalis Carolina, 107, abgedruckt bei Buschmann, Textbuch zur Strafrechtsgeschichte, spricht zum Beispiel bei Meineid davon, dass der Täter „aller eren entsetzt
sein“ soll.
499 Die Bambergische Halsgerichtsordnung, 128, abgedruckt bei Buschmann, Textbuch zur
Strafrechtsgeschichte, spricht bei Meineid davon, dass der Täter „aller eren entsetzt sein“ soll.
500 Nach Hagen, Die Entwicklung der Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte, Seite 13, bei
Meineid, Verkuppelung der Ehefrau und der Kinder, Landesverweisung mit Verlust der Ehren, verstümmelnden Strafen, Warenbetrug, Prävarikation, Kuppelei, Aufruhr, offenem Diebstahl und zweitem Diebstahl.
501 Fuchs, Die Ehrenstrafen, Seite 46.
502 Marezoll, Über die bürgerliche Ehre, Seite 343.
503 Fuchs, Die Ehrenstrafen, Seite 47.
504 Kalbfleisch, Die Ehrenstrafen des gemeinen peinlichen Rechts und ihre Entwicklung, Seite 9.
505 Hierzu Kalbfleisch, Die Ehrenstrafen des gemeinen peinlichen Rechts und ihre Entwicklung,
Seite 6ff.
506 Vgl. hierzu Fuchs, Die Ehrenstrafen, Seite 47.
507 Kalbfleisch, Die Ehrenstrafen des gemeinen peinlichen Rechts und ihre Entwicklung, Seite 9,
wobei umstritten war, ob die Ehrlosigkeit bei entehrenden Handlungen durch ein Gericht
festgestellt werden musste; nach Kalblfeisch, Seite 14ff. galten als entehrend die Strafen an
„Leib oder Hand“ und „Haut und Haar“.
508 Dolles, Die Nebenstrafen an der Ehre, Seite 25.
509 Marezoll, Über die bürgerliche Ehre, Seite 342.
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dass das von der Kirche gesetzte Recht unter dem Grundsatz „ecclesia vivit lege
romana“ stand510 und die Kirche dazu überging, auch in weltlichen Bereichen zu
entscheiden.511 Die Kirche schuf aber auch für ihren unmittelbaren Einflussbereich
statusmindernde Sanktionen, wie etwa die Verweigerung eines kirchlichen Begräbnisses, den Kirchenbann, die excummunicatio major und minor sowie die Degradation von Geistlichen.512 Für das weltliche Rechtsleben hatten diese kirchlichen Ehrenstrafen insofern Bedeutung, als die Exkommunikation nach Ablauf einer Frist
von sechs Wochen und einem Tag zur Acht durch die weltliche Gerichtsbarkeit
führen konnte und sich somit auf den gesellschaftlichen Status des Einzelnen auswirkte.513 Auch diese Sanktionen machen nur Sinn, wenn man sie im Lichte der
Erhaltung und Stabilisierung der Kirche betrachtet, wobei hier die Einhaltung kirchlicher Normen im Sinne der Stabilisierung kirchlichen Einflusses im Vordergrund
steht, da durch den Sündengedanken und den auch gesellschaftlichen Ausschluss des
Einzelnen Macht demonstriert wurde.514
II. Bewertung der Ehrenstrafe in der Rezeption
Insgesamt ist ein klares Bild über den Umfang der Rezeption im Rahmen der Ehrenstrafe nicht möglich.515 Für das gemeine Recht lässt sich aber zumindest sagen, dass
die Ehrenstrafe im Laufe der Zeit in ihren Begrifflichkeiten und konkreten Folgen
immer stärker durch römische Rechtsgedanken beeinflusst wurde und neben ihre
bereits bestehenden Zwecke die Abschreckung trat. Hintergrund dieser Erweiterung
des Funktionszusammenhangs der Ehrenstrafe ist der Umstand, dass sie im Rahmen
der Rezeption von der Verurteilung abhängig wurde. Dies hat zur logischen Folge,
dass sie von einer gesellschaftlichen zu einer primär staatlichen Sanktion wurde. Die
einzelnen Ehrenstrafen dienten nun neben der Sicherung auch der Demonstration der
Strafgewalt der sie verhängenden Autorität. Darüber hinaus wurde über die Stellung
als Untertan ein zusätzlicher Anknüpfungspunkt für die Ehrenstrafe gefunden, wobei
die ständische Einteilung zunächst weiter bestand, sich der Begriff des Standes aber
immer mehr zu einem sozialen Begriff entwickelte.516
Bemerkenswert an der Wandlung der Ehrenstrafe durch die Rezeption ist also,
dass neben die Aufgabe der Sicherung der Standesgesellschaft die Erhaltung einer
übergeordneten, staatlichen Instanz trat. Wertet man dies, so darf aus dem Vorgesagten geschlossen werden, dass sich die Ehrenstrafe im Rahmen der veränderten ge-
510 Kühne, Die Ehrenstrafen, Seite 5.
511 Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, Rn. 136.
512 Kühne, Die Ehrenstrafen, Seite 5.
513 Marezoll, Über die bürgerliche Ehre, Seite 321; Hagen, Die Entwicklung der Aberkennung
der bürgerlichen Ehrenrechte, Seite 12.
514 Zu denken sei hier nur an die schon vor dem eigentlichen Zeitalter der Rezeption durchgeführte Anwendung der Exkommunikation als Machtmittel im Rahmen des Investiturstreites.
515 Fuchs, Die Ehrenstrafen, Seite 47.
516 Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, Rn. 201.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die statusmindernden Nebenfolgen stellen die Ehrenstrafen des heutigen StGB dar. Dieses Ergebnis steht am Ende einer Untersuchung, in der der Autor sich mit den Nebenfolgen, aber auch mit den Begriffen Ehre und Strafe auseinandersetzt. Dabei gelingt es ihm, die Verbindung von Ehrverständnissen und Ehrenstrafen durch die Geschichte nachzuweisen und zu zeigen, dass die Geschichte der Ehrenstrafe in Deutschland mit der Strafrechtsreform von 1969 keinen Abbruch gefunden hat. Gleichzeitig stellt er sich die Frage nach der Notwendigkeit von Ehrenstrafen in heutiger Zeit, die er in begrenztem Umfang für notwendig erachtet.