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zuschreiben sei (Michel Vauzelle, PS, 1030; Jean-Pierre Brad, PCF, 1030; Jean-
Jacques Hyest, UDC, 1030; Pierre Mazeaud, RPR, 103).
Das Identitätselement „Nationalstaatsbewusstsein“ findet sich in den Redebeiträgen nahezu aller Abgeordneten. Neben Patrick Devedjian ist es nur Alain Lamassoure, der dieses Narrativ zwar nicht teilt, aber nichtsdestotrotz seine Dominanz feststellen muss: „Seit tausend Jahren ist Frankreich eine Nation plus ein Staat. Sie sind zu
einem solchen Grade verschmolzen, dass es uns in unserem genetischen Code des
Denkens unmöglich ist, sie als getrennte Einheiten zu begreifen“ (928). Lamassoure
plädiert seinerseits nun für eine „révolution communautaire“, in der die Nation von
ihrer exklusiven Beziehung mit dem Staat zu Gunsten Europas einerseits und regionaler Gebietsköperschaften andererseits abrücken soll (928). Die beiden UDF-
Politiker sind damit in der Maastricht-Debatte eine verschwindend geringe Minderheit. Das den Diskurs beherrschende Identitätselement „Nationalstaatsbewusstsein“
impliziert, dass Souveränität – zumindest substanziell – nicht an die Europäische
Union abgegeben werden darf, wenn die französische Nation erhalten bleiben soll.
Während ein supranationales Wirtschaftseuropa und ein intergouvernemental organisiertes politisches Europa noch als bloße Kompetenztransfers interpretiert werden
können, würde eine supranationale Struktur im „High politics“-Bereich einen eklatanten Souveränitätsverlust und damit das Ende Frankreichs und der französischen
Nation bedeuten. Die Befürwortung und selbst die Akzeptanz supranationaler Elemente in der politischen Integration befanden sich in den Maastricht-Verhandlungen
außerhalb des identitär-normativen Handlungsspielraums der französischen Regierung, wodurch sich das zweite Kontinuitätsrätsel – keine Einbindung der erstarkten
Bundesrepublik durch eine supranationale politische Struktur – erklären lässt.
5.3 Die Verfassungsdebatte
Wie in Kapitel 2.2.3 dargelegt, beinhaltet der Europäische Verfassungsvertrag
(EVV) – insbesondere mit der Etablierung eines von den Regierungen unabhängigen
EU-Außenministers, der Verleihung einer Rechtspersönlichkeit an die EU und einer
Stärkung des Europäischen Parlaments und der Kommission – mehrere supranationale Elemente. Das Verfassungskonzept und der Verfassungsbegriff können als ein
symbolträchtiger Schritt Richtung Föderation verstanden werden. Zu beachten ist
außerdem, dass sich die französische Regierung im Konvent an der Seite Deutschlands engagiert für eine Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen im Bereich der
GASP eingesetzt hatte. Mit Blick auf die Schärfe, mit welcher in der Auseinandersetzung über den Vertrag von Maastricht jedes Anzeichen einer föderalen Struktur
Europas jenseits der wirtschaftlichen Integration einhellig abgelehnt wurde, überrascht nun die anlässlich der Ratifikation des Europäischen Verfassungsvertrages
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geführte Debatte in der Nationalversammlung: die Souveränitätsproblematik wird
dort kaum thematisiert. 37
5.3.1 Die außenpolitische Norm „Bewahrung der staatlichen Souveränität“
Nur an einer Stelle erklärt der Gaullist Bernard Accoyer, dass der Vertrag einem
„Super-Staat“ eine Absage erteile (2666)38, und selbst die kommunistische Verfassungsgegnerin Marie-George Buffet verwendet den Begriff Souveränität nur ein
einziges Mal, wenn sie beklagt, dass sich die Europäische Zentralbank der „Volkssouveränität“ entziehe (2662). Einen kurzen Absatz immerhin widmet der UDF-
Vorsitzende François Bayrou dem Thema Souveränität: „Europa bedeutet nicht
einen Verlust an Souveränität, sondern im Gegenteil eine Wiedererlangung von
Souveränität. […] Die Idee, dass wir Europa um der Souveränität willen konstruieren, steht im Zentrum des Vertrages“ (2674). Bayrou, der hier ein Argument der
Maastricht-Befürworter übernimmt, spricht sich damit freilich nicht für die Beibehaltung hoheitlicher Kompetenzen auf der staatlichen Ebene aus. Die Norm „Bewahrung der staatlichen Souveränität“ ist in der Debatte der Nationalversammlung
kaum mehr wahrnehmbar, ihre noch im Maastricht-Diskurs außerordentlich breite
Kommunalität ist verschwunden. Im Gegenteil, selbst der Fraktionsvorsitzende der
UMP plädiert für ein „Europe puissance politique fortement integrée“ (Bernard
Accoyer, 2664). Angesichts der Tatsache, dass mit dem Attribut „integré“ in den
vorangegangen Debatten in der Regel eine supranationale Struktur gemeint war,
stellt diese Forderung nach einem „stark integrierten politischen ‚Europe puissance‘“
aus dem Mund eines Gaullisten eine dramatische Kehrtwende dar.
Der Zusammenbruch der Norm „Bewahrung der staatlichen Souveränität“ erklärt,
warum Frankreich in den Verhandlungen zum Verfassungsvertrag zum ersten Mal
von seinen traditionellen intergouvernementalen Positionen hinsichtlich der politischen Integration abrücken konnte. Mit dem Ende der diskursiven Dominanz dieser
Norm hat sich der Handlungsspielraum erweitert und neue Politikoptionen – die
Befürwortung oder zumindest die Akzeptanz supranationaler Elemente – sind möglich geworden. Der auffällige Niedergang der Norm „Bewahrung der staatlichen
Souveränität“ wird seinerseits erst durch einen Wandel des Identitätselements „Nationalstaatsbewusstsein“ ermöglicht.
37 Wie in Kapitel 4.3 stützte ich mich auf die Debatte vom 5. Mai 2005 in der Nationalversammlung, die im „Journal Officiel de la République française – Assemblée nationale“ (Nr.
32 vom 6.3.2005) abgedruckt ist.
38 Die in Klammern angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die durchlaufende Nummerierung in der Mitschrift dieser Debatten.
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5.3.2 Das Identitätselement „Nationalstaatsbewusstsein“
Die Analyse der Verfassungsdebatte zeigt, dass das Identitätselement „Nationalstaatsbewusstsein“ („Wir sind eine Nation plus ein Staat!“) verschwunden ist bzw.
sich in ein anderes Identitätselement gewandelt hat, das als „Nationalbewusstsein“
(„Wir sind eine Nation!“) bezeichnet werden kann.
Wie oben gezeigt, wird an keiner Stelle die Bewahrung der staatlichen Souveränität gefordert. Das Wort „Souveränität“ kommt in der Debatte insgesamt nur viermal
vor, wobei zweimal von „souveraineté populaire“ die Rede ist. Neben Marie-George
Buffet (PCF, 2662) spricht auch der gaullistische Premierminister Jean-Pierre Raffarin von dem Referendum über den Verfassungsvertrag als Ausdruck der „Volkssouveränität“ (2657), während François Bayrou ganz allgemein von „souveraineté“
spricht (2674). Der Sozialist Ayrault erwähnt Souveränität, wenn er diejenigen als
ewige Neinsager geißelt, die heute gegen den Verfassungsvertrag sind und einst die
gemeinsame Währung als „Abdankung an die Souveränität“ zurückgewiesen haben
(2671). Hierbei fällt auf, dass die noch während der Parlamentsdebatte über den
Vertrag von Maastricht auffällig im Diskurs präsenten Attribute von Souveränität
wie „national“, „Frankreichs“ oder „des Staates“ in der Verfassungsdebatte nicht
mehr verwendet werden.
Abgesehen von der bereits zitierten Feststellung, der EVV schaffe keinen „Super-
Staat“ (Bernard Accoyer, UMP, 2666), spielt auch der Begriff „Staat“ praktisch
keine Rolle mehr. Bemerkenswert ist, dass Bernard Accoyer zwar die altbekannte
Formel „faire l‘Europe sans défaire la France“ („Europa bauen, ohne Frankreich zu
zerstören“) anführt, die seiner Überzeugung nach vom Europäischen Verfassungsvertrag respektiert werde, dies dann aber folgendermaßen expliziert:
„Es handelt sich nicht darum, unser Land in einem großen technokratischen Ensemble ohne
Seele aufzulösen. Ein solches großes Ensemble, das weder unsere Geschichte, unsere Werte,
unsere Sprache noch unsere Kultur respektierte, wäre ohne nachhaltige Zukunft und die Franzosen würden ihm keinesfalls beitreten“ (2666).
Warum spricht ein Gaullist wie Accoyer zwar von Geschichte, Werten, Sprache
und Kultur, nicht aber von der noch in Maastricht hochgehaltenen Dreiheit Nation,
Staat und Republik? „Défaire la France“ wird hier nicht mehr mit „défaire l’Etat“
gleichgesetzt. Das Land („pays“) soll erhalten werden, nicht unbedingt der Staat
(„Etat“).
Gleichermaßen findet sich das Wort „Staat“ in Jacques Chiracs Fernsehansprache
vom 26. Mai 2005 nur ein einziges Mal, wenn er die EVV-Bestimmung anführt,
nach der jeder Staat über seinen öffentlichen Dienst frei entscheiden könne (Chirac
2005a: 1). Hingegen spricht der Staatspräsident von „25 souveränen, befreundeten
und vereinten Nationen (vingt-cinq nations souveraines, amies, unies)“ (Chirac
2005b: 2) und wirft die von ihm freilich bejahte Frage auf, ob der Verfassungsvertrag „unser Land“ stärker mache und „die Nationen“ respektiere (Chirac 2005a: 1).
Offensichtlich geht es bei der Gestaltung der europäischen Integration also nicht
mehr um die Souveränität des Staates, sondern um den Einfluss des Landes und den
Respekt der Nation. Wie sehr die Nation den Staat als zentralen Baustein der franzö-
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Ist Frankreich Motor oder Bremse der europäischen Einigung? Die vorliegende Studie arbeitet anhand dreier Vertragsverhandlungen (Fouchet-Pläne, Vertrag von Maastricht, Europäische Verfassung) die französische Position zur politischen Integration Europas systematisch heraus. Über eine Analyse des Diskurses der politischen Elite werden die Vorstellungen von der Identität Frankreichs ermittelt, die den Entwicklungslinien und Widersprüchen der französischen Europapolitik zugrunde liegen. Heute dominiert eine Identitätskonzeption, bei der die Nation vom Staat entkoppelt und zugleich mit einem unvermindert französischen Universalismus ausgestattet ist. Daraus werden Prognosen abgeleitet und anhand der Europapolitik Sarkozys überprüft.