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französische Delegation in der Fouchet-Kommission den Bemühungen der anderen
EWG-Staaten, möglichst viele supranationale Elemente einzubringen. Die französische Regierung sprach sich dabei insbesondere gegen eine zu große Nähe zur EWG
aus (Soutou 1992: 48 f.). Ein Vergleich der unterschiedlichen Vorschläge im Abschlussentwurf (Fouchet 1962) bringt die Differenzen offen zu Tage. Während die
Franzosen mit dem Vertrag eine „Staatenunion“ gründen wollen, plädieren die anderen Delegationen für eine „Union europäischer Staaten und Völker“ (Artikel 1). Als
Institutionen nennt der französische Vorschlag den Rat, die Ministerausschüsse, die
Politische Kommission und das Europäische Parlament (Artikel 5), wobei ausschließlich der Rat, der in jedem Fall einstimmig entscheiden solle, über Entscheidungskompetenzen verfügt (Artikel 7). Das Initiativrecht beschränkt sich dabei auf
die Mitgliedstaaten.
Diesem klassischen intergouvernementalen Design setzen ‚die Fünf‘ die Einführung eines unabhängigen, ausdrücklich nicht weisungsgebundenen Generalsekretärs
mit eigenem Mitarbeiterstab und Initiativrecht im Rat entgegen (Artikel 11). Außerdem wird in diesem Vorschlag die Anhörungspflicht des Europäischen Parlaments
gestärkt und mit dem Europäischen Gerichtshof ein weiteres supranationales Organ
in den Rang einer Institution erhoben (Artikel 5). In Bezug auf die Entscheidungsverfahren ist im „Vorschlag der Fünf“ der Übergang zu Mehrheitsentscheidungen
vorgesehen: „Der Rat kann bei bestimmten Fragen durch einstimmigen Beschluss
von dem Grundsatz der Einstimmigkeit abweichen“ (Artikel 7). Noch deutlicher
heißt es in der Revisionsklausel, dass der Vertrag in drei Jahren einer Revision unterworfen werden solle, die neben einer engeren Beteiligung des Parlaments insbesondere „die allmähliche Einführung des Mehrheitsprinzips bei der Beschlussfassung des Rates“ zum Ziel habe (Artikel 20). Der französische Vorschlag spricht
diesbezüglich hingegen lediglich von „Maßnahmen, die geeignet sind [...], die verschiedenen Modalitäten der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zu vereinfachen, zu rationalisieren und zu koordinieren“ (Artikel 16).
Mit Blick auf die in Kapitel 1.2 formulierten Kriterien ist sowohl bezüglich der
institutionellen Struktur (Einstimmigkeit und Stärkung der intergouvernementalen
Organe) als auch in der symbolischen Dimension („Staatenunion“) die französische
Position als strikt intergouvernemental zu bezeichnen.
2.2.2 Der Vertrag von Maastricht (1990-1992)
Angesichts der 30 Jahre und der epochalen Wende von 1989, die zwischen den beiden Verhandlungsprozessen liegen, weist die französische Position während der
Maastricht-Verhandlungen eine bemerkenswerte Parallelität zu den Fouchet-Plänen
auf: „The establishment of a confederation; the preservation of sovereignty; the
containment of Germany: the pillars of French foreign policy were not different
from those that had been defined by de Gaulle“ (Martial 1992: 116 f.). Wie oben
gezeigt, setzt Frankreich den Weg zu einem politischen Europa engagiert fort, insistiert aber gleichzeitig auf seiner Position, dass dieses politische Europa nach intergouvernementalen Prinzipien zu funktionieren habe.
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Deutlichster Indikator hierfür ist die Pfeiler- oder Säulenstruktur (auch “Tempelmodell“ genannt), die auf einer Idee Frankreichs beruht (Martial 1992: 124). Dadurch sollten die zweite Säule (GASP) und dritte Säule (Zusammenarbeit in der
Innen- und Justizpolitik) von der ersten Säule mit ihren supranationalen Entscheidungsstrukturen („Gemeinschaftsmethode“) klar getrennt werden. Nach Auskunft
von Pierre de Boisseau, Mitterrands persönlichem Vertreter in den Verhandlungen,
konnten die neuen Kompetenzen der EU somit „unter der Fuchtel der Mitgliedstaaten“ verbleiben (Jabko 2005: 227). Neben den institutionellen Auswirkungen hat
eine klare Abgrenzung der politischen von der wirtschaftlichen Integration, die seit
jeher von den supranationalen Organen Kommission und Gerichtshof dominiert ist,
auch eine symbolische Bedeutung. In diesem Sinne begründete der damalige Au-
ßenminister Roland Dumas die Abhaltung zweier verschiedener Regierungskonferenzen über die Wirtschafts- und Währungsunion einerseits und über die Politische
Union andererseits mit dem Ziel, jegliche „Vermischung oder das Risiko einer
Überschneidung zu vermeiden“ (Decaux 1992: 106). Während des gesamten Verhandlungsprozesses machte sich Frankreich zum Wortführer der diese Pfeilerstruktur befürwortenden Länder, die sich letztlich gegen die vor allem von Deutschland
und der niederländischen Ratspräsidentschaft offensiv vertretene integrierte Struktur
durchsetzten konnten (Mazzucelli 1997: 147-150). Damit steht die französische
Maastricht-Position in konstanter Linie zu den Fouchet-Plänen. Die dort zu gründende politische Union sollte ebenfalls von der EWG unabhängig sein und Frankreich hatte sich gegen jeglichen Bezug auf die bestehenden, eher supranationalen
Gemeinschaften bis zuletzt gewehrt. Als ein weiteres Kennzeichen für die strikt
intergouvernementale Position Frankreichs wird sein Eintreten für eine Stärkung des
Europäischen Rates erachtet (siehe Woyke 2000: 43; Mazzucelli 1997: 155).
So werden in der deutsch-französischen Initiative vom 6. Dezember 1990 ausschließlich der Europäische Rat und der Rat der Außenminister als entscheidungsbefugte Organe in der GASP genannt. Selbst wenn dort ein künftiger Übergang zu
Mehrheitsabstimmungen in bestimmten Fällen in Aussicht gestellt wird, bleibt das
Mantra des Intergouvernementalismus bestehen: „Die Entscheidungen sollen grundsätzlich einstimmig getroffen werden“ (Kohl/Mitterrand 1990b: 213). Auch wenn
die französischen Delegation in puncto Mehrheitsabstimmungen zeitweise Kompromissbereitschaft angedeutet zu haben scheint (Mazzucelli 1997: 151), ist mit
Françoise de la Serre festzuhalten, dass Frankreich bezüglich des Entscheidungsprozesses nicht über die Regelungen der Einheitlichen Europäischen Akte hinausgehen
wollte und „im Großen und Ganzen eine verstärkte Politische Zusammenarbeit verteidigt hat“ (De la Serre 1996: 33). Das Resümee von Collete Mazzucelli, die insbesondere über Interviews mit französischen Diplomaten Frankreichs Verhandlungsführung rekonstruierte, ist zutreffend: „The French negotiationg position emphasised
no transfer of sovereignty on CFSP. It was to be intergouvernemental in nature. […]
French proposals on CFSP did resemble the Fouchet Plans of the 1960s” (Mazzucelli 1997: 159).
Die französische Position konnte sich im Vertrag von Maastricht schließlich
durchsetzten, selbst wenn dort vorgesehen ist, dass im Rat bestimmte Ausführungsbestimmungen der GASP mit qualifizierter Mehrheit entschieden werden können,
was aber nur nach einstimmigem Beschluss des Europäischen Rates möglich ist.
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Zudem sind die konkreten Bestimmungen derart kompliziert (der französische
Rechtsprofessor Emmanuel Decaux bezeichnet den GASP-Teil des Vertrages deswegen als „auberge espagnole“; Decaux 1992: 130 f.), dass in der Praxis Entscheidungen nur im Konsens getroffen werden konnten. Auch nach Ansicht Stanley
Hoffmanns blieb die in Maastricht beschlossene Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik „essentially intergouvernemental“ (Hoffmann 2000b: 193).
2.2.3 Der Europäische Verfassungsvertrag (2002-2004)
Die Positionierung Frankreichs in den Verhandlungen zum Verfassungsvertrag wird
in der Literatur unterschiedlich beurteilt. Vor allem nach Ansicht sehr integrationsfreundlicher Europaforscher wie Renaud Dehousse, der die Verfassung insgesamt
für ‚antiföderale Augenwischerei’ hält („une constitution en trompe l’œil“; Dehousse 2005b: 78), hat Frankreich an seinem traditionellen Intergouvernementalismus
festgehalten (Dehousse 2005a: 116 f.). Jabko hingegen bemerkt mit Blick auf das
Ende der Stimmenparität mit Deutschland im Rat, die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen, die Stärkung des Europäischen Parlamentes und die Abschaffung
der Pfeilerstruktur einen „substantial change“ der französischen Position und stellt
sich die Frage, „why French positions evolved so fundamentally over the period
from the Maastricht Treaty in the 1992 to the Constitutional Treaty in 2004” (Jabko
2004: 282 f.). In diesem Sinne resümiert auch Müller-Brandeck-Bocquet mit Blick
auf die Einführung eines EU-Außenministers und der Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen, dass Chirac „klar von jahrzehntelang verfochtenen französischen
Positionen abgewichen [ist]“ (Müller-Brandeck-Bocquet 2004: 266) und diagnostiziert einen „wahrlich revolutionären Politikwechsel“ (Müller-Brandeck-Bocquet
2007: 14). Dieser Beobachtung, dass sich die Position Frankreichs in Richtung Supranationalität entwickelt, ist zuzustimmen, selbst wenn einige seiner Verhandlungspositionen im Verfassungskonvent wie sein Eintreten für eine Stärkung des
Europäischen Rates sowie für die Einführung eines festen EU-Präsidenten weiterhin
als intergouvernemental interpretiert werden können (siehe Dehousse 2005a: 117;
Joop/Matl 2003: 106). Allerdings mögen hierfür auch andere Motive, wie die Effizienzsteigerung, die Verbesserung der Außenvertretung und vor allem die Personalisierung der EU, eine Rolle gespielt haben. Zwar wurde der Vorschlag Chiracs, das
bisherige Rotationsprinzip durch die Wahl eines Europäischen Präsidenten zu ersetzten, anfangs vom spanischen Ministerpräsidenten Aznar und dem britischen Premierminister Blair unterstützt („ABC-Vorschlag“), im Zuge der Konventsverhandlungen nahm Frankreich aber schnell eine Mittelposition ein: Die gemeinsame
Haltung der deutschen und der französischen Regierung befand sich zwischen den
sehr gemeinschaftsorientierten Vorstellungen der Benelux-Staaten und den strikt
intergouvernementalen Positionen Großbritanniens und Spaniens (Joop/Matl 2003:
106). Tatsächlich belegt die Analyse des Vorschlags von Chirac und Schröder vom
15. Januar 2003 ein Ende des Beharrens Frankreichs auf einer intergouvernementalen Struktur für das politische Europa:
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Ist Frankreich Motor oder Bremse der europäischen Einigung? Die vorliegende Studie arbeitet anhand dreier Vertragsverhandlungen (Fouchet-Pläne, Vertrag von Maastricht, Europäische Verfassung) die französische Position zur politischen Integration Europas systematisch heraus. Über eine Analyse des Diskurses der politischen Elite werden die Vorstellungen von der Identität Frankreichs ermittelt, die den Entwicklungslinien und Widersprüchen der französischen Europapolitik zugrunde liegen. Heute dominiert eine Identitätskonzeption, bei der die Nation vom Staat entkoppelt und zugleich mit einem unvermindert französischen Universalismus ausgestattet ist. Daraus werden Prognosen abgeleitet und anhand der Europapolitik Sarkozys überprüft.