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2. Verhaltensanalyse: Die Entwicklung der französischen Position
Um einen möglichst systematischen Vergleich der drei Fälle zu ermöglichen, hält
sich die Verhaltensanalyse strikt an das oben entwickelte Kategorienschema. In
Kapitel 2.1 wird die französische Position hinsichtlich der Kategorie „Allgemeine
Haltung zur Konstruktion eines politischen Europas“ und in Kapitel 2.2 hinsichtlich
der Kategorie „Befürwortete Integrationsform für ein politisches Europa“ erfasst.
Anschließend sind die Ergebnisse zusammenzuführen und die daraus resultierenden
‚Rätsel‘ darzustellen (Kapitel 2.3). Die Ermittlung der französischen Position in den
zu untersuchenden europäischen Verhandlungsprozessen stützt sich neben der Einbeziehung von Fachliteratur insbesondere auf die Analyse von Primärquellen. Die
Quellenauswahl konzentriert sich dabei auf die offiziellen Initiativen und Vertragsentwürfe, die von der französischen Regierung in die Verhandlungen eingebracht
worden sind.
2.1 Kontinuität im Streben nach einem politischen Europa
Hinsichtlich der ersten Kategorie zeigt sich in allen drei Fallstudien ein engagiertes
Eintreten Frankreichs für Fortschritte in der politischen Integration. Frankreich hat
in den Vertragsverhandlungen auf europäischer Ebene nicht nur die Position eines
Befürworters, sondern auch eines Initiators eingenommen. Dieser Befund steht im
Einklang mit einem Großteil der Literatur, in der das Streben nach einem politischen
Europa mit einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik als traditionelle
Grundlinie französischer Außenpolitik angesehen wird.7
2.1.1 Die Fouchet-Pläne (1960-1962)
Kern und erklärtes Ziel der Fouchet-Pläne, die gerade in Frankreich bezeichnenderweise oft auch als „projet d’union politique“ firmieren, war die politische Integration. In der Bonner Erklärung, auf deren Grundlage der Fouchet-Ausschuss eingerichtet wurde, beschlossen die sechs EWG-Staaten, „dem Willen zur politischen
7 Siehe Kaim (2008: 272), Dulphy und Manigand (2006: 206), Kramer (2006: 134 f.), Bossuat
(2005: 213 ff.), Charillon (2004: 86 ff). Müller-Brandeck-Boquet (2004: 203), Blunden (2000:
19), Hoffmann (2000a: 316 f.), Woyke (2000: 16) und Jung (1997: 144). Davon abweichend
siehe Stahl, für den Frankreich erst mit dem 1997 unterzeichneten Vertrag von Amsterdam zu
einem „promoter“ der GASP geworden ist (Stahl 2006: 98), sowie Wagner, nach dessen Ansicht
„von der ursprünglichen Initiative zur EPZ-Gründung abgesehen, die französische Politik bis
zum Ende des Ost-West-Konfliktes als Status-quo orientiert, seitdem als an einer GASP Stärkung interessiert bezeichnet werden [kann]“ (Wagner 2004: 96 f.).
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Einigung, der schon in den Verträgen zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften erhalten ist, Form und Gestalt zu geben“ (Bonner Erklärung 1961). Schon der im
abschließenden Vertragsentwurf des Ausschusses festgelegte Name „Europäische
Union“ (Artikel 1), der im Gegensatz zur bloßen „Wirtschaftsgemeinschaft“ steht,
schlägt eine begriffliche Brücke zur politischen Union bzw. zum politischen Europa
(Fouchet 1962). Die Ausstattung mit einer eigenen Rechtspersönlichkeit (Artikel 4)
stärkt die geplante Organisation in ihrer Rolle als internationalen Akteur. Ein Vergleich des französischen Vorschlags mit dem „Vorschlag der Fünf“ offenbart, dass
Frankreich das Projekt eines politischen Europas am konsequentesten verwirklicht
sehen wollte. So bestimmt Artikel 2 des französischen Vorschlags als Ziel der Union, „die Politik der Mitgliedstaaten auf den Gebieten von gemeinsamem Interesse
anzunähern, zu koordinieren und zu vereinheitlichen: Außenpolitik, Wirtschaft,
Kultur und Verteidigung“. Im Vertragsentwurf der anderen EWG-Staaten ist hingegen nur von der „Annahme einer gemeinsamen Verteidigungspolitik im Rahmen des
Atlantikpaktes [alternativ: zur Stärkung des Atlantikpaktes]“ als eines der Hauptziele die Rede. Der Bereich Außenpolitik taucht dort gar nicht mehr auf. Nicht zuletzt
spiegelt die französische Weigerung, eine Referenz an die Nato aufzunehmen, das
Streben nach einer wirklich unabhängigen europäischen politischen Kraft wider.
Es ist nicht nur die sich von nun an in fortdauernder europapolitischer Obstruktion äußernde herbe Enttäuschung auf französischer Seite über das Scheitern der Fouchet-Pläne, welche die hohe Priorität Frankreichs für die Konstruktion einer politischen Union verdeutlicht. Es handelte sich dabei um eine originäre Initiative
Frankreichs, die der Historikerin Kramer zufolge die anderen Mitgliedstaaten sehr
unvorbereitet getroffen hat (Kramer 2003: 47 f.). Doch schon 1959 hatte de Gaulle
den anderen EWG-Staaten die Errichtung eines ständigen Sekretariats in Paris zur
außenpolitischen Koordinierung vorgeschlagen. Auch wenn diese Idee versandete,
warb de Gaulle im Sommer 1960 hartnäckig für das Projekt einer politischen Union
Westeuropas (Haftendorn 2001: 73). Im Februar 1961 lud er die westeuropäischen
Partner zu einem Gipfel nach Paris ein und auf einem zweiten Gipfel in Bonn gelang
es ihm schließlich, seine Vorstellungen von der Notwendigkeit einer politischen
Zusammenarbeit durchzusetzen. Der dort eingesetzte Studienausschuss wurde mit
Christian Fouchet von einem französischen Gaullisten geleitet. Sicher hat de Gaulle
durch seine Änderung des ursprünglichen Plans eine Kompromisslösung erschwert,
doch in den sich anschließenden Verhandlungen bot er wieder Zugeständnisse an. Es
waren vor allem Niederländer und Belgier, die mit Blick auf eine mögliche Beteiligung Großbritanniens, das zwischenzeitlich einen Antrag auf EWG-Mitgliedschaft
gestellt hatte, eine Realisierung verzögerten. Dass es diese Staaten waren, die das
ambitionierte Projekt zu Fall brachten, wird vor allem in der französischen Wissenschaft betont (siehe Bariéty 2005: 74). Aber auch Helga Haftendorn resümiert, „dass
außer Frankreich und Deutschland kein Staat an einem schnellen Zustandekommen
der politischen Union in der vorgeschlagenen Form interessiert war“ (Haftendorn
2001: 75). Hinsichtlich der Kategorie „allgemeine Haltung zur Konstruktion eines
politischen Europas“ ist Frankreich im Fall Fouchet als Initiator zu qualifizieren.
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2.1.2 Der Vertrag von Maastricht (1990-1992)
Zusammen mit Deutschland ist es wieder Frankreich, das drei Jahrzehnte später
einen erneuten Anlauf zum Aufbau eines politischen Europas unternimmt. Bereits
im Juni 1988 hatten sich die Staats- und Regierungschef der EG auf die Errichtung
einer Wirtschafts- und Währungsunion festgelegt.
Während eines Besuchs des damaligen deutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl in
Paris im Februar 1990 einigten sich Mitterrand und Kohl auf eine gemeinsame Initiative zur politischen Integration. In ihrem Brief vom 18. April 1990, der als
„Markstein für den europäischen Integrationsprozess“ (Woyke 2000: 44) gewertet
wird, schlagen sie der irischen Ratspräsidentschaft eine „Regierungskonferenz über
die Politische Union“ vor (Kohl/Mitterrand 1990a: 210). Neben der Stärkung der
demokratischen Legitimation, der institutionellen Effizienz und der Kohärenz der
Politikbereiche der Union sollten Maßnahmen getroffen werden, um „eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik festzulegen und in die Tat umzusetzen“
(Kohl/Mitterrand 1990a: 210). In einem zweiten Schreiben an die Ratspräsidentschaft präzisieren sie ihren Wunsch nach einer „starken und solidarischen Politischen Union“ (Kohl/Mitterrand 1990b: 211). Diese solle neben einer „echten gemeinsamen Außenpolitik“, die sich „auf alle Bereiche“ erstreckt, auch eine „echte
gemeinsame Sicherheitspolitik umfassen, die am Ende zu einer gemeinsamen Verteidigung führen sollte“ (Kohl/Mitterrand 1990b: 213). Auch während der Regierungskonferenz selbst besaß die Entwicklung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik höchste Priorität für die französische Delegation (Martial 1992:
122). Um dieses Ziels willen zeigte sich Frankreich in anderen Fragen, wie etwa der
Aufwertung des Europäischen Parlaments, kompromissbereit: „The main French
concern was CFSP“ (Mazzucelli 1997: 164). Dies äußerte sich in einer weiteren
deutsch-französischen Initiative am 14. Oktober 1991 vor der letzten Verhandlungsrunde des Europäischen Rates. Kohl und Mitterrand präsentierten dabei einen konkreten Vertragsentwurf für die angestrebte Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). Darin heißt es unter den „grundsätzliche[n] Ziele[n] der Union“:
„Bekräftigung ihrer Identität auf internationaler Ebene, insbesondere durch die
Durchführung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, die auf längere
Sicht eine gemeinsame Verteidigung umfasst!“ (Kohl/Mitterrand 1991: 214). Auch
wenn in der Endfassung des Vertragstextes manche Formulierung an Schärfe verloren hat, haben die nachdrücklichen deutsch-französischen Initiativen das Ergebnis
der Regierungskonferenzen in erheblichem Maße beeinflusst. Frankreich war seinem
Ziel eines politischen Europas ein Stück näher gekommen: „Mit dem Maastrichter
Vertrag wurde der Anspruch EG-Europas, eine politische Macht zu werden, unterstrichen, während der Ansatz eines reinen Wirtschaftseuropas, wie ihn die Briten
vertreten hatte, verlassen worden war“ (Woyke 2000: 49).
Die befürwortende und initiative Haltung Frankreichs zur politischen Integration
ist auch im Fall Maastricht unbestreitbar, wobei das französische Bemühen um ein
politisches Europa im Vergleich zu den Fouchet-Plänen sicher nicht zuletzt angesichts des veränderten Kräfteverhältnisses noch mehr an der Seite und in Abstimmung mit der Bundesrepublik betrieben wurde.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Ist Frankreich Motor oder Bremse der europäischen Einigung? Die vorliegende Studie arbeitet anhand dreier Vertragsverhandlungen (Fouchet-Pläne, Vertrag von Maastricht, Europäische Verfassung) die französische Position zur politischen Integration Europas systematisch heraus. Über eine Analyse des Diskurses der politischen Elite werden die Vorstellungen von der Identität Frankreichs ermittelt, die den Entwicklungslinien und Widersprüchen der französischen Europapolitik zugrunde liegen. Heute dominiert eine Identitätskonzeption, bei der die Nation vom Staat entkoppelt und zugleich mit einem unvermindert französischen Universalismus ausgestattet ist. Daraus werden Prognosen abgeleitet und anhand der Europapolitik Sarkozys überprüft.