22
1.3.3 Der Europäische Verfassungsvertrag (2002-2005)
Obwohl er sich letztlich zu einer Unterstützung des Vertrags von Maastricht durchrang, wird Jacques Chiracs „europäischer Glaube“ als „lau“ beurteilt (Bossuat 2005:
208). Berüchtigt ist sein „Appel de Cochin“ von 1978, in dem er vom Krankenbett
aus gegen das supranationale Europa wetterte und vor dem Ende Frankreichs warnte. Chirac, der häufig als „Vernunfteuropäer“ charakterisiert wird (siehe Lequesne
2007: 5), sagte von sich selbst, er sei kein „Euro-Militant“, sondern ein „Euro-
Pragmatiker“ (Chirac 2003a: 11).
Unter dem Vorsitz Chiracs wurde im Dezember 2000 auch der Vertrag von Nizza
beschlossen, der angesichts des durch die bevorstehende Osterweiterung immensen
Reformdrucks weit hinter den Erwartungen zurückblieb. Der deshalb umgehend
eingeleitete Post-Nizza-Prozess führte schließlich zum Europäischen Konvent. Mit
dieser öffentlich tagenden Versammlung, an der neben Regierungsvertretern auch
Abgeordnete des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente beteiligt
waren, sollten unterschiedliche nationale Interessen leichter in Einklang gebracht
werden als mit den klassischen intergouvernementalen Verhandlungen (Dehousse
2005a: 107). Der unter dem Vorsitz des ehemaligen französischen Staatspräsidenten
Valery Giscard d’Estaing ausgearbeitete Entwurf des Konvents für einen Verfassungsvertrag diente als Grundlage für die anschließende Regierungskonferenz.
Nachdem der Brüsseler ‚Verfassungsgipfel‘ im Dezember 2003 insbesondere am
Streit um den Abstimmungsmodus im Ministerrat gescheitert war, konnte nach
schwierigen Verhandlungen der Vertrag schließlich am 29. Oktober 2004 in Rom
unterzeichnet werden. Da sich die französische Regierung aktiv im Konvent eingebracht und die Konventsergebnisse auf den Regierungskonferenzen entsprechend
verteidigt hat, können für die Ermittlung der französischen Position die Verhandlungen im Konvent herangezogen werden.
Bereits am 14. Juli 2004 hatte Chirac angekündigt, den Vertrag einem Referendum zu unterwerfen. Während zu dieser Zeit die Umfragen eine breite Unterstützung der französischen Bevölkerung zu einer Europäischen Verfassung signalisiert
hatten, begann sich zu Jahresbeginn 2005 die Stimmung zu drehen. Wirtschaftspolitische Maßnahmen ließen die Popularität Chiracs und seiner Regierung auf Tiefstwerte sinken, die Arbeitslosenrate überstieg zum ersten Mal seit fünf Jahren wieder
die 10-Prozent-Marke. Zudem wurde die vom früheren EU-Kommissar Frits Bolkestein vorgelegte Dienstleistungsrichtlinie zum heftig kritisierten Symbol einer durch
die Europäische Union geförderten zügellosen Liberalisierung (Lieb/Roussel/Schwarzer 2006: 9). Am 29. Mai 2005 stimmten die französischen Wähler mit
55 zu 45 Prozent deutlich gegen den Verfassungsvertrag. Der Vertrag von Lissabon,
auf den sich die Staats- und Regierungschefs der EU als Ersatzlösung geeinigt hatten, wurde von Frankreich im Februar 2008 mit großen Mehrheiten auf parlamentarischem Wege und ohne erneute große europapolitische Debatte ratifiziert.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Ist Frankreich Motor oder Bremse der europäischen Einigung? Die vorliegende Studie arbeitet anhand dreier Vertragsverhandlungen (Fouchet-Pläne, Vertrag von Maastricht, Europäische Verfassung) die französische Position zur politischen Integration Europas systematisch heraus. Über eine Analyse des Diskurses der politischen Elite werden die Vorstellungen von der Identität Frankreichs ermittelt, die den Entwicklungslinien und Widersprüchen der französischen Europapolitik zugrunde liegen. Heute dominiert eine Identitätskonzeption, bei der die Nation vom Staat entkoppelt und zugleich mit einem unvermindert französischen Universalismus ausgestattet ist. Daraus werden Prognosen abgeleitet und anhand der Europapolitik Sarkozys überprüft.