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1. Einleitung
„Le peuple français a taillé dans un granit indestructible et posé au milieu même du vieux continent monarchique la première assise de cet immense édifice de l’avenir, qui s’appellera un
jour les Etats-Unis d’Europe.“ 1
Victor Hugo, Assemblée legislative, 17. Juli 1851
1.1 Untersuchungsinteresse
Victor Hugos „Vereinigte Staaten von Europa“ mögen der Traum eines Idealisten
sein. Der Ausbau der Europäischen Union zu einem auch politisch geeinten internationalen Akteur wird jedoch zur schieren Notwendigkeit, soll die Weltordnung des
21. Jahrhunderts europäisch mitgestaltet werden. Wie sehr die Entwicklung eines
nach außen handlungsfähigen Europas drängt, wurde den Europäern in der zweiten
Jahreshälfte 2008 mit dem Ausbruch des Georgienkrieges und der globalen Finanzkrise drastisch vor Augen geführt. Ein neuer Aufbruch zur politischen Einigung
könnte dem Integrationsprozess frischen Elan verleihen und aus der Selbstblockade
befreien, in die er spätestens mit dem französischen Nein zum Verfassungsvertrag
gestolpert ist. Das nahezu sprichwörtlich gewordene Diktum vom ökonomischen
Riesen und politischen Zwerg (siehe Fröhlich 2008: 11; Müller-Brandeck-Bocquet
2002: 11) darf von Europa nicht länger achselzuckend hingenommen werden, will es
seinem eigenen Selbstverständnis und den drängenden Herausforderungen unserer
Zeit gerecht werden. „Europa kann seine Sklerose nur überwinden“, mahnt Werner
Weidenfeld, „wenn es die Berufung zur Weltmacht erkennt“ (Weidenfeld 2008a: 2).
Doch das Projekt einer wirksamen politischen Einigung mit einer gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik, die ihren Namen verdient, muss ohne die zweitgrößte
Wirtschaftsmacht auf dem Kontinent mit ihrem außergewöhnlichen politischen,
diplomatischen und militärischen Gewicht Stückwerk bleiben: Ohne den Beitrag
Frankreichs, betont Dominique Moïsi, „kann Europa keinen Anspruch auf eine gewichtige Rolle innerhalb einer multipolaren Welt erheben“ (Moïsi 2007: 32). Es ist
unbestritten, dass Frankreich ein Staat ist, „ohne den die Zukunft der EU in ihrer
heutigen Form nicht zu denken ist“ (Lieb/Roussel/Schwarzer 2006: 3) und auch in
der erweiterten Union gilt „ohne oder gegen Frankreich und Deutschland geht nichts
1 „Das französische Volk hat aus unzerstörbarem Granit die erste Schicht gehauen und in die
Mitte des alten monarchischen Kontinents gesetzt; die erste Schicht dieses großartigen Gebäudes der Zukunft, das sich eines Tages die Vereinigten Staaten von Europa nennen wird.“ –
Alle Übersetzungen aus dem Französischen stammen vom Verfasser dieser Studie.
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in der EU“ (Guérot 2007: 45). Nichtsdestotrotz hat sich Frankreich in der Geschichte
der europäischen Integration durchaus als janusköpfiger und streckenweise sehr
‚sperriger’ Partner erwiesen. „Unser Land“, resümiert der Historiker und langjährige
Chefredakteur von Le Monde, André Fontaine, „hat der europäischen Einigung
ebenso oft als Bremse wie als Motor gedient“ (Fontaine 1993: 53). Bis heute wird
die Widersprüchlichkeit der französischen Europapolitik in der Literatur immer
wieder besonders akzentuiert (siehe zuletzt Kaim 2008: 275; Ménudier 2008: 135;
Stahl 2006: 22).
Es ist jedoch mehr als ihre politische Relevanz und ihre inhärente Ambivalenz,
welche die französische Europapolitik zu einem so reizvollen Gegenstand politikwissenschaftlicher Forschung werden lassen. In ihr manifestiert sich in zugespitzer
Form das klassische Dilemma europäischer Integration: Das Streben nach einem
starken Europa auf der einen und nach der Bewahrung des Nationalstaats auf der
anderen Seite. Rainer Riemenschneider legt der französischen Nationalfigur Marianne deshalb den Seufzer von Goethes Faust in den Mund: „Zwei Seelen wohnen,
ach! in meiner Brust“ (Riemenschneider 1992: 142). Am deutlichsten kommt dieses
Charakteristikum französischer Europapolitik in einem Bereich zum Tragen, der
sowohl für die Zukunft der EU als auch für die internationalen Beziehungen der
bedeutsamste und zugleich umstrittenste ist: der politischen Integration. Diese Integration im Bereich der „high politics“, die den Kern staatlicher Souveränität berührt,
soll im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung stehen.
Als Grundlage dienen drei Fallsutide aus den Jahren 1960-1962, 1990-1992 und
2002-2005. Die Entwicklungslinien der französischen Position zur politischen Integration Europas werden dabei systematisch herausgearbeitet und anschließend durch
die Anwendung eines sozialkonstruktivistisch inspirierten Theorie- und Methodenansatzes erklärt. Damit sollen die vermeintlichen Paradoxien französischer Europapolitik aufgelöst und Prognosen für ihre künftige Richtung formuliert werden. Wie
ist es möglich, dass sich das gern als „Nationalstaat par excellence“ (Ziebura 1992:
238) apostrophierte Frankreich überhaupt für die politische Integration Europas
einsetzt? Auf welchen Umstand lässt sich Frankreichs jahrzehntelanges Beharren auf
einer intergouvernementalen Struktur für ein politisches Europa zurückführen? Was
hat den Kurswechsel in den Verhandlungen zum Europäischen Verfassungsvertrag
ermöglicht, als Frankreich supranationale Elemente auch in der politischen Integration befürwortete?
Die vorliegende Studie versucht diese Fragen nach den Gründen für die Europapolitik Frankreichs mit Blick auf die kollektiven Identitätskonzeptionen und außenpolitischen Normen zu beantworten, die in der französischen politischen Klasse
dominant sind. Aus der Hypothese, dass diese ideellen Faktoren im Diskurs reproduziert werden, über den Diskurs wirken und im Diskurs sichtbar werden, ergibt
sich die zentrale Forschungsaufgabe: Welche Vorstellungen von der Identität Frankreichs dominieren den französischen politischen Elitendiskurs und wie beeinflusst
diese Identitätskonzeption und die darauf fußenden außenpolitischen Normen die
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Position zur politischen Integration Europas, die von Frankreich nach außen vertreten wird?2
Damit wird sowohl der von Konstruktivisten selbst (siehe Risse 2003: 123 f.; Adler 2002: 109 f.) als auch von ihren Kritikern (siehe Moravcsik 2001: 177 f.) erhobenen Forderung nach einer empirisch relevanten und vor allem überprüfbaren Anwendung der Annahmen des Sozialkonstruktivismus entsprochen. Für die
Beantwortung der Forschungsfrage ist ein theoretisches und methodisches Modell
zu formulieren, für das bereits bestehende Herangehensweisen der konstruktivistischen Außenpolitikforschung zu systematisieren und zu verfeinern sind. Angesichts
der methodischen Nachlässigkeit, die der konstruktivistischen und vor allem der
diskursanalytisch arbeitenden Forschung vielfach diagnostiziert wird,3 soll hier
außerdem besonderer Wert auf die Entwicklung eines nachvollziehbaren Analyserasters und auf einen transparenten Forschungsprozess gelegt werden.
Die Arbeit gliedert sich in vier Teile. In der Verhaltensanalyse wird die französische Regierungsposition bezüglich der politischen Integration in den drei Fallstudien
vergleichend beschrieben. Entwicklungslinien und empirische ‚Rätsel‘ werden identifiziert (Kapitel 2). In Kapitel 3 sind der theoretische Ansatz und das methodisches
Raster darzulegen, die im diskursanalytischen Teil der Studie (Kapitel 4 und 5)
Anwendung finden. Dort werden zwei Elemente der im französischen Elitendiskurs
dominanten Identitätskonzeption ermittelt, die für Frankreichs Haltung zur politischen Integration maßgeblich sind: „Pro-aktiver Universalismus“ und „Nationalstaatsbewusstsein“. Das erste Element übersetzt sich dabei in ein offensives Engagement für die Konstruktion eines politischen Europas, das zweite in die
Befürwortung einer strikt intergouvernementalen Struktur für die angestrebte politische Einigung. Während das Identitätselement „Pro-aktiver Universalismus“ über
alle drei Fallstudien hinweg konstant bleibt, zeigt sich in der Fallstudie zum Europäischen Verfassungsvertrag ein Wandel des Identitätselements „Nationalstaatsbewusstsein“ zu einem „Nationalbewusstsein“, wodurch eine wesentlich supranationalere Positionierung Frankreichs ermöglicht wurde. Im Schlussteil (Kapitel 6)
werden die Ergebnisse der Analyse zusammengefasst, in Prognosen übersetzt und
mit dem Forschungsstand in Beziehung gesetzt. Abschließend ist zu prüfen, inwieweit die Schlussfolgerungen aus dieser Studie auf Frankreichs Europapolitik seit
dem Amtsantritt von Staatspräsident Nicolas Sarkozy zutreffen, der einen „Bruch“
(„rupture“) auch in der Außenpolitik angekündigt hatte.
Bevor nun die Position Frankreichs zur politischen Integration für alle drei Fallstudien herausgearbeitet wird, gilt es den Untersuchungsgegenstand näher zu defi-
2 Wie in Kapitel 3.3 ausführlicher erläutert wird, ist hier mit „Diskurs“ das Feld sprachlicher
und symbolischer Interaktion gemeint, auf dem sich die französische politische Elite über
Frankreichs Europapolitik verständigt. Damit wird hier keine Diskursanalyse im Sinne Michel Foucaults durchgeführt, selbst wenn im Theoriedesign dieser Studie zur Veranschaulichung diskursiver Wirkungsmechanismen auf dessen Ideen zurückgegriffen wird.
3 Siehe Ulbert (2005: 27), Torfing (2005: 25), Wagner (2004: 198), Hülsse (2003b: 216 f.),
Adler (2002: 109) und Miliken (1999: 226). In den letzten Jahren scheint sich das Methodenbewusstsein allerdings zu erhöhen.
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nieren und Kategorien für seine Analyse zu entwickeln. Außerdem werden die Fälle
kurz vorgestellt und ihre Auswahl begründet.
1.2 Die Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes
Der Untersuchungsgegenstand der Studie ist die Position Frankreichs zur politischen
Integration Europas. Die Entwicklung dieser Position soll untersucht und erklärt
werden, wobei die Analyse beim Beginn der V. Republik im Jahre 1958 ansetzt, der
auch in der Außenpolitik als Zäsur empfunden wird (siehe Stahl 2006: 23). Der
Bestimmung von Außenpolitik als „attempts by governments to influence or manage
events outside the state’s boundaries“ (Manners/Withman 2000: 2) folgend, ist hier
mit „Position Frankreichs“ ausschließlich die von der französischen Regierung auf
europäischer Ebene nach außen vertretene Position gemeint. Eine solche, sich auf
Regierungsverhalten beschränkende Definition hat den Vorteil, den Untersuchungsgegenstand klar einzuschränken, birgt aber die Gefahr, den Einfluss nicht-staatlicher
bzw. nicht-gouvernementaler Akteure eines Landes zu unterschätzen. Gerade die
Entscheidungsfindung in Brüssel ist längst zu einem „Multiebenen-, Multiagenten-,
und Multithemenunternehmen“ geworden (Pfetsch 1997: 121). So bedeutend die
privaten Lobbyverbände oder regionalen Vertretungen in manchen Domänen allerdings sein mögen, im Bereich der politischen Integration sind die Regierungen der
Mitgliedstaaten unangefochten die maßgeblichen Spieler und Kompetenzträger.
Der Begriff der Integration findet sowohl in der Politik als auch in der Literatur
sehr unterschiedliche Verwendung (siehe Bieling/Lerch 2006: 13). In dieser Studie
wird Integration allgemein als „die friedliche und freiwillige Annäherung bzw. Zusammenführung von Gesellschaften, Staaten und Volkswirtschaften über bislang
bestehende Grenzen hinweg“ verstanden (Weidenfeld/Wessels 2007: 285), ohne
dabei schon eine Aussage über die Form der Integration, also über Souveränitätstransfers und die Entscheidungsstrukturen auf der integrierten Ebene, zu treffen.
Somit wird hier ausdrücklich nicht der gerade in der deutschen Europaforschung
immer wieder anzutreffenden Verbindung von Integration und Supranationalität
(siehe Mickel und Bergmann 2005: 445; Sauder 1995: 82), sondern dem in den
internationalen Beziehungen verbreiteten Begriffsverständnis gefolgt, wo unter der
Bezeichnung „(regionale) Integration“ auch strikt intergouvernementale Zusammenschlüsse wie die Nato gefasst werden (siehe Griffiths 2005: 410 f.). Aber auch Europa-Historiker wie Gabriele Clemens, Alexander Reinfeld und Gerhard Wille betonen zu Recht, dass der Integrationsbegriff an sich eine Festlegung auf ein
bestimmtes Einigungsziel oder eine bestimmte Integrationsform vermeidet (Clemens, Reinfeld und Wille 2008: 23, 251, 260).4
Betrachten wir die verschiedenen Politikfelder, auf denen Integrationsprozesse
stattfinden können, bietet sich eine prinzipielle Unterscheidung in wirtschaftliche
4 „Integration“ wird hier als wissenschaftliche Analysekategorie konzeptionalisiert. Dessen
ungeachtet ist im politischen Diskurs mit der Formulierung „integriertes Europa“ bzw. „Europe integrée“ oftmals ein supranational organisiertes Europa gemeint.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Ist Frankreich Motor oder Bremse der europäischen Einigung? Die vorliegende Studie arbeitet anhand dreier Vertragsverhandlungen (Fouchet-Pläne, Vertrag von Maastricht, Europäische Verfassung) die französische Position zur politischen Integration Europas systematisch heraus. Über eine Analyse des Diskurses der politischen Elite werden die Vorstellungen von der Identität Frankreichs ermittelt, die den Entwicklungslinien und Widersprüchen der französischen Europapolitik zugrunde liegen. Heute dominiert eine Identitätskonzeption, bei der die Nation vom Staat entkoppelt und zugleich mit einem unvermindert französischen Universalismus ausgestattet ist. Daraus werden Prognosen abgeleitet und anhand der Europapolitik Sarkozys überprüft.