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12.2.2 Braucht die Demokratie die Religion?
Gerade in eher konservativen Kreisen gilt, dass religiöse Werte das Fundament eines
friedlichen, solidarischen, demokratischen Zusammenlebens bilden. Gleichzeitig
unterminiere der Alltag der freien, kapitalistischen, leistungsorientierten Gesellschaftsordnung mit ihrer „selbstbezogenen Orientierung an je eigenen Präferenzen“
(Haus 2003: 54-55) die Standfestigkeit des christlichen Fundaments. Damit zerstörten Demokratie und Kapitalismus die Grundlagen ihres eigenen Überlebens. Dieser
Gedankengang ist als „Böckenförde-Paradoxon“ in die Debatte um das Verhältnis
von Religion und Demokratie eingegangen. Religion setzt Marktmechanismen außer
Kraft, knüpft das soziale Band und wird so zum einzigen verlässlichen Garant staatlicher und gesellschaftlicher Integration (z.B. Böckenförde 1991; Burmeister 1999;
Kaufmann 1999, Magen 2004; Hafner 1995).
An einer solchen Sichtweise lässt sich einiges kritisieren. Zunächst setzt sie die
Existenz friedlicher, toleranter, mit der Demokratie vereinbarer Religionen voraus.
Dies ist historisch in gewisser Weise naiv. Über die Jahrhunderte war die Religion
eine Quelle der Zwietracht, kriegerischer Auseinandersetzung und Ursache der Desintegration europäischer Gemeinschaften. Bis in die 1960er Jahre hinein war zumindest die katholische Kirche dezidiert anti-aufklärerisch, anti-modern und ein erklärter Feind freiheitlich-demokratischer Systeme (wenn nicht sogar expliziter Bündnispartner faschistischer Staaten). Religionen, die im modernen, säkularen Staat ihren
Hauptgegner erkennen, können unmöglich das Fundament freiheitlichdemokratischer Systeme bilden. Waren sie doch nicht einmal bereit – das Italien des
späten 19. Jahrhunderts ist hier das Paradebeispiel – den Gläubigen die passive Teilnahme an demokratischen Wahlen zu gestatten. Die Rolle des europäischen Katholizismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts als Gegenspieler der säkularen Moderne
hat in vielen Teilen der Welt der Islam übernommen, der, so vehement wie einst die
katholische Kirche, gegen die Durchsetzung liberaler, aufgeklärter Prinzipien mobilisiert. Die Vorstellung religiöser Werte als unabdingbare Basis demokratischen
Zusammenlebens beruht somit auf der Vorstellung einer gezähmten, die Moderne
akzeptierenden und sich demokratischen Regeln in gewisser Weise unterordnenden
Religion – wie es im (katholischen) Europa erst seit wenigen Jahrzehnten der Fall
ist. Diese gezähmte Religion ist aber, und da mögen Böckenförde und seine Mitstreiter recht haben, ständig in Gefahr, im Alltagsgeschäft demokratischer Entscheidungsfindung, Kompromissformulierung und marktwirtschaftlichen Nutzenkalküls
aufgerieben zu werden, da sie nicht länger (erfolgreich) mit Rekurs auf letzte, höchste Wahrheiten kraftvolle Gegenvisionen entwerfen kann.
Welche Leistungen erbringt also der religiöse Sektor, die ihn aus demokratischer
und zivilgesellschaftlicher Perspektive wertvoll machen? Leistungen, die womöglich
die breite Palette säkularer Angebote nicht oder nur in geringem Umfang erbringen?
Diese Arbeit hat mehrere Felder gezeigt, auf denen religiöse Organisationen Spitzenleistungen erbringen. Manche beschränken sich auf spezifische Konfessionen
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und lassen sich, wie die außergewöhnliche inter-organisatorische Vernetzung der
katholischen Vereine, auf historische Muster der Subkultur- oder Milieuformation
zurückführen. Andere dagegen gelten gleichermaßen für alle konfessionellen Varianten und unterscheiden den religiösen Sektor grundsätzlich vom säkularen Sektor:
gruppeninterne Mobilisierung, Rekrutierung und Mobilisierung von Ehrenamtlichen,
die Integration von Menschen mit unterschiedlichen Interessen und Vorlieben in
einem Verein. Hier sind quasi ausnahmslos alle Vereine religiöser Couleur dem
säkularen Verein weit überlegen und zwar ganz unabhängig davon, ob sie klein oder
groß, professionell oder laienhaft, institutionalisiert oder informell, reich oder arm
sind. Der religiöse Vorteil ist markant. Eine demokratische Zivilgesellschaft ohne
religiösen Arm wäre somit um einiges ärmer: ärmer an thematischer Vernetzung und
vor allem ärmer an Ehrenamtlichen. Gerade letzteres ist ein unglaublicher Nachteil
in einer Zeit leerer öffentlicher Kassen – einer Zeit, in der fast überall intensiv darüber nachgedacht wird, wie man staatliche Leistungen vermehrt der Privatwelt und
hier natürlich einem Heer an Ehrenamtlichen – überlassen könne. Diese „Privatarmee“ ist zu guten Teilen religiös rekrutiert und motiviert. Religiöse Organisationen
erweisen sich somit tatsächlich als Schule pro-sozialer Orientierungen, die den Einsatz für Schwächere und Bedürftige zu ihrem Anliegen machen und eine Kultur der
„benevolence“, wie dies Wilson und Musick (1997) genannt haben, fördern: „This is
an army of people whose activities touch the most vulnerable groups in [...] society;
without it the common good would, quite clearly, be diminished“ (Davie 2000: 55).
Aber ist das wirklich so selbstverständlich wie Davie meint? In der dänischen
Stadt Aalborg gibt es kaum religiöse Vereine, das lutherische Segment ist in der
Vielfalt säkularer Optionen völlig marginalisiert. Auch andere Indikatoren verweisen auf die randständige Bedeutung des Religiösen in der dänischen Demokratie und
Zivilgesellschaft: wenig Partizipation innerhalb religiöser Organisationen, geringste
Kirchgangshäufigkeiten. Dennoch kommt Aalborg dem Idealfall gesunder, vitaler
Zivilgesellschaften, in die große Teile der Einwohnerschaft aktiv integriert werden
und in der viele Brücken unterschiedlichster Natur gebaut werden, am nächsten –
und das trotz eines beinahe vollständigen Ausfalls des religiösen Sektors. Auch
Studien auf der Basis von Individualdaten bestätigen Dänemarks Ausnahmestellung:
höchste Vertrauenswerte, höchste Raten an Mitgliedschaften und sozialer und politischer Partizipation (z.B. Gabriel et al. 2002; van Deth et al. 2007; Roßteutscher
2005b). Von einer schwächelnden Demokratie, einer Demokratie, deren Fundament
angekratzt ist, kann somit kaum die Rede sein. Es geht also auch ohne Religion? Das
ist eine schwierige Frage. Autoren wie Inglehart würden argumentieren, dass lutherische Wertvorstellungen Teil der nationalen Identität und politischen Kultur Dänemarks geworden sind, und sich säkulare und religiöse Konzeptionen nicht mehr
voneinander unterscheiden lassen (Inglehart 1999: 96). Das Religiöse ist somit in
den allgemeinen Fundus dänischer Werte und Normen eingeflossen, und wird von
Generation zu Generation im normalen Sozialisationsprozess weitergegeben. Allerdings sind noch immer zwei Drittel aller Dänen Mitglied der lutherischen Staatskirche. Aber kann das reichen? Inglehart würde dem zustimmen: die Werte sind so fest
verankert, dass nachwachsende Generationen geradezu natürlich wiederum „christlich“ sozialisiert werden, ohne vielleicht zu merken oder zu wissen, dass ihre Wert-
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vorstellungen ursprünglich religiös geprägt waren. Dann ist das explizit Religiöse in
der Tat obsolet und die christliche Mobilisierung kann den Splittergruppen überlassen werden. Dänemark würde sich nicht ändern, wenn keine einzige religiöse Vereinigung übrig bliebe. Andere würden eher meinen, dass die Verbindung mit dem
säkularen mainstream zur Verwässerung und Entstellung der ursprünglichen religiösen Botschaft führe und somit die religiösen Wurzeln allmählich absterben (z.B.
Kelley 1986; Iannaccone 1994; Sengers 2004). Religiöse Werte benötigen ihre immerwährende Bestätigung in der Interaktion gleichgesinnter Personen, sonst
schwindet der Referenzrahmen oder – nach Berger – die Plausibilitätsstrukturen
tragen nicht mehr.
Aus den Organisationsdaten lässt sich keine zwingende Beziehung zwischen der
Vitalität religiöser Strukturen und der Lebendigkeit der Zivilgesellschaft an sich
ablesen. Aalborg ist ein Extrembeispiel einer hochgradig dichten, dynamischen und
partizipativen Zivilgesellschaft, die fast völlig ohne das religiöse Element auskommt. Mannheims Zivilgesellschaft ist ebenso dicht und dynamisch, dabei nimmt
der religiöse Sektor einen für europäische Verhältnisse enormen Raum ein. Sabadell
und Chemnitz haben, gemessen an Aalborg, Enschede oder den Schweizer Städten,
eine relativ hohe religiöse Durchdringung der lokalen Vereinswelt, aber eine in fast
jeder Hinsicht defizitäre Zivilgesellschaft mit wenigen Vereinen, wenigen Aktiven
und geringen Niveaus an Sozialkapital. Vielleicht brauchen Demokratie und Zivilgesellschaft die Religion tatsächlich nicht (mehr). Manches Ergebnis dieser Studie
könnte so interpretiert werden. Die Religion ist aber – in unterschiedlicher Weise
und in vielleicht auch unterschiedlicher Tiefe – mit der europäischen Geschichte
verknüpft. Sie ist ein Teil unseres zivilgesellschaftlichen Alltags, unserer wohlfahrtsstaatlichen Aktivitäten, unseres Wertekanons, unser Überzeugungen und
Handlungsstrategien. Oder wie Gill meint:
„[...], given the degree to which religious beliefs and organizations are deeply ingrained in almost every nation, ignoring religion means overlooking a potentially important variable in explaining politics“ (Gill 2001: 118).
Die Diskussion um die Rolle von Religion und Demokratie in der zeitgenössischen
Debatte zeigt so manche bizarre Züge. So wird einerseits über die Auflösung christlicher Fundamente und fortschreitende Säkularisierung lamentiert und dies mit der
Schwächung westlicher Demokratien in Bezug gesetzt. Im selben Atemzug wird vor
einer Re-Fundamentalisierung und Re-Militarisierung religiöser Vorstellungen in
der islamischen Welt, aber auch in den USA – Stichwort „religiöse Rechte“ – gewarnt. Auch hier ist der Bezug zur Demokratie schnell gezogen, gelten doch solche
fundamentalistische Bestrebungen, welche die Errichtung eines Gottesstaates als
Endziel anvisieren, als der Totengräber jeder rational, aufgeklärten, toleranten und
kompromissbereiten Handlungsoption. Die eine – gezähmte (christliche, westliche)
– Religion verliert an Boden, die andere – ungezähmte (islamische, nicht-westliche)
– Religion dagegen feiert unzählige Mobilisierungserfolge. Beides gilt der Zukunft
der Demokratie als abträglich. In diesen Diskussionen spiegeln sich viele Gegensätze wider, die in dieser Arbeit auch angesichts der vor allem christlichen-westlichen
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(mehrheitlich „gezähmten“) religiösen Organisationen immer wieder thematisiert
wurden: bridging oder bonding, Integration oder Isolation, Offenheit oder Cliquenbildung, Engagement für andere oder Engagement für die eigene Gruppe? Solche
Grundsatzentscheidungen sind im Prinzip wesentlicher Bestandteil der Entwicklung
aller Organisationen. Im religiösen Kontext ist die Gratwanderung jedoch eine besonders enge, ist doch durch den geteilten Werthorizont der Ausschluss der Andersdenkenden, die Isolation vom mainstream, das bonding immer schon von vornherein
mitangelegt. Es ist nun einmal die Essenz des Religiösen, dass es sich letztendlich
auf eine außer-weltliche Autorität beruft, nicht verhandelbare göttliche Wahrheiten
verkündet und somit die Existenz des Andersdenkenden immer nur in Maßen tolerieren kann.
Ob und inwieweit solche Gruppierungen (unter welchen Umständen) demokratisch
wirken, muss so auch an dieser Stelle noch ein Stück weit als offene Frage betrachtet werden. Religiöse Organisationen aller Couleur haben einen klaren Mobilisierungsvorsprung gegenüber säkularen Organisationen, sie sind Meister in der Rekrutierung Ehrenamtlicher und bauen manche organisatorische, soziale und ideelle
Brücke, welche die säkulare Vereinswelt nicht oder in geringerem Umfang zur Verfügung stellt. Glaubt man der aktuellen Sozialkapital- und Partizipationstheorie, so
sind hiermit zentrale Grundvoraussetzungen geschaffen, partizipative, politisch
engagierte und interessierte, sozial vertrauende Bürger zu schulen – aber eben nur
die Grundvoraussetzungen. Ob diese demokratische Schulung tatsächlich stattfindet,
wie die religiöse Organisation nach innen sozialisiert, ob das große ehrenamtliche
Potential des religiösen Sektors auch zur Produktion kollektiver, über die enge Gemeinschaft hinausweisender, Güter genutzt wird, das lässt sich auf Basis der Organisationsdaten, die dieser Studie zugrunde liegen, nicht abschließend beantworten.
Hier fehlt der subjektive Aspekt der religiös Aktiven. Welche Werte und Kompetenzen erlernen sie in der Gruppe? Wie hoch ist ihr Vertrauen und ihre Toleranz auch
gegenüber Menschen, die nicht den eigenen Werthorizont teilen? In welcher Weise
sind sie bereit, sich auch politisch zu engagieren und demokratische Prinzipien zu
unterstützen? Sozialisieren religiöse Gruppen in einer Weise, die sie – zum Guten
oder Schlechten – vom säkularen Verein unterscheiden? Gibt es auch auf der Ebene
der religiös Aktiven und Ehrenamtlichen den konfessionellen Unterschied?
Nirgendwo in Europa besitzt die Religion eine Bedeutung wie es für die amerikanische (Zivil-) Gesellschaft prägend ist. Europa ist ein säkularisierter Kontinent.
Dennoch: religiöse Organisationen stellen auch in diesen hochgradig säkularisierten
Umwelten einen erklecklichen Teil zivilgesellschaftlicher Akteure. Betrachtet man
das Gesamtbild und sieht zudem, wie sehr religiöse Organisationen in manchen
Ländern in die Produktion zentraler Wohlfahrts- und Bildungsleistungen eingebunden sind, in welchem Maße das Parteiensystem von konfessionell-religiösen Wurzeln geprägt ist und wie viele Ehrenamtliche der religiöse Sektor generiert, so kann
man auch für Europa nicht abstreiten, dass Religion und religiöse Organisationen
einen zentralen Bestandteil zeitgenössischer Gesellschaft und Demokratie darstellen.
Viele – und nicht nur rational choice Theoretiker – erwarten auch für Europa eine
Welle der Re-Vitalisierung oder „de-secularization“, (Broughton/ten Napel 2000:
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208). In dieser Studie konnten Spuren einer Wiederbelebung nicht gefunden werden.
Das mit Abstand dynamischste Element ist der säkulare Sektor, der lutherische folgt.
Gerade an den Rändern des Protestantismus, dort wo sich in den USA, aber auch in
vielen Teilen Süd- und Lateinamerikas religiöse revivals entzünden, tut sich bisher
in Europa fast gar nichts. Selbst der Katholizismus ist dynamischer und produziert
mehr Neugründungen als das Umfeld der protestantischen Sekten. Aber auch ohne
Wiederbelebung und De-Säkularisierung, ein Blick auf die Religion lohnt sich –
gerade in Bezug auf Fragen sozialer, politischer Partizipation, Sozialkapital und
Demokratie. Daher:
„those who neglect religion in their analyses of contemporary and comparative politics do so
at their peril“ (Haynes 1998: 220).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Sind protestantische Vereine und Netzwerke ein besserer Nährboden für die Demokratie als katholische Organisationen? Brauchen auch Religionen den Wettbewerb des freien Marktes ohne staatliche Einmischung, um sich kraftvoll und lebendig zu entfalten? Das Buch untersucht die demokratische und sozial integrative Wirkung katholischer, lutherischer, calvinistischer und säkularer Organisationsformen in Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden, Dänemark, Spanien und Schottland. Dargestellt wird die gesellschaftliche und demokratische Rolle von Religion und Kirche seit den Zeiten der Reformation bis heute. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die demokratieförderliche oder aber hemmende Wirkung von Religion und Konfession als Bestandteil europäischer Zivilgesellschaften am Beginn des 21. Jahrhunderts. Auf der Basis einer international vergleichenden Organisationsstudie kontrastiert das Buch ökonomische Theorien der Religion mit dem klassischen Säkularisierungsparadigma, sowie Sozialkapitalansätze mit Organisationstheorien, die behaupten dass die kleine, dezentral organisierte Organisationsform des Protestantismus der großen, zentralistischen und hierarchischen Organisationsstruktur des Katholizismus überlegen sei.