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war so sehr bereit, Legitimationsbasis staatlicher Macht zu werden wie das dänische
Luthertum. Eher zeigte sich empirisch ein umgekehrtes Verhältnis: Je hierarchischer
und zentralistischer die Globalkirche ist, desto kleiner, flacher und informeller ist
die Natur des zugehörigen Vereinsnetzes. Immerhin stimmt dieses Verhältnis nicht
nur für das katholische Umfeld, sondern trifft auf die Lutheraner in ähnlichem Umfang zu, die hinsichtlich Hierarchie und Zentralismus mit den Organisationsprinzipien der katholischen Kirche am wenigsten radikal gebrochen haben. Umgekehrt:
eine lose auf Gemeindeebene verhaftete Kirchenstruktur scheint geradezu die Institutionalisierung und Professionalisierung der dazugehörigen Vereinswelt zu provozieren. Können feste Strukturen auf einer übergeordneten Ebene erst den Freiraum
der Informalität ermöglichen? Erzwingen strukturlose, dezentrale Umwelten vielleicht die hochgradige Verfasstheit und Institutionalisierung der untergeordneten
Ebene? Der organisatorisch strukturlose Protestantismus, der, so Schmidtchen
(1973: 63-64), von einer permanenten „Struktursehnsucht“ getrieben sei, wäre somit
gerade der Schrittmacher hochgradig verfasster, professioneller, hierarchischer Vereinswelten. Genau daraus speist sich aber der Rekrutierungs- und Sozialkapitalvorsprung calvinistischer Vereine und Gruppen aus dem Umfeld der protestantischen
Sekten gegenüber den von solchen Struktursehnsüchten unberührten katholischen
und lutherischen Milieus.
12.2 Religion und Demokratie
Calvinistische Vereine und Vereine aus dem Umfeld der protestantischen Sekten
haben sich – in Maßen – als partizipativer und sozialkapitalreicher entpuppt als
katholische und lutherische Vereine. Ist also tatsächlich der (nicht-lutherische) Protestantismus ein besserer, effizienterer, hilfreicherer Wegbegleiter demokratischer
Nationen als dies der Katholizismus ist? Eine solche Schlussfolgerung wäre vorschnell. Die demokratischen Leistungen des religiösen Sektors – der Zivilgesellschaft insgesamt – werden aus dem Zusammenspiel dreier Quellen gespeist: der
Vitalität (Dichte, Dynamik und Themenbreite) der Zivilgesellschaft an sich, der
Rekrutierungsfähigkeit ihrer Vereine, sowie der organisationsinternen Mobilisierung
der Klientel. Der calvinistische Verein befindet sich nun aber häufig in einer hochgradig säkularisierten Umwelt, in der das Religiöse marginal ist. Der katholische
Kleinverein dagegen ist mancherorts in sehr dichte Vereinswelten eingebettet und
versteht sich bestens auf innerorganisatorische Mobilisierung. Die lutherische Vereinswelt ist mit Abstand das wandlungsfähigste und dynamischste Element innerhalb des religiösen Sektors. Der demokratisch wertvollste Typ wäre in dichten, dynamischen Zivilgesellschaften beheimatet und besäße hohes Rekrutierungs- und
Mobilisierungspotential. Diesen Typ gibt es aber nicht. Warum?
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12.2.1 Wo ist der Idealfall?
Im Ideal sollten Zivilgesellschaften dicht sein, über eine hohe Verjüngungskapazität
verfügen und ein weites Themenspektrum bedienen. Sie sollten aber auch viele
Bürger erreichen, Engagementpotentiale wecken, Trittbrettfahren minimieren, so
viele Menschen wie möglich durch die Schule der kleinen Vereinsdemokratie
schleusen und schließlich als Brücken und Integrationsplattform unterschiedlicher
sozialer Erfahrungen und Interessen dienen. Über alle Analysen hinweg sind wir
immer wieder auf widersprüchliche Ergebnisse gestoßen. Die Champions des einen
Bereichs landen im Mittelfeld, wenn nicht sogar am Ende der Rangfolge, wenn ein
anderer Aspekt zivilgesellschaftlicher und demokratischer Leistungen im Mittelpunkt steht. Beispiele gibt es viele: Mannheim ist unter den Spitzenreitern hinsichtlich Vereinsdichte (säkular und religiös), die Mobilisierungskapazität seiner Vereine
ist aber bescheiden. Aberdeens Vereine hingegen verfügen über außerordentliche
Mobilisierungsfähigkeiten, das Netz der Vereine ist aber ausgesprochen lose geknüpft und seine Erneuerungsfähigkeit begrenzt. Katholische Vereine sind hochgradig vernetzt, tragen somit in hohem Maße zur Bildung engmaschiger organisatorischer Verknüpfungen bei, ihre Fähigkeit, eine sozial gemischte Mitgliederbasis zu
kreieren, ist aber geringer als die aller anderen konfessionellen Gruppen. Fertilitätsraten im calvinistischen Organisationsmilieu sind sehr gering, während ihnen die
„Produktion“ großer Reservoirs an Aktiven und Ehrenamtlichen in hohem Maße
gelingt. Es scheint, als könnten lokale Zivilgesellschaften und ihre Vereine nicht
allen Ansprüchen gleichzeitig genügen. Ist dies ein Problem der Fallauswahl? Ist der
„Idealfall“ ein nicht untersuchter Fall? Immerhin gibt es außerhalb der hier betrachteten zwölf lokalen Zivilgesellschaften und fünf konfessionellen Richtungen eine
schier unermessliche Zahl potentieller nicht berücksichtigter Lokalitäten und religiöser Varianten.
Vielleicht lässt sich aufgrund der in dieser Studie durchgeführten Analysen eine eher
befriedigende Antwort finden. Ist es möglich, dass es systematische Gründe dafür
gibt, warum lokale Zivilgesellschaften oder konfessionelle Milieus in gewisser Weise an manchen Punkten defizitär bleiben müssen? Führt eine Spitzenposition hinsichtlich eines Aspektes zwangsläufig zu Defiziten in anderen Bereichen? Dies wäre
dann der Fall, wenn die unterschiedlichen hier thematisierten zivilgesellschaftlichen
und demokratischen Leistungen durch unterschiedliche Mechanismen hervorgerufen
würden. Sind die Bestimmungsgründe oder Ursachen vitaler Zivilgesellschaften
andere als die Gründe, die dafür sorgen, dass Vereine eine engagierte und aktivistische Mitgliederbasis erhalten? Schlimmer noch, gibt es etwa Bestimmungsgründe,
die eine Leistung hervorbringen und eine andere verhindern? In der Tat hat die Analyse solch paradox wirkende Mechanismen enthüllt.
Der erste Kandidat ist die bereits ausführlich diskutierte Vereinsgröße: sie bewirkt
Reichtum an Aktiven und Ehrenamtlichen, sie befördert vereinsinternen Themenreichtum und eine soziale Mischung der Mitgliederbasis. Sie verhindert allerdings
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ein aktivistisches Innenleben. Größe ist ein Mobilisierungshemmnis. Vereinsgröße
wirkt somit prinzipiell in zwei völlig gegensätzliche Richtungen. Dies ist ein erster
und – betrachtet man die relative Bedeutung der Vereinsgröße als Erklärungsfaktor
– sehr gewichtiger Grund, warum Vereine, nicht gleichzeitig Massen an Ehrenamtlichen und Aktiven generieren können und intern erfolgreich mobilisieren können und
effizient Brücken zwischen Menschen verschiedener Herkunft und Interessen bilden
können.
Ein zweiter prinzipieller oder systematischer Grund, warum (säkulare und konfessionelle) Vereinswelten nicht Spitzenleistungen auf allen Gebieten erbringen können, liegt in der widersprüchlichen Natur ihrer Komponenten. Vereinsdichte und
Fertilitätsraten bedingen sich gegenseitig. Gerade im religiösen Sektor ist das Verhältnis zwischen diesen beiden Aspekten zivilgesellschaftlicher Vitalität sehr eng.
Kausalität lässt sich in beide Richtungen herstellen: einerseits kann eine hohe Dichte
an Vereinen als Resultat hoher Geburtenraten in der Vergangenheit verstanden werden. Dort, wo sich das Vereinsleben regelmäßig erneuert, ist oder bleibt die der
Wohnbevölkerung zur Verfügung stehende Zahl der Vereine hoch. Die Organisationsökologie sieht die Wirkrichtung umgekehrt: eine hohe Vereinsdichte legitimiert
das Organisationsmodell und inspiriert somit eine hohe Gründungsrate. Auch die
Breite der zivilgesellschaftlich bedienten Themen und Interessen steht in einem
positiven Zusammenhang zur Vereinsdichte. Dort, wo viele Vereine existieren,
steigt die Wahrscheinlichkeit, dass für jedes Anliegen, für jedes assoziative Bedürfnis Vereine zur Verfügung stehen. Auch dies gilt für religiösen und säkularen Sektor
in ähnlicher Weise. Interessanterweise ist aber das Verhältnis zwischen Themenbreite (oder Repräsentativität im Sinne der Wünsche und Interessen der Einwohnerschaft) und hohen Gründungsraten kein positives. Dieser negative Zusammenhang
ist auch deshalb interessant, da er wiederum ein Credo der rational choice Theorie
zu widerlegen scheint. Neugründungen führen demnach nicht zwangsläufig in die
assoziativ bis dato unbesetzte Nische – wäre dies so, müsste sich die Themenbreite
durch hohe Fertilität erhöhen. Möglich ist allerdings, dass der Negativzusammenhang gewisse ceiling Effekte widerspiegelt. Weil die lokale Zivilgesellschaft bereits
ein weites Themenspektrum abbildet, fällt es potentiellen Neugründungen schwer,
für sich eine thematische Nische zu finden. Für eine solche Interpretation spräche
auch die Tatsache, dass der Negativzusammenhang im säkularen Sektor, der mehr
Themen anbietet als der religiöse Sektor, deutlicher zu erkennen ist. Folgt man einer
solchen Interpretation, wären hohe Fertilitätsraten nur für solche Zivilgesellschaften
typisch, die noch im Wachstum begriffen sind und in der Tat unter thematischen
Lücken oder Nischen leiden, die durch Neuanbieter gefüllt werden können. Die
spanische Stadt Sabadell ist ein Paradebeispiel für ein solches Zusammenspiel thematischer Unvollständigkeit bei gleichzeitig hoher Fertilität. Bern (und in gewissem
Maße auch Aberdeen) sind Beispiele für den umgekehrten Fall: ein saturiertes Themenfeld bei niedrigsten Geburtenraten. Dies bedeutet aber auch, dass sich zwei
Aspekte zivilgesellschaftlicher Vitalität gegenseitig hemmen, wenn nicht sogar
ausschließen: Zivilgesellschaften sind – in der Tendenz – entweder das eine oder das
andere: Repräsentativ für die Interessen und assoziativen Wünsche der Einwohner-
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schaft oder hochgradig fertil und dynamisch. Zivilgesellschaften mit saturierter
Themenbreite könnten maximal ein mittleres Fertilitätsniveau erreichen, da Neugründungen zwangsläufig nur Themenmultiplizierung zur Folge hätten. Wäre dies
der Fall, so müssten Neugründungen in der thematisch saturierten Zivilgesellschaft
zu zunehmender sozialer Segmentierung führen wie Marty (1993) dies für die USA
feststellte. Man kann nur anbieten, was bereits existiert, muss also eine Nische anderer Natur finden und gründet sich als Sportverein XYZ, der aber schicht-, geschlechts-, alters- oder werthomogen rekrutiert. Genau dies bestätigt sich: Sämtliche
Aspekte zivilgesellschaftlicher Vitalität befördern eine sozial homogene Mitgliederbasis im religiösen Sektor. Umgekehrt: bridging ist dort am ehesten ausgeprägt, wo
die religiöse Vereinsdichte gering ist, wo wenige religiöse Vereine „geboren“ werden und wo die Themenbreite des Sektors defizitär ist. Religiöse Vereinsdichte und
Fertilitätsraten üben zudem einen hemmenden Einfluss auf die vereinsinterne Vernetzung unterschiedlicher Themen und Interessen aus. Mit anderen Worten, dichte,
sich verjüngende Vereinslandschaften produzieren vermehrt one-issue Vereine auf
Kosten des thematischen Mehrspartenvereins.
Nicht nur die Brückenbildungskapazität religiöser Vereine wird von Aspekten zivilgesellschaftlicher Vitalität beeinflusst, auch Partizipationsraten und Mobilisierungsfähigkeiten bleiben nicht unberührt. Der Effekt ist wiederum widersprüchlich. In
dichten und dynamischen religiösen Vereinslandschaften rekrutiert der einzelne
Verein weniger Aktive und Ehrenamtliche als in der aus Sicht der Vitalität defizitären Zivilgesellschaft. Neugründungen und die Vielzahl der Optionen behindern die
Rekrutierungschancen jedes einzelnen Vereins. Oder: Religiöse Zivilgesellschaften
mit geringer Dichte und wenig Verjüngungspotential können diese Defizite zumindest teilweise durch höhere Rekrutierungserfolge ausgleichen. Andererseits kann die
Vielzahl der Vereine in der dichten und fertilen Vereinslandschaft – wobei der einzelne Verein deutlich kleiner ist – höhere interne Mobilisierungserfolge verbuchen.
Zivilgesellschaftliche Vitalität wirkt also ebenso wie Vereinsgröße widersprüchlich.
Sie befördert vereinsinterne Mobilisierung, hemmt aber sowohl die Generierung
brückenbildenden Sozialkapitals als auch die Rekrutierung großer Zahlen an Aktiven und Ehrenamtlichen pro Verein. In Kapitel haben wir diese Zusammenhänge in
Form verschiedener Stellschrauben beschrieben. Ausgehend davon, dass es in jeder
Zivilgesellschaft vermutlich nur einen gewissen Prozentsatz an Individuen gibt, der
sich ins Ehrenamt rekrutieren lässt, finden sich verschiedene Wege diese maximal
zu mobilisierende Einwohnerschaft zu erreichen. Die Bereitstellung sehr vieler unterschiedlicher Angebote ist eine mögliche Strategie. Weniger, dafür aber mitgliederstarke Vereine, eine zweite. Die dritte Strategie nutzt das Mobilisierungspotential
seiner Vereine, verzichtet im Gegenzug auf big numbers, sowohl hinsichtlich Vereinsgröße als auch Sektorgröße. Der eigentlich ideale Weg – dichter Sektor, große
Vereine, hohe interne Mobilisierung – ist aufgrund der gegenläufigen Effekte, die
von der Vereinsgröße aber auch dem Vitalitätsgrad religiöser Zivilgesellschaften
ausgelöst werden, nicht gangbar.
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Die einzelnen Vereine dichter und verjüngungsfähiger Vereinslandschaften müssen
zudem eher auf öffentliche Mittel verzichten, haben ein geringeres Jahreseinkommen und in der Tendenz weniger Angestellte zur Verfügung als Vereine in weniger
dichten und weniger dynamischen Kontexten. Dichte und Fertilität führen zu verschärfter Konkurrenz um knappe Mittel. Das Resultat ist, dass alle Vereine im
Schnitt ressourcenärmer sind als Vereine in zivilgesellschaftlichen Kontexten, in
denen Konkurrenz weniger ausgeprägt ist. Ressourcenreichtum ist aber – neben der
Vereinsgröße – ein nicht unerheblicher Faktor, der die zivilgesellschaftlichen und
demokratischen Leistungen des Vereinswesens befördert. Damit findet sich hier ein
weiterer Grund, warum es Zivilgesellschaften nicht gelingt (oder nicht gelingen
kann), sowohl dicht und dynamisch als auch reich an Sozialkapital und hochgradig
aktivistisch zu sein. Die Vereinsdichte und hohe Geburtenraten wären nur dann kein
Hemmnis, wenn proportional zum Vereinswesen auch die zur Verfügung stehenden
Ressourcen steigen würden – im Kontext chronisch klammer öffentlicher Haushalte
keine sehr wahrscheinliche Option.
Der Idealfall der dichten, dynamischen, facettenreichen Zivilgesellschaft, die gleichzeitig Massen an Aktiven und Ehrenamtlichen rekrutiert, deren Vereine hohe Mobilisierungserfolge erzielen und die Generierung eines reichhaltigen Reservoirs an
Sozialkapital anregen, ist illusionär. Zu viele Kräfte ziehen in verschiedene Richtungen. Die widersprüchlichen Zusammenhänge sind systematischer Natur und somit
über unsere zwölf untersuchten Lokalitäten hinweg, zu verallgemeinern. Vereinsgröße wirkt hemmend und fördernd zugleich. Vereine sind aber entweder groß oder
klein. Daher werden sie – wenn sie nicht ganz spezifische Kompensationsstrategien
entwickeln können – auf zumindest einer der drei Dimensionen zivilgesellschaftlicher und demokratischer Leistungen defizitär bleiben. Mehr noch: die Dichte und
Dynamik lokaler Zivilgesellschaften – zwei zentrale Aspekte zivilgesellschaftlicher
Vitalität – stehen mit den individuellen Leistungen der Vereinswelt in einem komplexen, eher spannungsreichen Miteinander.
Dichte, fertile, facettenreiche Zivilgesellschaften basieren auf Vereinen mit relativ
wenigen Mitgliedern, Aktiven und Ehrenamtlichen. Dies ist zunächst nicht weiter
schlimm, da sie die Rekrutierungsdefizite der Vereinswelt mit der Dichte (also der
Zahl der zur Verfügung stehenden Vereine) kompensieren können. Für die abnehmende Fähigkeit, Brücken zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft und
Neigungen zu schlagen, gibt es einen solchen Kompensationsmechanismus aber
nicht. Nur große, ressourcenreiche, professionell organisierte Vereine erreichen hier
optimale Werte. Aber genau diese Eigenschaften werden in dichten, dynamischen
Vereinswelten unterdrückt.
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12.2.2 Braucht die Demokratie die Religion?
Gerade in eher konservativen Kreisen gilt, dass religiöse Werte das Fundament eines
friedlichen, solidarischen, demokratischen Zusammenlebens bilden. Gleichzeitig
unterminiere der Alltag der freien, kapitalistischen, leistungsorientierten Gesellschaftsordnung mit ihrer „selbstbezogenen Orientierung an je eigenen Präferenzen“
(Haus 2003: 54-55) die Standfestigkeit des christlichen Fundaments. Damit zerstörten Demokratie und Kapitalismus die Grundlagen ihres eigenen Überlebens. Dieser
Gedankengang ist als „Böckenförde-Paradoxon“ in die Debatte um das Verhältnis
von Religion und Demokratie eingegangen. Religion setzt Marktmechanismen außer
Kraft, knüpft das soziale Band und wird so zum einzigen verlässlichen Garant staatlicher und gesellschaftlicher Integration (z.B. Böckenförde 1991; Burmeister 1999;
Kaufmann 1999, Magen 2004; Hafner 1995).
An einer solchen Sichtweise lässt sich einiges kritisieren. Zunächst setzt sie die
Existenz friedlicher, toleranter, mit der Demokratie vereinbarer Religionen voraus.
Dies ist historisch in gewisser Weise naiv. Über die Jahrhunderte war die Religion
eine Quelle der Zwietracht, kriegerischer Auseinandersetzung und Ursache der Desintegration europäischer Gemeinschaften. Bis in die 1960er Jahre hinein war zumindest die katholische Kirche dezidiert anti-aufklärerisch, anti-modern und ein erklärter Feind freiheitlich-demokratischer Systeme (wenn nicht sogar expliziter Bündnispartner faschistischer Staaten). Religionen, die im modernen, säkularen Staat ihren
Hauptgegner erkennen, können unmöglich das Fundament freiheitlichdemokratischer Systeme bilden. Waren sie doch nicht einmal bereit – das Italien des
späten 19. Jahrhunderts ist hier das Paradebeispiel – den Gläubigen die passive Teilnahme an demokratischen Wahlen zu gestatten. Die Rolle des europäischen Katholizismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts als Gegenspieler der säkularen Moderne
hat in vielen Teilen der Welt der Islam übernommen, der, so vehement wie einst die
katholische Kirche, gegen die Durchsetzung liberaler, aufgeklärter Prinzipien mobilisiert. Die Vorstellung religiöser Werte als unabdingbare Basis demokratischen
Zusammenlebens beruht somit auf der Vorstellung einer gezähmten, die Moderne
akzeptierenden und sich demokratischen Regeln in gewisser Weise unterordnenden
Religion – wie es im (katholischen) Europa erst seit wenigen Jahrzehnten der Fall
ist. Diese gezähmte Religion ist aber, und da mögen Böckenförde und seine Mitstreiter recht haben, ständig in Gefahr, im Alltagsgeschäft demokratischer Entscheidungsfindung, Kompromissformulierung und marktwirtschaftlichen Nutzenkalküls
aufgerieben zu werden, da sie nicht länger (erfolgreich) mit Rekurs auf letzte, höchste Wahrheiten kraftvolle Gegenvisionen entwerfen kann.
Welche Leistungen erbringt also der religiöse Sektor, die ihn aus demokratischer
und zivilgesellschaftlicher Perspektive wertvoll machen? Leistungen, die womöglich
die breite Palette säkularer Angebote nicht oder nur in geringem Umfang erbringen?
Diese Arbeit hat mehrere Felder gezeigt, auf denen religiöse Organisationen Spitzenleistungen erbringen. Manche beschränken sich auf spezifische Konfessionen
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Sind protestantische Vereine und Netzwerke ein besserer Nährboden für die Demokratie als katholische Organisationen? Brauchen auch Religionen den Wettbewerb des freien Marktes ohne staatliche Einmischung, um sich kraftvoll und lebendig zu entfalten? Das Buch untersucht die demokratische und sozial integrative Wirkung katholischer, lutherischer, calvinistischer und säkularer Organisationsformen in Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden, Dänemark, Spanien und Schottland. Dargestellt wird die gesellschaftliche und demokratische Rolle von Religion und Kirche seit den Zeiten der Reformation bis heute. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die demokratieförderliche oder aber hemmende Wirkung von Religion und Konfession als Bestandteil europäischer Zivilgesellschaften am Beginn des 21. Jahrhunderts. Auf der Basis einer international vergleichenden Organisationsstudie kontrastiert das Buch ökonomische Theorien der Religion mit dem klassischen Säkularisierungsparadigma, sowie Sozialkapitalansätze mit Organisationstheorien, die behaupten dass die kleine, dezentral organisierte Organisationsform des Protestantismus der großen, zentralistischen und hierarchischen Organisationsstruktur des Katholizismus überlegen sei.