401
Schließlich zeigt der Blick auf den Gesamtsektor, dass die mangelnde Signifikanz
konfessioneller Unterschiede innerhalb des religiösen Sektors darin begründet liegt,
dass religiöse Vereine aller Couleur dem säkularen Verein an Themenbreite überlegen sind. Hiermit zeigt sich zum ersten Mal ein massiver und durchgehender Effekt,
der alle Konfessionen von nicht-christlichen Religionsgemeinschaften bis zu den
Katholiken betrifft. Dem religiösen Verein gelingt es, ganz unabhängig von seiner
jeweils spezifischen Organisationsstruktur, besonders gut, Angebote an Menschen
mit unterschiedlichen Präferenzen und Interessen unter einem Dach zu offerieren.
11.4 Leistungen der Vereinswelt: freie Märkte, religiöser Pluralismus oder Organisationsstrukturen?
In der Konkurrenz zweier alternativer Theoriestränge, die beide für sich in Anspruch
nehmen, zu erklären, warum die religiöse Vereinslandschaft mancherorts vitaler,
aktivistischer und reicher an Sozialkapital ist als anderswo, gibt es einen eindeutigen
Verlierer. Die Annahmen der rational choice Theorie der Religion werden nicht
bestätigt. Mehr noch: selbst dort, wo ihre zentralen Indikatoren – Marktstrukturen
und religiöser Wettstreit – in nicht marginalem Umfang zur Erklärung religiöser
Vitalität beitragen, tun sie dies in einer Art und Weise, die dem theoretischen Modell widerspricht. Allein hinsichtlich verschiedener Makroeigenschaften der Vitalität
religiöser Zivilgesellschaften – die Dichte der Vereinslandschaft, ihre Verjüngungsfähigkeit oder ihr Themenspektrum – tragen Variationen im Staat-Kirche-Verhältnis
und das Ausmaß konfessioneller Konkurrenz in einem erheblichen Umfang zur
Erklärung bei (R2 zwischen .27 und. 51, vgl. Tabelle 39). Zwar erweist sich der
Einfluss staatlicher Regulierung theoriekonform als durchweg negativ, doch wirken
staatliche Privilegien und Muster der Subventionierung in jedem einzelnen Fall als
Katalysatoren religiöser Vitalität. Die Wirkung religiösen Wettstreits ist wiederum
eindeutig hemmend, nur die Monopolstellung einer oder zweier Konfessionen wirkt
vitalitätsfördernd – ein Ergebnis ganz im Sinne des klassischen Verdikts der Säkularisierungstheorie. Betrachtet man dagegen die Leistungen des religiösen Sektors
hinsichtlich der Generierung von Aktiven, Ehrenamtlichen und Sozialkapital so ist
der Beitrag der rational choice Theorie entweder restlos insignifikant oder hochgradig marginal. Selbst im marginalen Fall stehen die geringfügigen Effekte häufiger
im Widerspruch zum theoretischen Ansatz als dass sie sich mit ihm in Einklang
bringen ließen. Rational Choice Indikatoren – das konnte Kapitel 9 zeigen – haben
ebenfalls nur einen bescheidenen Anteil an einer Erklärung unterschiedlicher Organisationsprinzipien. Mit anderen Worten, auch die Merkmale, die in diesem Kapitel
zur Erklärung herangezogen wurden, sind durch das Verhältnis zwischen Staat und
Kirche oder religiösen Pluralismus nicht oder kaum zu erklären: Weder zur Beantwortung der Frage, warum manche Vereine partizipativer oder sozialkapitalreicher
sind als andere, noch der Frage, warum manche hierarchisch, dezentral oder demokratisch verfasst sind, kann dieser Theoriestrang einen nennenswerten substantiellen
Beitrag liefern.
402
Der Ertrag der Organisationstheorie muss völlig anders bewertet werden. Organisationsmerkmale sind teilweise sogar hochgradig erklärungskräftig. Ob Vereine Ehrenamtliche und Aktive rekrutieren oder mobilisieren, ob sie sich als ideale Plattformen zur Generierung sozialen Kapitals erweisen, ist in hohem – und manchmal
sogar ausschließlichem – Maße von organisatorischen Eigenschaften abhängig. Kein
anderer Indikatorenkomplex, und dies gilt nicht nur für rational choice Indikatoren,
sondern ebenso für konfessionelle Indikatoren und Indikatoren, die Grundbeschaffenheiten der Zivilgesellschaft abbilden, haben einen auch nur vergleichbaren Einfluss auf die demokratischen oder zivilgesellschaftlichen Leistungen des religiösen,
aber auch des Vereinssektors insgesamt. Damit bestätigt sich auch eine Annahme
aktueller Partizipations- und Sozialkapitaltheorien von Verba et al. bis Putnam:
konfessionelle Unterschiede lassen sich in erheblichem Umfang auf spezifischen
Konfessionen eigene Organisationsprinzipien zurückführen. Die Erklärungskraft der
Konfession an sich – als theologische Kategorie oder Wertgemeinschaft – bleibt
weit hinter der Bedeutung organisatorischer oder struktureller Eigenschaften zurück.
Die in Kapitel 10 registrierten hochgradigen Unterschiede zwischen Vereinen einzelner Konfessionen, aber auch zwischen religiösem und säkularem Sektor sind in
einem hohen Maße durch Organisationsmerkmale erklärbar.
Dies soll nicht heißen, dass konfessionelle Eigenschaften völlig zu vernachlässigen wären. Es gibt den Unterschied, der über Organisationsstrukturen hinausgeht.
Allerdings erweist sich vor allem hinsichtlich der Mobilisierung von Aktiven und
Ehrenamtlichen, aber auch bezüglich der thematischen Breite der Unterschied zwischen säkularem Verein und religiösem Verein als bedeutungsvoller als der interkonfessionelle Unterschied: religiöse Vereine aller Art sind dem nicht-religiösen
Verein eindeutig überlegen. Ähnliches lässt sich auch hinsichtlich der Brückenbildungskapazität des Vereinswesens sagen, auch wenn hier konfessionelle Unterschiede ein wenig klarer zu Tage treten (als Vorteil nicht-christlicher, calvinistischer
bzw. Vereine aus dem Sektenmilieu hinsichtlich der sozialen Mischung der Mitglieder, als alleiniger Vorteil des katholischen Milieus im Punkte organisatorische Vernetzung). Diesen signifikanten und in der Regel alles andere als trivialen Effekten
zum Trotz, können solche konfessionellen Besonderheiten die Passung des Organisationsmodells meist nur geringfügig verbessern. Dabei darf keinesfalls vergessen
werden, dass konfessionelle Varianten in einem erheblichen Umfang Organisationsstrukturen bestimmen (vgl. Kapitel 9). Konfessionen wählen sich, oder entwickeln,
historisch spezifische Organisationsmodelle. Sind diese einmal implementiert, dann
sind sie es, die über die demokratischen und zivilgesellschaftlichen Leistungen einzelner Konfessionen entscheiden – die Konfession selbst wirkt nur noch am Rande.
Organisationsmerkmale tragen also in einem teilweise erheblichen Umfang zur
Erklärung zivilgesellschaftlicher und demokratischer Leistungen bei. Die Erklärungskraft des reinen Organisationsmodells variiert zwischen einem Minimum von
5,4 Prozent erklärter Varianz (vereinsinterne Mobilisierung von Aktiven im Sektor
insgesamt) und einem Maximum von 54 Prozent (Rekrutierung von Aktiven im
religiösen Sektor). Hinzu kommt, dass Organisationsmerkmale nicht nur – wie zu
erwarten ist – zur Erklärung von Variationen innerhalb der Vereinslandschaft beitragen, sondern in einem sehr hohen, und in manchen Fällen sogar umfassenden, Maße
403
Makrounterschiede aufklären. Wenn manche Zivilgesellschaften in toto aktivistischer oder sozialkapitalreicher sind als andere, so liegt das fast ausschließlich – und
deutlich mehr als an den sogenannten Kontextfaktoren, die theoretisch diese Unterschiede erklären sollten – an der von Land zu Land, von Gemeinde zu Gemeinde
verschiedenen Verteilung von Organisationsmerkmalen. Kurz gesagt, wenn Größe
ein Faktor ist, der fast allein dafür ausschlaggebend ist, dass viele Aktive „generiert“
werden, dann haben die Zivilgesellschaften der Länder einen Vorteil, deren Vereinswesen von großen Vereinen geprägt ist.
Damit ist allerdings schon angedeutet, dass die Organisationstheorie zwar, was die
Wirkkraft ihrer Indikatoren angeht, einen haushohen Sieg über die rational choice
Theorie erlangt, dass sie hinsichtlich der Richtung der postulierten Zusammenhänge
aber beinahe ebenso häufig daneben liegt wie letztere. Plakativ gesagt: je größer,
desto besser; je professionalisierter, desto effektiver. Nur großen, mitgliederstarken
Vereinen gelingt die Rekrutierung einer nicht unerheblichen Zahl von Aktiven und
Ehrenamtlichen. Nur große Vereine schaffen die Voraussetzungen für eine sozialkapitalreiche Zivilgesellschaft. Umgekehrt: je kleiner der Verein, desto ausgeprägter
die Tendenz zum bonding und desto schwächer die Fähigkeit, Brücken zwischen
Menschen unterschiedlicher Erfahrungshorizonte und Interessenlagen zu bauen.
Wenn also calvinistische Vereine und Vereine aus dem Sektenmilieu als „school of
democracy“ oder Hort der Sozialkapitalgenerierung katholische Vereine ausstechen,
dann liegt dies daran, dass ihre Vereinsstruktur zum großen, professionellen, ressourcenreichen Verein neigt, während das katholische Milieu eher durch kleine,
weniger professionalisierte, verhältnismäßig arme Vereine geprägt ist (vgl. Kapitel
9) – ein Zusammenhang, der den gängigen Idealisierungen (und gängigen Erklärungen für das katholische „Defizit“) der Kleingruppe völlig widerspricht.
Geringe Größe ist nur in einem Fall von Vorteil: die vereinsinterne Mobilisierung
von Aktiven und Ehrenamtlichen aus dem vorhandenen Mitgliederpool gelingt kleinen Vereinen besser als Organisationsriesen. Eine Bestätigung des Mythos vom
partizipativen Vorteil des kleinen, flachen, dezentral strukturierten Vereins findet
sich aber auch hier nicht. Die größten Mobilisierungserfolge erreichen Vereine,
wenn sich kleine Größe mit Wohlstand, hohem Grad der Professionalisierung und
hierarchischer Einbettung paart. Demokratische Verfassung und Mitgliederfinanzierung sind dem Mobilisierungserfolg abträglich (vgl. Tabellen 42 und 43). Durch
sämtliche Analysen hinweg wirken Faktoren, die solche partizipativen, flachen,
demokratischen Vereinsstrukturen abbilden, entweder gar nicht oder signifikant
negativ. Umgekehrt: Indikatoren, die Hierarchie und Professionalisierung abbilden –
fest angestelltes Personal, hohes Jahreseinkommen, Abhängigkeit von öffentlichen
Mitteln, Institutionalisierung arbeitsteiliger Strukturen, hierarchische Einbettung in
Supra-Strukturen – wirken, wenn sie wirken, durchweg positiv auf die unterschiedlichsten Leistungen des Vereinssektors und zwar unabhängig davon, ob allein die
religiöse Vereinslandschaft betrachtet wird oder der Sektor in seiner ganzen Breite.
404
Die Größe macht’s
Die (positive) Wirkung professioneller Strukturen ist eindeutig. Mit wenigen Ausnahmen sind die unterschiedlichen Effekte die über Einkommen, Angestellte, hierarchische Einbettung etc. wirken allerdings von einem einzigen Hauptfaktor überlagert: Vereinsgröße. Ob ein Verein vielen Menschen die Gelegenheit zu aktiver
Mitarbeit bietet, ob ein Verein seine Mitglieder mobilisieren kann oder ob Brücken
verschiedenster Natur gebaut werden können, ist vor allem – und in manchen Fällen
beinahe ausschließlich – eine Frage seiner Größe. In den bisherigen Analysen ist
davon ausgegangen worden, dass Größe monoton wirkt: je kleiner bzw. je größer,
desto besser. Ist dies die richtige Annahme? Immerhin gibt es Autoren die argumentieren, dass vor allem mittelgroße Vereine hinsichtlich Mobilisierung und innerorganisatorischer Partizipation sowohl dem kleinen als auch dem großen Verein unterlegen sind, der Zusammenhang also ein kurvenlinearer sei (Finke 1994). Olson
(1965), aber auch Weber und Troeltsch, betonen dagegen die Überlegenheit sehr
kleiner Vereine, da Probleme der Kontrolle und Sanktionierung von Trittbrettfahren
schon bei relativ kleiner Größe manifest werden (vgl. Kapitel 3). Da Vereinsgröße
für fast alle untersuchten zivilgesellschaftlichen Leistungen der bestimmende und
mit Abstand erklärungskräftigste Faktor ist, lohnt sich eine genauere Untersuchung
ihrer Wirkung. Dazu wurden die multivariaten Mehrebenmodelle wie in Tabellen 40
bis 44c dargestellt (also unter Einbeziehung aller Kontroll- und Kontextfaktoren)
nochmals wiederholt, die Größenvariable allerdings durch fünf sogenannte dummy
Variablen ersetzt, die einen detaillierteren Blick auf die Wirkung der Vereinsgröße
erlauben. Tabelle 45 zeigt die Effekte des zerlegten Größenindikators. Vergleichsmaßstab ist in jedem Fall der Organisationsriese mit 500 und mehr Mitgliedern.
Bezüglich der massenhaften Rekrutierung von Aktiven und Ehrenamtlichen (Spalten 1 und 2 in Tabelle 45) ist schon der Verein mit 100-500 Mitgliedern dem Organisationsriesen mit einer Mitgliederbasis, welche die 500 übersteigt, deutlich unterlegen. Für alle Vereine, die noch kleiner sind (unter 100 Mitgliedern) ist der Nachteil massiv, d.h. der Zwergverein mit weniger als zehn Mitgliedern ist von diesem
Nachteil in etwa gleich stark betroffen wie Vereine, die in der Größenkategorie von
50-99 Mitgliedern rangieren. Der Effekt ist also nicht wirklich monoton, da prinzipiell alle Vereine der Produktionskraft des Organisationsriesen unterlegen sind – ein
Negativeffekt, der sich für Vereine unter 100 Mitgliedern als besonders dramatisch
erweist. Hinsichtlich der vereinsinternen Mobilisierungskapazität (Spalten 3 und 4)
ergibt sich ein völlig anderes Bild. Der monotone Positiveffekt sinkender Vereinsgröße resultiert vor allem aus einem deutlichen Vorteil sehr kleiner (weniger als
zehn Mitglieder) und kleiner Vereine (bis unter 50 Mitglieder). Vereine mittlerer
Größe (50-99 Mitglieder) sind in ihrer Mobilisierungskapazität entweder nicht signifikant vom Organisationsriesen zu unterscheiden (Verhältnis Aktiver zur Mitgliederbasis in beiden Sektoren, Verhältnis Ehrenamtlicher zu Mitgliederbasis im religi-
ösen Sektor) oder der Vorteil ist ein sehr geringer (Verhältnis Ehrenamtlicher zu
Mitgliederbasis im Vereinswesen insgesamt).
405
Tabelle 45: Der Einfluss von Vereinsgröße: monoton oder nicht?
Anmerkung: Mehrebenenanalysen (siehe Anmerkung zu Tabelle 40). Signifikanzniveau: *** > 0,001, ** >
0,01 *, > 0,05. Kontrast- bzw. Vergleichsgruppe sind durchgängig Vereine mit 500 und mehr Mitgliedern.
Die Effekte wurden auf der Basis des jeweiligen Gesamtmodells (siehe „Schätzparameter letzter Schritt“
in Tabellen 40 bis 44c) berechnet.
Im Fall der Vereine, die zwischen 100 und unter 500 Mitgliedern besitzen, zeigt sich
nun ein negativer Effekt: im Vergleich zum Organisationsriesen haben solche Vereine nur beschränkte Mobilisierungsfähigkeiten – Fähigkeiten, die signifikant hinter
der Mobilisierungskapazität des Großvereins zurückbleiben. Hier erweist sich also
in der Tat der von Finke (1994: 9-10) prognostizierte und anhand einer Untersuchung amerikanischer Baptisten-Gruppen auch bestätigte kurvenlineare Zusammenhang. Vereine mittlerer Größe leiden an beiden Enden. Sie sind zu groß, um die
Überschaubarkeit (und Sanktionsfähigkeit) des Kleinvereins zu erhalten, aber
gleichzeitig zu klein, um professionelle Mobilisierungsstrategien und -techniken
entwickeln zu können. Systematische Unterschiede zwischen dem religiösen Sektor
und dem Vereinswesen als Ganzem finden sich nicht.
Das Verhältnis von Vereinsgröße und der Fähigkeit des Vereins eine bunte Alters-, Geschlechts- und Herkunftsmischung an seiner Basis zu realisieren, zeigt noch
am ehesten den ursprünglich vermuteten monotonen Effekt: sehr kleine und kleine
1 2 3 4
Zahl der
Aktiven
Zahl der
Ehrenamtlichen
Verhältnis
Aktive zu
Mitglieder
Verhältnis
Ehrenamtliche
zu Mitglieder
Nur Religiöse
Alle
Vereine
Nur Religiöse
Alle
Vereine
Nur Religiöse
Alle
Vereine
Nur Religiöse
Alle
Vereine
Größe (monotoner
Effekt)
.63*** .66*** .41 *** .26*** -.30*** -.18 *** -.43*** -.36***
Unter 9 Mitglieder -1.93*** -2.00*** -1.30 *** -.93*** .84*** .70 *** 1.58*** 1.86***
10-49 Mitglieder -1.82*** -1.99*** -1.32 *** -.91*** .48*** .29 *** .49** .47***
50-99 Mitglieder -1.61*** -1.82*** -1.22 *** -.81*** .17 -.09 .16 .15***
100-499 Mitglieder -.92*** -1.08*** -1.07 *** -.68*** -.24* -.25 *** -.10 -.16***
5 6 7
Ausmaß
Soziale Mischung
Ausmaß organisatorischer
Vernetzung
Ausmaß thematischer
Vernetzung
Nur Religiöse
Alle Vereine Nur Religiöse
Alle Vereine Nur Religiöse
Alle Vereine
Größe (monotoner Effekt) .39*** .30*** .02 .04* .24*** .10 ***
Unter 9 Mitglieder -1.13*** -.85*** -.02 -.10 -.65*** -.29 ***
10-49 Mitglieder -1.14*** -.85*** -.06 -.14** -.58*** -.39 ***
50-99 Mitglieder -.75*** -.53*** -.11 -.06 -.41** -.28 ***
100-499 Mitglieder -.45*** -.28*** .03 -.05 -.15 -.24 ***
406
Vereine (bis unter 50 Mitglieder) sind deutlich homogener als Großvereine; der
Nachteil sinkt mit jeder weiteren Größenkategorie. Mit anderen Worten: die Fähigkeit zum bridging ist im Organisationsriesen mit Abstand am größten, mit sinkender
Größe der Mitgliederbasis steigt die Tendenz zum bonding schrittweise an. Ähnliches gilt auch für das Ausmaß thematischer Vernetzung, der Zahl unterschiedlicher
Interessen, die ein Verein bedient. Allerdings ist ein echter monotoner Effekt nur
innerhalb des religiösen Sektors zu beobachten: hier sinkt die Zahl der angebotenen
Themen parallel zur Mitgliedergröße. Im Vereinssektor insgesamt lässt sich eher
eine Zweiteilung der Vereinswelt beobachten. Im Vergleich zum Organisationsriesen bedienen alle anderen Vereinstypen gleichermaßen eine begrenzte Zahl an Themen. Organisatorische Vernetzung ist und bleibt auch in diesen Analysen als einzige
unserer abhängigen Variablen nicht von Größenfaktoren beeinflusst.
Größe wirkt am deutlichsten dort, wo auch Größe Resultat ist: der Rekrutierung
einer großen Zahl an Aktiven und Ehrenamtlichen. Wie bereits kurz erwähnt, ist
dieser Effekt zunächst trivial. Allein mitgliederstarke Vereine können Massen an
Aktiven und Ehrenamtlichen „produzieren“. Selbst bei optimaler Mobilisierungsleistung kann ein Zwergverein mit zehn Mitgliedern maximal zehn Aktive oder
Ehrenamtliche generieren – in quantitativer Hinsicht keine umwerfende Leistung.
Aus diesem Grund fokussiert die Diskussion um die Leistung des kleinen Vereins –
auch ohne dies explizit so zu thematisieren – immer die vereinsinterne Mobilisierungskapazität. Hier sind, wie dies auch diese Untersuchung bestätigt, kleine Vereine in der Tat Spitze. Allerdings ist der Effekt nicht monoton, sondern beschränkt
sich allein auf die sehr kleinen Vereine, während Vereine mittlerer Größe sogar
hinter der Mobilisierungsleistung sehr großer Vereine zurückstehen. Allein diese
Tatsache rechtfertigt einen genaueren Blick auf die partizipativen Leistungen der
Organisationsriesen. Aber auch der eindeutige und massive Vorteil des Großvereins
in quantitativer Hinsicht ist in seiner zivilgesellschaftlichen Gesamtwirkung eben
nicht trivial. Wenn wir es – entweder aus einer „Schule der Demokratie“ oder aus
einer Sozialkapital-Perspektive – für wichtig und richtig erachten, dass so viele
Menschen wie möglich von den potentiellen Segnungen sozialer Partizipation profitieren und wenn wir weiter davon ausgehen, dass aus diesen individuellen Segnungen Kollektivgüter entstehen, die für die Qualität und Zukunft moderner Demokratien von existentieller Bedeutung sind, dann kann die Rekrutierungsleistung des
Großvereins nicht schlicht ignoriert werden oder gegen die überlegene interne Mobilisierungskapazität kleiner Vereine ausgespielt werden.
Tabelle 46 ist ein Versuch, die zivilgesellschaftliche Leistung des Großvereins aus
einer anderen Sicht zu bestimmen. Hier wird der partizipative Beitrag großer und
kleiner Vereine im Vergleich für den Vereinssektor insgesamt, sowie für den säkularen und religiösen Sektor getrennt ausgewiesen. Basis der Berechnung sind simple
Verteilungsrelationen (Zahl der Vereine in einer Kategorie, Spalte 1) und die für
diesen Typ Verein durchschnittliche Zahl an Aktiven und Ehrenamtlichen (Spalten 3
und 4). Als Beispiel: in der Vereinswelt unserer zwölf Gemeinden insgesamt gehören 3122 Vereine (das sind circa 47 Prozent aller Vereine) zum Typus Kleinverein
mit weniger als 50 Mitgliedern. Diese Vereine verfügen im Schnitt über 18 Aktive
407
und zehn Ehrenamtliche. Insgesamt werden also vom Kleinverein ungefähr 56.000
Aktive und 31.000 Ehrenamtliche „generiert“ (Spalten 5 und 7). Das heißt, die 47
Prozent Kleinvereine rekrutieren zehn Prozent der vom Vereinswesen insgesamt
rekrutierten Aktiven und leisten 21 Prozent der Gesamtproduktion an Ehrenamtlichen (Spalten 6 und 8). Die Organisationsriesen dagegen, die im Gesamtbild einen
eher marginalen Platz einnehmen und nur elf Prozent aller Vereine stellen, verfügen
im Schnitt über 283 Aktive und 80 Ehrenamtliche. Ihr Beitrag zur Gesamtproduktion ist somit gewaltig: es entspricht einem Anteil von 39 Prozent aller Aktiven und
41 Prozent aller Ehrenamtlichen.
Tabelle 46: Kleine und große Vereine im Vergleich
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
N In % MW
Aktive
MW
Ehrenamtl.
Aktive
insgesamt
Ehrenamtliche
insgesamt
In % alle Vereine
N In % N In % Aktive Ehrenamtl.
Alle
Vereine
6679 100,0 82 22 547.678 100,0 146.938 100,0 100,0 100,0
Kleine (bis
50)
3122 46,7 18 10 56.196 10,3 31.220 21,2 10,3 21,2
Große (500
und mehr)
759 11,4 283 80 214.797 39,2 60.720 41,3 39,2 41,3
Säkulare
Vereine
5428 100,0 88 22 477.664 100,0 119.416 100,0 87,2 81,3
Kleine (bis
50)
2327 42,9 19 10 44.213 9,3 23.270 19,5 8,1 15,8
Große (500
und mehr)
672 12,4 283 74 190.176 39,8 49.728 41,6 34,8 33,8
Religiöse
Vereine
1251 100,0 54 23 67.554 100,0 28.773 100,0 12,3 19,6
Kleine (bis
50)
795 63,4 14 8 11.130 16,5 6.360 22,1 2,0 4,3
Große (500
und mehr)
87 7,0 286 125 24.882 36,8 10.875 37,8 4,5 7,4
Das heißt, wollte man alle Großvereine durch Kleinvereine ersetzen, ohne ein Minus
an Aktiven und Ehrenamtlichen zu riskieren, müssten auf einen Schlag 11.933
Kleinvereine (anstelle der 759 Großvereine) geschaffen werden, um einen Ausgleich
für den Verlust an Aktiven zu gewähren bzw. 6072 Kleinvereine um die Produktion
an Ehrenamtlichen auszugleichen – eine Reorganisation des Vereinswesens mit
wahrhaft gigantischen Ausmaßen.
Der religiöse Sektor weicht in mehrerlei Hinsicht vom säkularen Sektor ab, der
allein auf Grund seiner Größe das Gesamtbild reproduziert. Zunächst ist der Anteil
kleiner Vereine sehr viel höher: 63 Prozent aller religiösen Vereine besitzen weniger
als 50 Mitglieder (säkularer Sektor: 43 Prozent). Dementsprechend ist der Raum für
Großvereine noch geringer: sieben Prozent im Vergleich zu zwölf Prozent im säkularen Vereinswesen. Diese sieben Prozent (oder 87 Vereine) verfügen im Schnitt
408
über 286 Aktive und 125 Ehrenamtliche. Gerade hinsichtlich der Ehrenamtlichen
sind die Unterschiede zum säkularen Sektor frappant. Dort verfügen Kleinvereine
über durchschnittlich zehn Ehrenamtliche, Großvereine über 74. Die Diskrepanz
zwischen groß und klein ist somit im religiösen Sektor deutlich ausgeprägter: 125 im
Vergleich zu acht Ehrenamtlichen, die von kleinen Vereinen „produziert“ werden.
Damit stellen im religiösen Sektor die 64 Prozent Kleinvereine nur 17 Prozent aller
Aktiven und 22 Prozent aller Ehrenamtlichen, die im religiösen Sektor rekrutiert
werden. Die wenigen Großvereine dagegen schaffen 37 Prozent aller Aktiven und
38 Prozent aller Ehrenamtlichen im religiösen Kontext. Auch hier wäre eine drastische Umorganisation des Vereinswesens von Nöten, sollten Kleinvereine die Produktionsleistung der Organisationsriesen auffangen. Statt der 87 Großvereine würden 1777 Kleinvereine benötigt, um den Ausfall an Aktiven auszugleichen oder
1359 Kleinvereine zur Generierung der Zahl an Ehrenamtlichen, die von den wenigen Organisationsriesen gestellt werden.
Wie auch immer man diese Vergleichszahlen betrachtet, die zivilgesellschaftliche
Leistung der Großorganisation ist gigantisch. Ohne sie wären lokale Zivilgesellschaften um viele Aktive und Ehrenamtliche ärmer. Auch wenn ihre interne Mobilisierungskapazität deutlich hinter der des so gerne idealisierten Kleinvereins zurücksteht, so ist ihr Gesamtbeitrag zu einer partizipativen, engagierten und folglich an
Sozialkapital reichen Gesellschaft signifikant. Großvereine müssen schlicht aufgrund ihrer Größe Trittbrettfahren in einem höheren Ausmaß tolerieren als Kleinvereine255, sie leiden an geringer Intimität, Überschaubarkeit und Sanktionierbarkeit
von Passivität und Indifferenz. Betrachtet man ihre Rekrutierungsleistung, die trotz
all dieser der Größe zu schuldenden Hemmschwellen zu Stande kommt, so leiden
sie aber mindestens so sehr unter einer übertrieben negativen öffentlichen und akademischen Wahrnehmung. Zu schnell unterstellt man ihnen Trägheit, mangelnde
Attraktivität, Technokratisierung und Integrationsprobleme (z.B. Zimmer 1996:
44ff; van Deth 1996: 10f.; Heinze und Olk 1981; Eberts und Schmid 1987; Schmidt
1988; Milofsky 1988: 185), während umgekehrt dem flexiblen Kleinverein zu
schnell die beinahe ausschließliche Verantwortung für gesunde, partizipative, demokratische Entwicklungen zugeschrieben wird. Diese etwas krude Vorstellung vom
apathischen, wenig integrativen Massenverein, der kaum einen zu Engagement inspiriert, hat sich tief ins öffentliche Bewusstsein eingegraben. So formulierte der
Münchner Oberbürgermeister Christian Ude auf einer Podiumsdiskussion der Süddeutschen Zeitung:
„Früher konnte man sagen: Ehrenamt siedelt sich bei der Kirche an, bei den Betriebsräten, Parteien und Vereinen. Heute haben diese Organisationen ihre Attraktivität verloren, weil ihre
Strukturen verkrustet sind. Menschen wollen sich nicht ihr Leben lang in ihnen engagieren. Sie
wollen nicht das Gefühl haben, ausgebeutet zu werden. Selbstbestimmt eine überschaubare
Aufgabe für eine befristete Zeit übernehmen: Das ist die neue Form des Ehrenamtes, das heute
nicht mehr im Namen der Großorganisationen entsteht“ (zitiert nach: Hoch 1998: 57).
255 Wie unsere Analysen (vgl. Tabelle 45) zeigten gilt dies allerdings weniger als bei Vereinen
mittlerer Größe.
409
Diese Wahrnehmung ist verzerrt. Es ist natürlich sehr gut möglich, dass manche
Kleinvereine den Kern eines „neuen“ Typs an Ehrenamtlichkeit in sich tragen, und
sich in Zukunft weitere Verschiebungen weg von der allgemein als technokratisch
und unattraktiv empfundenen Großorganisation hin zur kleinen, heimeligen, flexiblen Kleingruppe ergeben. Noch aber tragen die verschmähten Großvereine einen
erklecklichen Anteil lokaler Zivilgesellschaften auf ihren Schultern. Auch um ihre
Integrationsfähigkeit ist es besser bestellt als vielfach angenommen. Wenn irgendwo
Brückenbildungs-Kapazitäten vorhanden sind, dann dort. Unsere Analysen zeigen
den deutlichen Vorteil des Großvereins gegenüber dem Kleinverein: Kleinvereine
neigen zum bonding. Hier sammeln sich Menschen ähnlichen Alters, Geschlechts
oder ethnischer Herkunft, hier werden in der Regel nur ein oder wenige Themen
berührt. Die große Organisation dagegen bietet Raum für Menschen mit sehr unterschiedlichen Interessenlagen und unterschiedlichen Erfahrungshorizonte. Wenn
bridging eine aus gesellschaftlicher und demokratischer Perspektive so zentrale
Qualität des Vereinswesen sein sollte, wie dies die neueren Beiträge im Kontext
Sozialkapital suggerieren, dann spricht auch in diesem Punkt vieles für die eminent
wichtige Rolle großer Organisationen gerade auch im Vergleich zur kleinen Organisation, deren Defizite bei aller Idealisierung zu selten wahrgenommen werden.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Sind protestantische Vereine und Netzwerke ein besserer Nährboden für die Demokratie als katholische Organisationen? Brauchen auch Religionen den Wettbewerb des freien Marktes ohne staatliche Einmischung, um sich kraftvoll und lebendig zu entfalten? Das Buch untersucht die demokratische und sozial integrative Wirkung katholischer, lutherischer, calvinistischer und säkularer Organisationsformen in Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden, Dänemark, Spanien und Schottland. Dargestellt wird die gesellschaftliche und demokratische Rolle von Religion und Kirche seit den Zeiten der Reformation bis heute. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die demokratieförderliche oder aber hemmende Wirkung von Religion und Konfession als Bestandteil europäischer Zivilgesellschaften am Beginn des 21. Jahrhunderts. Auf der Basis einer international vergleichenden Organisationsstudie kontrastiert das Buch ökonomische Theorien der Religion mit dem klassischen Säkularisierungsparadigma, sowie Sozialkapitalansätze mit Organisationstheorien, die behaupten dass die kleine, dezentral organisierte Organisationsform des Protestantismus der großen, zentralistischen und hierarchischen Organisationsstruktur des Katholizismus überlegen sei.