375
11. Religiöser Pluralismus und Organisationsstrukturen als Quellen demokratischer Zivilgesellschaften
Religiöse Organisationen unterscheiden sich hinsichtlich Engagement und Sozialkapital von säkularen Organisationen. Große konfessionelle Unterschiede aber auch
unübersehbare Unterschiede in der Partizipations- und Sozialkapitalkompetenz zwischen unseren lokalen Zivilgesellschaften wurden offensichtlich. Können wir solche
Unterschiede erklären? Diese Arbeit wird von zwei konkurrierenden Theoriesträngen begleitet. Sowohl die rational choice Theorie der Religion als auch die
Organisationstheorie sind davon überzeugt, die Gründe für unterschiedliche Partizipations- und Sozialkapitalmuster zu kennen. Der freie Markt, so das Credo der rational choice Theorie, führt zum Wettstreit vieler religiöser Anbieter. Ihre Angebote
müssen daher kundenorientierter, responsiver und attraktiver sein als Angebote
religiöser Unternehmer in staatlich regulierten Märkten. Daher sind religiöse Organisationen im Kontext freier Wettbewerbe durch höhere Partizipationsraten und
Vitalität gekennzeichnet. Die Organisationstheorie, der sich auch die aktuellen Partizipations- und Sozialkapitalansätze bedienen, propagiert eine andere Antwort:
kleine, nicht hierarchische und dezentrale Organisationsformen bieten eine effizientere Plattform demokratischen Lernens und der Generierung von Sozialkapital als
große, hierarchische und zentralistische Organisationen, in denen das „einfache“
Mitglied von den Entscheidungsfindungsprozessen ausgeschlossen ist. In diesem
abschließenden Kapitel soll die Tragfähigkeit beider Ansätze empirisch überprüft
werden. Kapitel 10 stellte drei verschiedene Aspekte zivilgesellschaftlicher und
demokratischer outputs in den Mittelpunkt:
Aspekte zivilgesellschaftlicher Vitalität: dies betrifft zunächst die Dichte des Vereinssektors (die Zahl der Pro-Kopf der Bevölkerung zur Verfügung stehenden religiösen und säkularen Vereinsangebote). Hinzu kommen Aspekte, welche die Reproduktionsfähigkeit des Sektors umfassen, also die Altersverteilung der im Sektor
aktiven Vereine und deren Fertilitätsrate. Schließlich wurde auch das im Sektor
angebotene bzw. vertretene Themenspektrum als ein wichtiges Element zivilgesellschaftlicher Vitalität betrachtet. Kurz gesagt, eine Zivilgesellschaften gilt als „vital“,
wenn ihr Vereinsnetz dicht ist, wenn sie sich über Neugründungen regelmäßig verjüngen kann und ein weites Feld verschiedener Themen angeboten wird, das die
Bedürfnisse (potentieller) Mitglieder befriedigt.
Die Rekrutierung und Mobilisierung von Aktiven und Ehrenamtlichen: Sozial
Partizipierende sind – theoretisch – die politisch Aktiven von morgen. Sie lernen das
„Ein-mal-eins“ demokratischen Verhaltens und werden dank ihrer Netzwerkkontakte vermehrt zu gesellschaftlich-politischem Engagement inspiriert. Daher gilt, je
mehr Aktive und Ehrenamtliche die lokale Zivilgesellschaft und ihre Vereine generieren, desto besser sind die Zukunftsaussichten und die Qualität demokratischen
Regierens. Es wurden zwei Aspekte partizipativer Leistungen unterschieden. Zum
376
einen die Frage der Rekrutierung, d.h. wie viele Aktive und Ehrenamtliche insgesamt von den verschiedenen zivilgesellschaftlichen Vereinen gewonnen werden
können. Zweitens, die interne Mobilisierungskapazität der Vereine, also deren Fähigkeit, den vorhandenen Mitgliederpool für Aktionen und ehrenamtliche Tätigkeiten zu mobilisieren.
Die Generierung von Sozialkapital: hier standen schließlich drei Aspekte im Mittelpunkt. Erstens, die Fähigkeit der Vereine, Brücken zwischen Menschen unterschiedlichen Geschlechts, Alters und ethnischer Herkunft zu schlagen; zweitens die
horizontale Vernetzung der Vereine untereinander als zentraler Aspekt organisatorischer Brückenbildung und schließlich die Breite der im Verein vertretenen Themen
als Indikator der potentiellen Überbrückung inhaltlicher Interessenlagen. Somit kann
die bridging-Kompetenz des Vereinswesens aus drei Perspektiven überprüft werden.
Diese brückenbildende Kapazität der Vereinswelt gilt in der jüngeren Sozialkapital-
Debatte als zentrale Leistung des Vereinswesens, da erst aus ihr die gesellschaftlich
produktiven Qualitäten assoziativen Engagements erwachsen.
Idealerweise tragen alle genannten Elemente zur gesunden, demokratischen, partizipativen und sozialkapitalreichen Zivilgesellschaft bei. Kurz gesagt: die ideale
Vereinswelt besäße ein reiches Angebot an Vereinen; sie wäre in der Lage sich
regelmäßig zu verjüngen und zu erneuern; böte ein Themenspektrum, das dem der
Bürger entspräche; mobilisierte einen großen Teil der Wohnbevölkerung zu zivilgesellschaftlichem Engagement, das über die passive Mitgliedschaft hinausreichte;
überbrückte soziale Konfliktlinien zwischen Menschen unterschiedlicher Erfahrungshorizonte und Interessenlagen und wäre schließlich hochgradig miteinander
vernetzt, sodass die Leistungen und Stärken des einen Vereins auch dem anderen zu
gute kämen. Wie Kapitel 10 zeigen konnte (oder musste), ist dieses Idealbild ein
gutes Stück von der Wirklichkeit europäischer lokaler Zivilgesellschaften entfernt.
Dichte, vereinsreiche Zivilgesellschaften bleiben häufig defizitär, wenn die Mobilisierung der Mitglieder betrachtet wird. Mitgliederreiche Vereine rekrutieren zwar
große Massen an Aktiven und Ehrenamtlichen sind aber nicht unbedingt die besten
Bühnen zur Generierung sozialen Kapitals.
An dieser Stelle sollen diese empirischen Nuancen zunächst ignoriert werden, da
alle Aspekte als gleichermaßen zentrale Elemente zivilgesellschaftlicher Qualität
betrachtet werden – Aspekte, deren Entstehung erklärt werden soll. Allerdings mag
die Suche nach Erklärungsfaktoren dazu beitragen, zu verstehen, warum lokale Zivilgesellschaften und ihre Vereine offenbar nicht in der Lage sind, den Anforderungen des theoretischen Ideals zu entsprechen. Dieses Thema wird im abschließenden
Kapitel ausführlicher behandelt. Im folgenden werden die drei zentralen Leistungen
der Vereinswelt – vitale Zivilgesellschaften, Rekrutierung und Mobilisierung von
Aktiven und Ehrenamtlichen, Generierung von Sozialkapital – daraufhin untersucht,
ob und wie deren Ausbreitung sich durch die Natur religiöser Märkte, Organisationsmerkmale oder aber konfessionelle Besonderheiten erklären lässt.
377
11.1 Quellen zivilgesellschaftlicher Vitalität
Warum sind manche Zivilgesellschaften „dichter“ als andere? Warum ist die Vereinswelt mancherorts eher alt und kaum in der Lage, durch neue Angebote auf ver-
änderte Umwelten zu reagieren? Warum bieten einige Zivilgesellschaften ihren
Bürgern nur wenige Themen an, während andere ein reichhaltiges und umfassendes
Themenspektrum bedienen? Die rational choice Theorie der Religion würde all
diese Fragen mit einem Verweis auf die Struktur religiöser Märkte beantworten. Wo
freier Wettbewerb herrscht, wird die Neugründung von Assoziationen erleichtert, da
der Staat weder gewisse Konfessionen privilegiert, noch die Betätigung alternativer
Anbieter aktiv behindert. Im freien, pluralistischen Markt sollten also mehr Organisationen existieren (können) als im regulierten Markt. Damit wirkt der freie Wettbewerb auch auf die Möglichkeit, inwieweit sich neue Anbieter auf dem Markt
durchsetzen können. Organisationen sollten folglich jünger und das Vereinswesen
insgesamt durch höhere Fertilitätsraten gekennzeichnet sein. Da ein Anbieter im
freien Markt geradezu zwangsläufig Nischenprodukte offerieren muss, um erfolgreich zu sein, vergrößert sich auch das den Bürgern zur Verfügung stehende Spektrum assoziativer Themen und Interessen. Freie Märkte sind themenreicher, da aus
Wettbewerbsgründen auch Interessen bedient werden, die eher randständig sind und
im regulierten System keine Berücksichtigung fänden (vgl. Kapitel 4 für eine ausführliche Darstellung der rational choice Logik).
Im Mittelpunkt dieser ersten Makro-Analysen steht die Überprüfung des rational
choice Modells, also die Auswirkung freier Märkte und religiösen Wettstreits auf die
Vitalität religiöser Zivilgesellschaften. Betrachtet wurden zudem unterschiedliche
„Kontrollvariablen“, von denen aus theoretischen Gründen zu erwarten ist, dass sie
das religiöse Gesicht lokaler Zivilgesellschaften berühren: der Prozentsatz der Katholiken und der Konfessionslosen an der Wohnbevölkerung, sowie die subkulturelle Verankerung des lokalen katholischen Milieus (siehe Kapitel 8). Schließlich kann
die hochgradig unterschiedliche Größe unserer Gemeinden nicht unbetrachtet bleiben, da so verschieden potente Plattformen zivilgesellschaftlichen Engagements
entstehen. Zentrale Merkmale des säkularen Vereinswesens werden betrachtet, um
zu verstehen, ob und in welchem Ausmaß sich säkularer und religiöser Sektor gegenseitig befruchten oder aber die Vitalität des einen, die Vitalität des anderen
hemmt. Zudem können so mehrere im vorherigen Kapitel vorgestellte Annahmen
überprüft werden, die besagen, dass der religiöse Sektor weniger durch konfessionelle Konkurrenz belebt wird – das rational choice Argument – sondern sich vor
allem in Konkurrenz zum säkularen Sektor behaupten muss.
Tabelle 39 präsentiert verschiedene Regressionsanalysen, die versuchen, diesen
Erklärungsansatz empirisch zu überprüfen. Auch wenn das theoretische Argument
hierarchisch aufgebaut ist – Variationen im Staat-Kirche-Verhältnis bestimmen die
Wettbewerbsintensität bzw. den Pluralismusgrad auf der lokalen Ebene, welcher
wiederum die Vitalität der religiösen Zivilgesellschaften beeinflusst – kann dies an
dieser Stelle empirisch nicht nachvollzogen werden.
378
Tabelle 39a: Zur Erklärung zivilgesellschaftlicher Vitalität, Religiöse Vereinsdichte
R2 adj.
Lokaler Kontext .94
Säkularer Sektor .56
Religiöser Sektor .50
Gesamt-Modell .99
Effektkoeffizienten (schrittweise) Effektkoeffizienten (Gesamtmodell)
Lokaler Kontext: B Beta B Beta
% Katholiken -.15 -.15*** -.72 -.71***
% Konf.lose -.45 -.57*** - -
Kath. Subkultur 3.41 .07*** .76 .02**
Säkularisierung -1.73 -.96*** - -
Gemeindegröße .00 .01 .00 .18***
Säk. Sektor:
Vereinsdichte .25 .37*** -.35 -.51***
Themenbreite -1.13 -.31*** - -
Fertilität .04 .43*** .05 .63***
Relig. Markt2:
Privilegierung 1.22 .23*** 3.12 .59***
Regulierung -8.31 -.67*** -11.31 -.92***
Vielfalt -25.54 -.23*** -8.77 -.08***
Pluralismus -9.56 -.43***
Marktmonopol .37 .34***
Anmerkungen: Lineare Regression (OLS). N=12. Ohne Gewichtung. Signifikanzniveau: *** > 0,001, ** >
0,01 *, > 0,05. Zur Vermeidung von Multikollinearität mussten einige Makroindikatoren aus der jeweils
abschließenden multivariaten Analyse (Gesamtmodell) ausgeschlossen werden. Dies betraf den Indikator
zur Themenbreite im säkularen Vereinswesen, sowie den Indikator, welcher den Prozentsatz der Konfessionslosen an der Wohnbevölkerung abbildet. Die dominanten Indikatoren für Säkularisierung und Gemeindegröße (nur hinsichtlich Themenbreite) wurden ebenfalls aus dem multivariaten Modell entfernt,
um die Wirkkraft alternativer Indikatoren überprüfen zu können.
2
Da es sich bei den drei Indikatoren religiösen Wettstreits um unterschiedliche Messungen eines Konzeptes handelt, diese Messungen daher hoch korrelieren, wurden die drei Optionen zur Erfassung religiösen
Pluralismus einzeln analysiert. Das jeweils beste Einzelergebnis wurde als R2 ausgewiesen. Die für das
Gesamtmodell angegebenen Koeffizienten beruhen j auf Analysen mit dem Herfindahl-Index („Vielfalt“).
Alle in den Analysen genutzten Indikatoren sind Makro-Indikatoren, d.h. Charakteristika der einzelnen Gemeinden wurden allen in der jeweiligen Gemeinde aktiven
Vereine zugewiesen (alle Mannheimer Vereine erhielten so z.B. den für Mannheim
typischen Privilegierungswert oder den dortigen Prozentanteil der Katholiken zugewiesen, siehe Kapitel 8 für eine ausführliche Beschreibung der Indikatorenbildung).247 Um mit der Überprüfung der Wirkung staatlicher Eingriffe zu beginnen:
die staatliche Regulierung des religiösen Sektors hat in der Tat die von der rational
247 Ausnahme ist der Indikator zur Einbindung in katholische Subkulturen. Hier wurden alle
katholischen Vereine Mannheims, Enschedes, Lausannes und Berns als Teil einer Subkultur
379
choice Theorie angenommene hemmende Wirkung auf die Dichte der religiösen
Vereinslandschaft (beta von -.67 bzw. -.92 im abschließenden Gesamtmodell, Tabelle 39a). Aber: ein Staat, der Konfessionen privilegiert und subventioniert, ihr also
bestimmte Tätigkeitsfelder (z.B. im Wohlfahrts- oder Bildungsbereich) zuweist und
ihre Tätigkeiten finanziell unterstützt, befeuert zivilgesellschaftliche Vitalität (beta
von .23 bzw. .59, Tabelle 39a). Dies betrifft nicht nur die Dichte religiösen assoziativen Lebens, sondern ist ein grundsätzliches Ergebnis dieser Makroanalysen.
Tabelle 39b: Zur Erklärung zivilgesellschaftlicher Vitalität, Fertilität des religiösen Sektors
R2 adj.
Lokaler Kontext .89
Säkularer Sektor .60
Religiöser Sektor .27
Gesamt-Modell .94
Effektkoeffizienten (schrittweise) Effektkoeffizienten (Gesamtmodell)
Lokaler Kontext: B Beta B Beta
% Katholiken -1.34 -.10*** -9.75 -.73***
% Konf.lose -3.18 -.30*** - -
Kath. Subkultur 25.29 .04*** 4.35 .01
Säkularisierung -19.59 -.83*** - -
Gemeindegröße -.00 -.38*** .00 -.13***
Säk. Sektor:
Vereinsdichte -.48 -.05 -6.96 -.77***
Themenbreite -15.38 -.32*** - -
Fertilität .61 .58*** .63 .60***
Relig. Markt:
Privilegierung 4.79 .07* 40.41 .59***
Regulierung -65.14 -.40*** 133.56 -.83***
Vielfalt -181.13 -.13*** 65.76 .05***
Pluralismus -112.39 -.39***
Marktmonopol 2.41 .17***
Anmerkungen: siehe Tabelle 39a.
Auch Fertilitätsraten (Tabelle 39b) und die Breite des Themenspektrums (Tabelle
39c) werden durch regulative Eingriffe gehemmt, durch Privilegien und staatliche
Subventionierung gefördert. Regulierung als negative Beschränkung, als staatliche
Bevormundung und staatskirchliche Einbindung, schränkt ein, die eher wohlwollende Behandlung privilegierter Kirchen dagegen befruchtet das assoziative religiöse
Leben. In der Tat:
behandelt. Die Bildung der Indikatoren zu Vereinsdichte, Fertilität und Themenbreite siehe in
Kapitel 10. Datengrundlage sind die 1251 religiösen Vereine, die sich auf zwölf Kommunen
verteilen.
380
„Es ist gar nicht einzusehen, warum die Durchführung von Religionsunterricht an staatlichen
Schulen oder die Gewährleistung von Seelsorge im Militär negative Effekte auf die kirchliche
Vitalität haben soll. Dadurch wirkt die Kirche in die Gesellschaft hinein und erreicht Menschen auch an Orten, an die sie sonst nicht gelangen könnte“ (Pollack 2003: 452).
Tabelle 39c: Zur Erklärung zivilgesellschaftlicher Vitalität, Themenbreite im religiösen Sektor
R2 adj.
Lokaler Kontext .91
Säkularer Sektor .55
Religiöser Markt .51
Gesamt-Modell .70
Effektkoeffizienten (schrittweise) Effektkoeffizienten (Gesamtmodell)
Lokaler Kontext: B Beta B Beta
% Katholiken .00 .03* -.03 -.11***
% Konf.lose -.07 -.29*** - -
Kath. Subkultur 1.19 .09*** 1.90 .14***
Säkularisierung -.17 -.32*** - -
Gemeindegröße .00 .86*** - -
Säk. Sektor:
Vereinsdichte .06 .30*** .11 .52***
Themenbreite .60 .56*** - -
Fertilität .00 .06*** -.01 -.49***
Relig. Markt:
Privilegierung .22 .14*** .10 .07**
Regulierung -2.12 -.58*** -2.14 -.59***
Vielfalt -.05 -.00 -7.11 -.22***
Pluralismus .14 .02
Marktmonopol .10 .31***
Anmerkung: siehe Tabelle 39a.
Hier sind ganz offensichtlich zwei unterschiedliche und konträr wirkende Mechanismen zu beobachten und vieles spricht dafür, dass die undifferenzierte Konzeptionalisierung des Staat-Kirche-Verhältnisses als entweder „frei“ oder „reguliert“, wie
dies die rational choice Schule tut, der gesellschaftlichen Realität nicht angemessen
ist. Die Bedeutung des lokalen Wettbewerbs für die Dichte des religiösen Vereinswesens – die zentrale Schaltstelle in der rational choice Logik – ist nicht völlig von
der Hand zu weisen (beta von -.23, aber nur -.08 im multivariaten Modell, vgl. Tabelle 39a), seine Wirkung ist allerdings theoriewidersprechend. Pluralistische Situationen wirken hemmend, die Vereinslandschaft ist dort am dichtesten, wo eine oder
zwei privilegierte Kirchen den religiösen Markt monopolisieren können. Auch dies
ist ein prinzipielles Ergebnis dieses ersten Analyseschrittes zur Erklärung zivilgesellschaftlicher Vitalität. Pluralistische Situationen hemmen, Monopolstellungen
hingegen stärken die Vitalität des religiösen Sektors – ein Ergebnis ganz im Sinne
der Säkularisierungstheorie, das der rational choice Logik, die freie Märkte und
381
Wettbewerb mit Vitalität gleichsetzt, völlig zuwiderläuft. Religionen sind dort stark,
wo Menschen an sie glauben – ohne Zweifel, ohne Vergleich mit Alternativen. Diese Voraussetzung ist nur in Monopol- oder Hegemonialsituationen gegeben. Wie
bereits Kapitel 8 zeigen konnte (vgl. Tabelle 11), ist Säkularisierung eine zentrale
Bedingung oder – wie die Säkularisierungstheorie argumentieren würde – ein zentrales Resultat religiösen Pluralismus: Dort, wo viele religiöse Vorstellungen miteinander in Konkurrenz treten, wird die Plausibilität jedes einzelnen Glaubens unterminiert, Apathie und Indifferenz folgen. Tatsächlich erwies sich der Grad zivilgesellschaftlicher Säkularisierung als der erklärungskräftigste Faktor religiösen Pluralismus (ausführlich in Kapitel 8). Säkularisierung ist aber auch für die Vitalität
religiöser Zivilgesellschaften von großer Bedeutung. Dort, wo die Säkularisierung
weit fortgeschritten ist, dort, wo die religiöse Vereinswelt im Verhältnis zum säkularen Sektor nur noch einen marginalen Platz besetzt, ist die religiöse Vereinsdichte
gering (beta von -.96, Tabelle 39a). Auch hinsichtlich religiöser Fertilität entwickelt
der Grad der Säkularisierung eine Wirkkraft, welche die Bedeutung aller anderen
Indikatoren aussticht (beta von -.83, Tabelle 39b). Ebenso ist die Themenbreite des
Sektors durch Marginalität eingeschränkt, wenn auch nicht ganz in dem Umfang,
wie dies für religiöse Vereinsdichte und Dynamik gilt (beta von -.32, Tabelle 39c).
Kurz gesagt: der Grad zivilgesellschaftlicher Säkularisierung, das Ausmaß der Marginalisierung des religiösen Sektors, ist eine ganz zentrale Schaltstelle zur Erklärung
unterschiedlicher religiöser Phänomene: Dort, wo die Säkularisierung weit fortgeschritten ist, entwickelt sich einerseits die Vielfalt religiöser Optionen, andererseits
hemmt sie die Vitalität des Sektors in jeder Hinsicht: religiöse Vereinslandschaften
in der hochgradig säkularisierten Zivilgesellschaft sind dünn besiedelt, wenig dynamisch und arm an Themen.
Mit dem Prozentsatz der Katholiken an der Wohnbevölkerung sinken alle Indikatoren religiöser zivilgesellschaftlicher Vitalität (beta-Werte zwischen -.11 und -.73,
vgl. Gesamtmodell in Tabellen 39a-c). Dieses Ergebnis bestätigt eine Vielzahl von
Untersuchungen, die regelmäßig erbringen, dass Vereinsaktivitäten aller Art in dominant katholischen Länder deutlich unter dem Aktivitätsgrad protestantischer Länder verbleiben (vgl. z.B. Gabriel et al. 2002; van Deth et al. 2007; Roßteutscher
2005b). Allerdings übt die Einbindung in eine katholische Subkultur eine die zivilgesellschaftliche Vitalität beflügelnde Wirkung aus, die besonders im Fall der Themenbreite zum Tragen kommt (beta von .14, Tabelle 39c). Die Vereinswelt katholischer Milieus ist ausgesprochen facettenreich, da es ja Ziel der Subkulturbildung
war, durch ein umfassendes Themenangebot die Katholiken von den Verlockungen
der säkularen Vereinswelt zu „schützen“ (ausführlich in Kapitel 6). Dieses historische Muster ist heute noch erkennbar. 248 Mit dem säkularen Sektor steht die religiöse Vereinslandschaft in einem komplexen Austausch- und Konkurrenzverhältnis. In
der Tat zeigt sich, dass – wie McPherson (1983) oder Vermeulen (2005) vermuten
(vgl. Kapitel 10) – ein dichter, vereinsreicher säkularer Sektor das Wachstum des
248 Dieser Zusammenhang wäre noch deutlicher ersichtlich, wenn die Analysen nur katholische
Vereine zur Basis hätten und nicht den gesamten religiösen Sektor.
382
religiösen Sektors hemmt (beta von -.71). Über die zwölf Kommunen hinweg stehen
säkularer Sektor und religiöser Sektor in direkter Konkurrenz zueinander. Wird der
säkulare Sektor zu groß, erreicht er immense Dichtegrade, so nimmt er dem religiösen Sektor Platz zur Entfaltung. Diese Negativbeziehung, die sich allerdings erst im
multivariaten Gesamtmodell entfaltet, ist vor allem ein Effekt säkularer Themenbreite: dort, wo der säkulare Sektor eine Vielzahl unterschiedlichster Themen offeriert,
wird der religiöse Sektor in seiner Größe begrenzt – der säkulare Sektor hat, so
könnte man mit rational choice formulieren – bereits alle Nischen besetzt. Die Dynamik des säkularen religiösen Sektors befruchtet eine dichte religiöse Vereinslandschaft allerdings (beta von .63, Tabelle 39a). Wie in Kapitel 10 deutlich wurde, ist
eine hohe Dynamik vor allem für thematisch nicht ausdifferenzierte Zivilgesellschaften typisch. Nur in einer säkularen Vereinslandschaft, die thematisch nicht
saturiert ist, die selbst im Wachstum begriffen ist, in einer – wenn man so will –
inkompletten säkularen Vereinslandschaft, gelingen dem religiösen Sektor höchste
Dichtegrade. Ähnlich widersprüchlich ist das Verhältnis zwischen der Vitalität säkularer Sektoren und der Dynamik und Themenbreite des religiösen Sektors. Die Fertilität des säkularen Arms der Zivilgesellschaft befruchtet religiöse Fertilitätsraten
(und damit auch die Dichte der religiösen Vereinswelt), und wirkt negativ auf die
Zahl der im religiösen Sektor angebotenen Themen. Mit anderen Worten, eine wenig dynamische säkulare Vereinswelt, die durch eine geringe Zahl von Neugründungen gekennzeichnet ist, gibt dem religiösen Sektor erst den Freiraum, thematische
Nischen zu besetzen. Für das Verhältnis des säkularen zum religiösen Arm der Zivilgesellschaft ist somit vor allem eine Konkurrenzsituation typisch. Der religiöse
Sektor profitiert von inkompletten, im Wachs-tum begriffenen, nicht allzu dichten
säkularen Vereinswelten. Ist der säkulare Arm dagegen ausgewachsen, thematisch
saturiert und dicht, bleibt dem religiösen Sektor wenig Entfaltungsspielraum.
Ein Wort noch zur Gemeindegröße: Ihre Bedeutung ist angesichts der hochgradig
unterschiedlichen Bevölkerungszahlen unserer Kommunen wiederum erstaunlich
gering. Sie übt einen bescheidenen positiven Effekt (beta von .18, Tabelle 39a) auf
die Dichte religiösen assoziativen Lebens aus, und einen ähnlich bescheidenen negativen Einfluss auf die Fertilität des Sektors (-.13, Tabelle 39b). Kurz gesagt: je bevölkerungsreicher eine Gemeinde ist, desto mehr religiöse Organisationen finden
sich pro Kopf. Steigende Bevölkerungszahlen sind allerdings der Reproduktionsfähigkeit des Sektors eher abträglich. Mit anderen Worten, in der Großstadt fällt dem
religiösen Sektor die Erneuerung tendenziell schwerer als in kleineren Gemeinden.
Im Fall der Zahl der assoziativ angebotenen Themen liegt der Fall ein wenig anders.
Hier ist die Bevölkerungszahl der dominante Erklärungsfaktor (beta von .86): die
Zahl der Themen, die in einer lokalen Zivilgesellschaft angeboten werden (können),
ist aufs engste mit der Größe der Bevölkerung verknüpft. Dieser Zusammenhang ist
zu erwarten, steigt doch mit der Größe der Bevölkerung auch die Zahl und Vielfalt
der Wünsche und Interessen, die der assoziative Sektor befriedigen kann.249
249 Aufgrund des enorm engen Zusammenhangs wurde der Indikator zur Gemeindegröße ebenfalls aus dem multivariaten Modell entfernt.
383
Zusammenfassend lässt sich somit sagen, dass eine Reihe unterschiedlicher Faktoren
die Vitalität religiöser Vereinslandschaften bestimmen. Die multivariaten Modelle
können – nimmt man die R2-Statistik ernst – Unterschiede in der Vitalität quasi
vollständig aufklären (zwischen .70 und .99). Staat-Kirche-Verhältnisse und religiöser Pluralismus leisten einen signifikanten Beitrag zur Erklärung religiöser Vitalität.
Von den drei empirisch zu beobachtenden Effekten ist allerdings nur einer theoriekonform: Regulierung bremst. Staatliche Privilegierung und Subventionierung sind
dagegen hilfreich und inspirieren religiöse Vitalität in jeder Hinsicht. Für Protagonisten der rational choice Schule aber wohl noch unangenehmer ist die Tatsache,
dass die Konkurrenz zwischen verschiedenen Konfessionen eben nicht steigende,
sondern sinkende Vitalitätsraten zur Folge hat.
11.2 Quellen sozialen Engagements
Die Einheit der Analyse sind nun die Vereine. Wie in Kapitel 9 können daher Mehrebenenanalysen durchgeführt werden, die das theoretische Argument widerspiegeln.
Das Verhältnis zwischen Staat und Kirche, sowie der davon abzuleitende Grad religiösen Pluralismus, beeinflussen – so die rational choice Theorie – das Partizipationsmuster und die Sozialkapitalausstattung der lokal aktiven Vereine. Wie in Kapitel 9 wurden die Analysen zunächst auf den religiösen Sektor beschränkt, da anzunehmen ist, dass die staatliche Regulierung religiöser Anbieter und religiöser
Wettbewerb allein hier eine erklärende Rolle spielen. In einem zweiten Schritt wurde die Gesamtzahl aller Vereine zugrunde gelegt, um zu bewerten, ob in beiden
Sektoren unterschiedliche Wirkkräfte zu beobachten sind. Ebenfalls wie in Kapitel 9
zeigt der obere Teil der Tabellen 40 bis 44c Varianzberechnungen.250 In der ersten
Zeile – Null- oder Intercept only-Modell – ist dokumentiert, wie sich die Varianz auf
die verschiedenen Ebenen – als Varianzanteil der Makroebene (Varianz zwischen
Ländern/Gemeinden) bzw. Mikroebene (als Unterschiede innerhalb des Vereinswesens) – verteilt. Die nächsten beiden Zeilen begründen das Basismodell. Hier werden die Argumente der Organisationstheorie überprüft, die davon ausgeht, dass
bestimmte organisatorische Merkmale (kleine Größe, flache Hierarchien, etc.) die
Partizipations- und Sozialkapital generierende Fähigkeit der Vereine prägen. Die in
Kapitel 9 vorgestellten Indikatoren organisatorischer Verfasstheit sind nun die zentralen „unabhängigen“ Variablen in diesem Basismodell. Das Alter der Organisationen wurde als zusätzlicher Indikator in das Basismodell integriert, um zu kontrollieren, ob gewisse Leistungen der Vereine schlicht eine Funktion organisatorischen
Alterns sein könnten. Das Basismodell wurde zweimal berechnet, da im zweiten
Durchgang alle nicht-signifikanten Indikatoren, sowie Indikatoren mit Effektgrößen
unter .10 aus der Analyse ausgeschlossen wurden. Ein solches Vorgehen war not-
250 Die Prozentwerte wurden ermittelt, indem die Covarianz-Parameter des jeweiligen Effektmodels in Beziehung zum Nullmodell gesetzt wurden; Covarianz (Nullmodel) – Covarianz
(Effektmodel) / Covarianz (Nullmodel).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Sind protestantische Vereine und Netzwerke ein besserer Nährboden für die Demokratie als katholische Organisationen? Brauchen auch Religionen den Wettbewerb des freien Marktes ohne staatliche Einmischung, um sich kraftvoll und lebendig zu entfalten? Das Buch untersucht die demokratische und sozial integrative Wirkung katholischer, lutherischer, calvinistischer und säkularer Organisationsformen in Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden, Dänemark, Spanien und Schottland. Dargestellt wird die gesellschaftliche und demokratische Rolle von Religion und Kirche seit den Zeiten der Reformation bis heute. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die demokratieförderliche oder aber hemmende Wirkung von Religion und Konfession als Bestandteil europäischer Zivilgesellschaften am Beginn des 21. Jahrhunderts. Auf der Basis einer international vergleichenden Organisationsstudie kontrastiert das Buch ökonomische Theorien der Religion mit dem klassischen Säkularisierungsparadigma, sowie Sozialkapitalansätze mit Organisationstheorien, die behaupten dass die kleine, dezentral organisierte Organisationsform des Protestantismus der großen, zentralistischen und hierarchischen Organisationsstruktur des Katholizismus überlegen sei.