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Ein Blick auf den Gesamtsektor beweist die grundsätzlich hierarchischere Struktur
des religiösen Sektors im Vergleich zum säkularen Sektor. Selbst die innerhalb des
religiösen Sektors als Champion der Dezentralität auffallenden Vereine aus dem
Sektenmilieu und nicht-christlicher Herkunft sind hierarchischer und zentralisierter
organisiert als der durchschnittliche Verein ohne religiöses Anliegen. Die Unterschiede zwischen den beiden Sektoren sind deutlich und erklären beinahe zehn Prozent des Varianzanteils, der auf der Ebene der Organisationswelten angesiedelt ist.
Hinzu kommt, dass konfessionelle Orientierung als Kompositionseffekt auch über
die Hälfte der Unterschiede erklärt, die zwischen Gemeinden zu finden sind.
Der Effekt marginaler Positionierung des religiösen Sektors ist nun weniger gewaltig, erhöht die Passung des Modells aber enorm (von knapp 30 Prozent auf 60
Prozent der Variation zwischen Zivilgesellschaften): der Effekt ist nun ein negativer.
Während Säkularisierung die religiösen Vereine zum Aufbau vereinsinterner institutionalisierter Strukturen zwingt, verhindert sie die externe Eingliederung in organisatorische Supra-Strukturen. Oder: In der hochgradig säkularisierten Umwelt geht
dem religiösen Sektor sein typischster Verein verloren: die Unzahl der informell
organisierten, flachen Organisationen im Umfeld der kirchlichen Dachorganisation.
Von den Indikatoren, die Eigenschaften religiöser Märkte abbilden, erreicht nur ein
einziger einen signifikanten Effekt – ein Effekt allerdings, der zum ersten Mal im
Sinne der rational choice Theorie interpretiert werden kann: die Monopolstellung
regt zu Unterordnung in übergeordnete Organisationszusammenhänge an, während
religiöser Pluralismus (die Effekte sind mit -.05 winzig und nicht signifikant) eher
dezentrale Vereinsstrukturen befördert.
9.5 Konfession, die Natur religiöser Märkte und Organisationsstrukturen – ein
Ausblick
Die Wirkung religiöser Märkte und Muster staatlicher Einmischung lässt sich kurz
zusammenfassen: die institutionellen und ökonomischen Bedingungen religiösen
Lebens lassen sich durch Marktindikatoren nicht erklären. Dort, wo einzelne interpretierbare, aber in der Regel nicht signifikante Effekte auftreten, sind sie – mit einer
einzigen Ausnahme – nicht theoriekonform. Die Annahmen der rational choice
Theorie hinsichtlich finanzieller Abhängigkeiten und Organisationsformen, die sich
aus der spezifischen Natur religiöser Märkte ableiten ließen, sind falsch.
Dies bedeutet nicht, dass Basiseigenschaften lokaler Zivilgesellschaften an sich
für die Ausbildung organisationsinterner Strukturen bedeutungslos sind. In vielen
Punkten – die Struktur finanzieller Abhängigkeiten ist hier eine klare Ausnahme –
sind Unterschiede im Organisationsaufbau Variationen geschuldet, die gemeindeoder ländertypisch sind und somit über Unterschiede innerhalb einzelner Organisationswelten hinausgehen. So ist die relative Positionierung des religiösen Sektors im
Vergleich zum säkularen Sektor ein zentraler Kontextfaktor, der teilweise allein
dazu beiträgt, solche Varianzen auf nationaler und lokaler Ebene zu erklären. Der
Indikator („Säkularisierung“) misst den Anteil der säkularen Vereine an der Gesamt-
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heit der in einer lokalen Zivilgesellschaft aktiven Vereine. Wie Kapitel 8 zeigen
konnte, bestehen hier große lokale Unterschiede. Der Anteilswert nicht-religiöser
Vereine reicht von knapp unter 50 Prozent im Fall einer kleinen westdeutschen
Dorfgemeinde, wo das assoziative Leben von religiösen Vereinigungen geprägt ist,
bis zu Anteilswerten von 95 Prozent im Fall der dänischen Großstadt Aalborg (und
kaum weniger in den schweizerischen Städten Bern und Lausanne). Hier bleibt für
den religiösen Sektor nur noch ein minimaler Raum, da das Vereinswesen fast monopolartig säkular ausgerichtet ist. Diese relative Positionierung des religiösen Lebens hat offenbar große Auswirkungen auf die organisatorische Verfasstheit des
konfessionellen Vereinswesens. Je stärker die Vereinswelt säkularisiert ist, je enger
die Räume für religiöse Vereine werden, desto größer, finanzkräftiger, staatlich
finanzierter und formalisierter ist das verbleibende Netz religiöser Vereinigungen.
Die Organisationsökologie würde dieses Phänomen mit dem Darwinschen Begriff
des survival of the fittest umschreiben. Es sind die Organisationsriesen mit hochgradig institutionalisierten und professionalisierten Strukturen, die sich – mit Hilfe der
öffentlichen Hand – dem Trend der Säkularisierung entgegensetzen können. Der
informelle, kleine, mitgliederabhängige Verein hat in einer solchen „feindlichen“
Umwelt keine Chance. Alternativ ließe sich auch formulieren, dass in jeder lokalen
Zivilgesellschaft gewisse Ressourcen für religiöse Aktivitäten zur Verfügung stehen
– weil es überall religiöse Menschen gibt, weil der Staat oder die Kommune Wert
auf die Existenz solcher Organisationen legt, weil es Aufgaben gibt, die nur religiöse
Vereinigungen erfüllen können. Wenn man nun – und die rational choice Theorie
der Religion basiert ja auf dieser Annahme – davon ausgeht, dass solche religiösen
Bedürfnisse über lokale und nationale Grenzen hinweg mehr oder weniger konstant
bleiben, dann hieße dies auch, dass der Ressourcenreichtum der einzelnen Gruppe
steigt, je weniger Gruppen um diesen Topf der verfügbaren Ressourcen streiten. Der
Mitglieder- und Kapitalreichtum religiöser Vereinigungen in einer hochgradig säkularisierten Zivilgesellschaft wäre also das Resultat einer Konzentration der Mittel
auf einen kleinen Kreis, während sich in wenig oder weniger stark säkularisierten
Zivilgesellschaften ähnliche Ressourcen per Gießkannenprinzip auf eine viel größere Zahl an Organisationen verteilen würde – mit dem Resultat, dass die einzelne
religiöse Gruppe relativ mitgliederarm, kapitalarm und weniger großzügig von der
öffentlichen Hand versorgt verbliebe. Würde man diese Interpretation in der Logik
utilitaristischen Denkens weiter verfolgen, dann käme man zu dem Schluss, dass die
Außenseiterposition im Interesse der religiösen Organisationsriesen liegt. Da das
Geheimnis ihres Reichtum genau in dieser Positionierung liegt, müssten sie alles
dafür tun, zu verhindern, dass religiöse Konkurrenz – neue Gruppen und Vereine –
entstünden, die mit ihnen um diesen Pool konstanter Mittel streiten würden. Träfe
dies zu, wäre kaum zu erwarten, dass sich das religiöse Leben – wie es die Theorie
erhofft – revitalisieren würde. Hat die Religion erst einmal eine solche Nischenposition erreicht, ist es unwahrscheinlich, dass sich supply-Strukturen, organisatorische
Angebote, nachhaltig verändern, da dies nicht im Interesse der existierenden Anbieter liegt. Konstanter demand als Ursache konstanten supplys? Welche der beiden
Alternativinterpretation – die ökologische oder die ökonomische – plausibler ist,
wird im Laufe dieser Arbeit noch zu klären sein. Interessant ist hier vor allem die
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Frage, ob sich die relative Positionierung religiösen Lebens im Kontext der Gesamtzivilgesellschaft nicht nur auf organisatorische Strukturmerkmale – hier ist es der
einschlägigste Kontextfaktor – sondern auch auf Mobilisierungs-, Partizipationsund Sozialkapitalmuster niederschlägt. Kapitel 11 wird diesen Faden wieder aufnehmen.
Noch ein Wort zur Bedeutung der beiden Faktoren, die als sogenannte Kontrollvariablen den multivariaten Analysen hinzugefügt wurden: Organisationsalter und
Gemeindegröße. Etwas überraschenderweise hat die Größe einer Gemeinde an keinem einzigen Punkt in irgendeiner Form die Ausbildung organisatorischer Strukturen signifikant beeinflusst. Dies ist daher ein wenig unerwartet, da die untersuchten
Kommunen in ihrer Größe massiv voneinander abweichen – von wenigen Tausend
Einwohnern im Fall der ost- und westdeutschen Landgemeinden bis hin zu über
300.000 im Fall der Großstadt Mannheim. Selbst die Großstädte variieren nicht
unerheblich: Lausanne und Bern überschreiten die 100.000 Marke nur unwesentlich,
Mannheim, Aberdeen und Chemnitz haben zwei- bis dreimal so viele Einwohner.
Natürlich sind diese Gemeinden in der Ausprägung einzelner Organisationsmerkmale sehr verschieden. Als simples Beispiel mag organisatorische Größe dienen: der
durchschnittliche lutherische Verein in der Landgemeinde Althütte besitzt 23 Mitglieder; in der Großstadt Mannheim sind es mit 77 Mitgliedern mehr als drei mal so
viele. Wenn also Gemeindegröße trotz dieser massiven Unterschiede keine Wirkkraft hinsichtlich unterschiedlichster Organisationsmerkmale entwickelt, kann dies
nur so interpretiert werden, dass Mechanismen und Kausalbezüge, die ja im multivariaten Modell untersucht werden, in allen Gemeinden unabhängig von der Einwohnerzahl identischer Natur sind.
Dem Organisationsalter, der zweiten Kontrollvariablen, kann man solche Wirkungslosigkeit nicht unterstellen. Alter wirkt fast durchgehend: ältere Vereine sind
größer, reicher, eher demokratisch verfasst, aber auch eher arbeitsteilig und professionell strukturiert als jüngere Organisationen. Oder umgekehrt: junge Organisationen beginnen mit wenig Mitgliedern, geringen finanziellen Ressourcen und informeller Struktur. Ressourcenreichtum und institutionelle Verfasstheit ist in mancher
Hinsicht ein Resultat (erfolgreichen) organisatorischen Alterns. Mit anderen Worten,
Vereine, denen es gelingt, Mitglieder und Ressourcen zu gewinnen, überleben eher
als Vereine, die in der informellen Struktur finanzschwacher Kleingruppen verbleiben. Wie obige Analysen zeigten, ist das Organisationsalter nicht nur eine nicht zu
ignorierende Einflussgröße, sondern auch in der Lage, gewisse Besonderheiten konfessioneller Milieus zu erklären, die in den deskriptiven Analysen sichtbar wurden.
Der Wohlstandvorsprung, sowie das Plus an bezahltem Personal seitens calvinistischer Vereine verschwindet, setzt man organisatorisches Alter in die Gleichung mit
ein. Calvinistische Vereine sind ressourcenstark, nicht weil sie calvinistisch sind,
sondern weil sie alt sind – älter als die Vereine anderer Konfessionen. Das Thema
organisatorischen Alterns, der Verjüngungsfähigkeit und Dynamik religiöser Vereinswelten wird im folgenden Kapitel im Vordergrund stehen.
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Die Analyse der Organisationsstrukturen konfessioneller Vereinswelten hat zudem
einige überraschende Erkenntnisse erbracht. Vor allem die institutionelle Verfasstheit der katholischen Vereine widerspricht Annahmen wie sie seit Weber und
Troeltsch die Diskussion bestimmen fast völlig: katholische Vereine sind klein,
intern hochgradig informell und ressourcenarm in fast jeder Beziehung – sowohl im
Vergleich zu ihren calvinistischen Gegenstücken als auch zur säkularen Vereinswelt
insgesamt. Nur die Lutheraner entsprechen in vieler Hinsicht dem katholischen
Organisationsmodell. Unter den Protestanten erweisen sich gerade die Gruppierungen – Calvinisten und Vereine aus dem Sektenmilieu – als groß, hochgradig professionalisiert und ressourcenreich, denen man regelmäßig „optimale“ Vereinsstrukturen unterstellt: klein, dezentral und informell. Drei prinzipielle Organisationsmodelle konnten unterschieden werden: ein traditionelles Assoziationsmodell, das vor
allem den säkularen Sektor dominiert, paart hohe interne Verfasstheit und einen
ausgeprägten Formalisierungsgrad, der vor allem eine Institutionalisierung der
Grundprinzipien repräsentativer Demokratie bedeutet, mit einem vergleichsweise
niedrigen Grad hierarchischer Abhängigkeit. Ein zweifach – intern und extern –
hierarchisches Modell bestimmt die calvinistische Vereinswelt (aber in vieler Hinsicht auch die der protestantischen Sekten). Hier trifft eine ebenso hohe interne
Formalisierung, die aber in der Tendenz vor allem eine Verfasstheit hinsichtlich
professioneller, arbeitsteiliger Strukturen meint, auf einen hohen Grad der Einbettung in übergeordnete Organisationszusammenhänge. Das katholische und lutherische Milieu schließlich bietet ein drittes Organisationsmodell: hohe Informalität
intern bei beinahe vollständiger Eingliederung in organisatorische Supra-Strukturen.
Bezieht man die Organisationsstrukturen unterschiedlicher konfessioneller Vereinswelten auf ihre Fähigkeit, Mitglieder zu mobilisieren und Sozialkapital zu generieren, so müsste man zu eindeutigen Schlussfolgerungen gelangen: katholische (und
lutherische) Vereine sind fähigere „Schulen der Demokratie“ und effizientere Generatoren sozialen Kapitals als calvinistische Organisationen, Vereine, die den protestantischen Sekten zugehören, und – vielleicht – sogar als der durchschnittliche
nicht-religiöse Verein. Eine solche Prognose beruht natürlich auf der Annahme, dass
die aktuelle Partizipations- und Sozialkapitaltheorie korrekterweise Organisationsstrukturen mit unterschiedlichen gesellschaftlich wünschenswerten outcomes verknüpft. Kapitel 11 wird hierauf eine Antwort suchen. Bevor Kapitel 11 sich aber
diesem Thema widmen kann und den Einfluss von Organisationsstrukturen und
Merkmalen religiöser Märkte auf zivilgesellschaftliche und demokratische Leistungen religiöser Vereine untersucht, fehlt ein wichtiger Baustein in der Argumentationskette. Wie ist es überhaupt mit den Leistungen des religiösen Sektors in partizipativer und Sozialkapital generierender Hinsicht bestellt? Was leistet der religiöse
Sektor, und was leistet er nicht? Leisten alle Varianten ähnliches, oder gibt es den so
oft beschworenen konfessionellen Unterschied? Sind religiöse Vereine, wie in
Kapitel 2 argumentiert wurde, nichts anderes als ganz normale Vereine, die nur eine
gemeinsame konfessionelle Orientierung eint? Sind sie daher in ihrem Beitrag zu
Demokratie und gesunder Zivilgesellschaft auch nicht von säkularen Vereinen zu
unterscheiden? Oder macht die konfessionelle Wertebasis doch einen Unterschied?
Diese Fragen soll das folgende Kapitel klären.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Sind protestantische Vereine und Netzwerke ein besserer Nährboden für die Demokratie als katholische Organisationen? Brauchen auch Religionen den Wettbewerb des freien Marktes ohne staatliche Einmischung, um sich kraftvoll und lebendig zu entfalten? Das Buch untersucht die demokratische und sozial integrative Wirkung katholischer, lutherischer, calvinistischer und säkularer Organisationsformen in Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden, Dänemark, Spanien und Schottland. Dargestellt wird die gesellschaftliche und demokratische Rolle von Religion und Kirche seit den Zeiten der Reformation bis heute. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die demokratieförderliche oder aber hemmende Wirkung von Religion und Konfession als Bestandteil europäischer Zivilgesellschaften am Beginn des 21. Jahrhunderts. Auf der Basis einer international vergleichenden Organisationsstudie kontrastiert das Buch ökonomische Theorien der Religion mit dem klassischen Säkularisierungsparadigma, sowie Sozialkapitalansätze mit Organisationstheorien, die behaupten dass die kleine, dezentral organisierte Organisationsform des Protestantismus der großen, zentralistischen und hierarchischen Organisationsstruktur des Katholizismus überlegen sei.