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personalreich sind, dort sind konfessionelle Vereine auch hochgradig institutionalisiert. Dort, wo sich das konfessionelle Vereinsmilieu dagegen aus vergleichsweise
kleinen, ressourcenarmen Gruppen zusammensetzt, ist der Grad der Informalität
hoch. Daraus einen partizipativen Vorteil katholischer und lutherischer Vereinswelten zu prognostizieren, ist möglicherweise dennoch falsch, geht doch die Informalität vor allem zu Lasten der Implementation demokratisch-repräsentativer Spielregeln. Wie aus den zusammenfassenden Analysen (letzte Zeilen in Tabelle 16) zu
erkennen ist, haben 75 Prozent der säkularen Vereine die kleine Vereinsdemokratie
institutionalisiert, aber nur 33 bzw. 34 Prozent der katholischen und lutherischen
Vereine. Dagegen sind die Unterschiede hinsichtlich der Institutionalisierung professioneller Strukturen vergleichsweise gering. Katholische Vereine sind im Schnitt
kaum weniger professionell strukturiert als der säkulare Vereinssektor (ein Minus
von sieben Prozent), im lutherischen Milieu findet sich eine Prozentsatzdifferenz
von Minus 15. Informalität geht somit vor allem zu Lasten demokratischer Verfasstheit. Interessanterweise sind auch der calvinistische Sektor sowie die Vereinswelt
der protestantischen Sekten trotz einem dem säkularen Sektor ähnelnden durchschnittlichen Institutionalisierungsgrad (5,0 bei den Calvinisten, 5,3 bei den Sekten
im Vergleich zu 5,5 im säkularen Sektor aber 3,2 bzw. 2,6 im katholischen und
lutherischen Vereinswesen) hinsichtlich der Implementierung demokratischer Strukturen eher zurückhaltend: 55 Prozent der calvinistischen Vereine und 49 Prozent der
Vereine aus dem Umfeld der protestantischen Sekten haben sich eine demokratische
Verfassung gegeben. Damit liegen sie deutlich über der Vereinswelt der Katholiken
und Lutheraner, aber ebenso deutlich unter der demokratischen Verfasstheit des
säkularen Sektors, wo 75 Prozent aller Vereine demokratische Strukturen institutionalisiert haben. Der fast identische Durchschnittswert wird erreicht, da Calvinisten
und protestantische Sekten in einem Ausmaß arbeitsteilige und professionalisierte
Strukturen implementiert haben, wie das sonst nirgendwo der Fall ist. 44 Prozent der
calvinistischen Vereine und 41 Prozent der Vereine aus dem Sektenmilieu, aber nur
30 Prozent der säkularen Vereine (22 Prozent der katholischen und 14 Prozent der
lutherischen) besitzen professionelle, arbeitsteilige Vereinsstrukturen.
9.2.2 Hierarchische Einbettung
Tabelle 17 zeigt ein beinahe spiegelbildliches Ergebnis: im Vergleich zum säkularen
Sektor sind konfessionelle Vereine jeglicher Couleur in einem fast vollständigen
Ausmaß in größere organisatorische Zusammenhänge eingebettet. So sind in Mannheim 53 Prozent der säkularen Vereine Mitglied einer Dachorganisation, aber 95
Prozent der lutherischen und katholischen. Auch im schottischen Aberdeen zeigen
sich ähnliche Relationen: 50 Prozent der säkularen, aber 96 Prozent der calvinistischen Vereine gehören einem übergeordneten Verbund an. Für alle lokalen Zivilgesellschaften gilt im Prinzip ähnliches: der konfessionelle Verein, der nicht in eine
Dachorganisation eingegliedert ist, stellt ein klares Randphänomen dar. Die einzige
Ausnahme von dieser Regel betrifft das Enscheder Vereinswesen, das insgesamt
295
sehr viel mehr „free standing“ Organisationen beheimatet als dies anderenorts der
Fall ist. Aber selbst in der relativ dezentralen niederländischen Struktur (nur 30
Prozent der säkularen Vereine sind Teil einer hierarchischen Organisationswelt) ist
die hierarchische Einbettung im konfessionellen Sektor doppelt so hoch wie im
nicht-religiösen Sektor. Sollte Hierarchie tatsächlich den von vielen behaupteten
Negativeinfluss auf innerorganisatorische Partizipation ausüben, so wäre die gesamte konfessionelle Vereinswelt gegenüber der säkularen Vereinswelt benachteiligt
(siehe die hohen Prozentsatzdifferenzen in den letzten Zeilen). Der Nachteil träfe auf
Katholiken, Lutheraner und Calvinisten im stärksten Umfang zu, auf protestantische
Sekten und Vereine nicht-christlicher Provenienz, die beide über einen im Vergleich
zu den anderen Konfessionen deutlich höheren Anteil freistehender, unabhängiger
Vereine verfügen, in etwas geringerem Maße.
Tabelle 17: Vertikal oder horizontal? Externe Organisationsstrukturen
1 2 3 4
Mitglied einer
Dachorganisation
Prozentsatzdifferenz
Selbst Dachorganistion
Zahl gültiger
Fälle
Mannheim
Säkular 52,9 5,7 1181
Katholisch 94,2 41,3 5,0 226
Lutherisch 94,6 41,7 3,5 147
Andere Religionen 80,9 28,0 11,4 47
Vaihingen/Enz
Säkular 48,3 0,0 147
Katholisch 92,6 44,3 0,0 27
Lutherisch 98,1 49,8 0,0 54
Andere Religionen 96,6 48,3 0,0 29
Althütte
Säkular 64,7 6,3 16
Lutherisch 93,8 29,1 0,0 15
Chemnitz
Säkular 49,4 5,5 490
Katholisch 88,2 38,3 0,0 16
Lutherisch 97,3 47,9 0,7 146
Andere Religionen 88,0 38,6 4,0 25
Limbach
Säkular 43,1 0,7 135
Lutherisch 88,2 45,1 0,0 50
Bobritzsch
Säkular 36,4 9,1 22
Lutherisch 100,0 63,6 0,0 17
296
Enschede
Säkular 30,4 9,6 730
Katholisch 68,8 38,4 12,5 16
Calvinistisch 58,8 28,4 11,8 17
Protest. Sekten 43,8 13,4 12,5 32
Andere Religionen 36,4 6,0 13,6 22
Lausanne
Säkular 44,6 23,1 416
Katholisch 100,0 55,4 37,5 8
Calvinistisch 40,0 -4,6 20,0 5
Andere Religionen 33,3 -11,3 -- 3
Bern
Säkular 52,5 13,1 587
Katholisch 83,3 30,8 20,0 10
Calvinistisch 76,9 24,4 30,8 13
Protest. Sekten 71,4 18,9 16,7 6
Andere Religionen 88,9 36,4 11,1 9
Sabadell
Säkular 56,8 15,1 258
Katholisch 81,5 24,7 4,8 42
Protest. Sekten 85,7 28,9 14,3 7
Aalborg
Säkular 42,6 7,3 910
lutherisch 80,0 37,4 7,7 39
protest. Sekten 100,0 57,4 0,0 5
Aberdeen
Säkular 50,1 11,5 383
Calvinistisch 95,5 45,4 25,8 66
Protest. Sekten 72,2 22,1 17,6 17
Gesamt
Säkular 47,0 11,6 5229
Katholisch 86,7 +39,7 7,9 345
Lutherisch 94,0 +47,0 2,1 470
Calvinistisch 86,3 +39,3 24,4 101
Protest. Sekten 63,7 +16,7 14,4 73
Andere Religionen 69,6 +22,6 12,5 138
Anmerkungen: nur Konfessionen, die mit mindestens drei gültigen Fällen vertreten sind. Für kumulierte
Analysen wurden gewichtete Daten verwendet (N=1000), ohne kleinere ost- und westdeutsche Gemeinden. Die in Spalte 4 dokumentierte Zahl der Fälle entspricht den ungewichteten Daten.
Damit gibt es drei prinzipielle Organisationsmodelle: Der säkulare Sektor paart hohe
interne Verfasstheit und einen ausgeprägten Formalisierungsgrad, der vor allem eine
Institutionalisierung der Grundprinzipien repräsentativer Demokratie bedeutet, mit
einem vergleichsweise niedrigen Grad hierarchischer Abhängigkeit. Die calvinistische Organisationsstruktur dagegen (aber in vieler Hinsicht trifft dies auch auf die
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protestantischen Sekten zu) paart eine ebenso hohe interne Formalisierung, die aber
in der Tendenz vor allem eine Verfasstheit hinsichtlich professioneller, arbeitsteiliger Strukturen meint, mit einem hohen Grad der Einbettung in übergeordnete Organisationszusammenhänge. Der calvinistische Sektor ist somit intern und extern hierarchisch organisiert. Die katholische und lutherische Vereinswelt bietet ein drittes
Organisationsmodell: hohe Informalität intern bei beinahe vollständiger Eingliederung in organisatorische Supra-Strukturen.
Somit stellen diese Ergebnisse viele der gängigen Annahmen auf den Kopf: Katholische Organisationen sind klein, ressourcenarm, intern kaum hierarchisch strukturiert
und weniger professionalisiert als angenommen. Wäre nicht das hohe Ausmaß organisatorischer Eingliederung in übergeordnete Organisationseinheiten, entspräche der
katholische (und der lutherische) Verein fast dem Idealbild des kleinen, flachen,
hierarchiefreien Vereins, der in der aktuellen Debatte so große Wertschätzung erfährt. Der calvinistische Verein dagegen ist groß, reich an Geld und Personal, hochgradig intern verfasst, arbeitsteilig und professionell strukturiert und zudem in hierarchische Organisationsbezüge eingebunden. Wie kann das sein? Natürlich ist die
katholische Kirche eine riesige, weltumspannende, hierarchische Organisation. Natürlich sind dem Protestantismus und vor allem dem Protestantismus calvinistischer
Provenienz solche Strukturen fremd. Der gängige Fehler liegt wohl darin, dass man
die Organisationsprinzipien der Globalkirche(n) auf den lokal aktiven Verein un-
überprüft überträgt. Warum sollten sich die an einer katholischen Kirchengemeinde
angesiedelten Krabbelgruppen, Frauengruppen oder Gesangs- und Sportvereine
organisatorisch nach dem Vorbild der Kurie modellieren? Oder, wie Boix und Posner zu recht meinen, ein hierarchischer Überbau muss nicht hierarchische Durchgliederung bis in die kleinsten lokalen Räume nach sich ziehen. „Organizations like
the Catholic Church may appear to be vertically organized and yet contain numerous
opportunities for horizontal engagement within their midst“ (Boix/Posner 1996: 3).
Was bedeuten solche Organisationsstrukturen für die Generierung sozialen Kapitals und die Mobilisierung von Aktiven und Ehrenamtlichen? Nimmt man die Ergebnisse dieses Kapitels ernst und interpretiert sie im Lichte der Organisationssoziologie, so muss man annehmen, dass katholische und lutherische Vereine bessere
Plattformen demokratischen Lernens zur Verfügung stellen als calvinistische Vereine und Organisationen aus dem Umfeld der protestantischen Sekten, vielleicht aber
auch – viele Indikatoren deuten darauf hin – als der nicht-religiöse Verein. Ist der
Katholik (und Lutheraner), der sich diesen Strukturen „aussetzt“, vielleicht doch
nicht nur ein guter Mensch, sondern auch ein guter Bürger?
9.3 Klein, flach, unabhängig: zum Zusammenhang zwischen unterschiedlichen
Organisationsmerkmalen
Organisationsmerkmale gelten als hochgradig verwoben: die kleine Organisation ist
geradezu zwangsläufig flach organisiert und mitgliederbasiert. Die große Gruppe
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Sind protestantische Vereine und Netzwerke ein besserer Nährboden für die Demokratie als katholische Organisationen? Brauchen auch Religionen den Wettbewerb des freien Marktes ohne staatliche Einmischung, um sich kraftvoll und lebendig zu entfalten? Das Buch untersucht die demokratische und sozial integrative Wirkung katholischer, lutherischer, calvinistischer und säkularer Organisationsformen in Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden, Dänemark, Spanien und Schottland. Dargestellt wird die gesellschaftliche und demokratische Rolle von Religion und Kirche seit den Zeiten der Reformation bis heute. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die demokratieförderliche oder aber hemmende Wirkung von Religion und Konfession als Bestandteil europäischer Zivilgesellschaften am Beginn des 21. Jahrhunderts. Auf der Basis einer international vergleichenden Organisationsstudie kontrastiert das Buch ökonomische Theorien der Religion mit dem klassischen Säkularisierungsparadigma, sowie Sozialkapitalansätze mit Organisationstheorien, die behaupten dass die kleine, dezentral organisierte Organisationsform des Protestantismus der großen, zentralistischen und hierarchischen Organisationsstruktur des Katholizismus überlegen sei.