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Auch in Schottland findet sich die für alle europäischen Gesellschaften typische
Generationenkluft. Noch 1956 waren immerhin 39 Prozent aller schottischen Kinder
in einer der presbyterischen Sonntagsschulen eingeschrieben, 1973 waren es noch
19 Prozent um bis Mitte der 1990er Jahre pro Jahr durchschnittlich weitere acht bis
zehn Prozent zu verlieren. Wenn auch hier der Trend anhält, wird es spätestens 2010
keine schottischen Sonntagsschulen mehr geben (Brown 2003: 32). Grundsätzlich
sind nicht nur die Church of Scotland, sondern – mit Ausnahme der kleinen Gemeinde der Baptisten, deren Mitgliederzahlen zumindest stagnierten – alle Kirchen
von diesem Erosionsprozess betroffen. Die katholische Kirche, die durch irische
Einwanderer im 19. Jahrhundert einen Mitgliederboom erlebte, konnte den Niedergang immerhin bis in die 1980er Jahre hinein aufhalten. Doch dann brach sie regelrecht zusammen: „Catholic Church decline started late, but is proving to be incredibly sharp“ (Brown 2003: 34). Auch subjektive Indikatoren religiöser Befindlichkeit
und Praxis zeigen für Großbritannien, aber gerade auch für Schottland, einen steilen
Niedergang für die Periode nach 1970. Regionen, die wie Schottland historisch als
„highly religious“ galten, sind von der „Ausblutung“ religiösen Glaubens besonders
betroffen (Field 2001).
6.4.6 Dänemark: Stagnation auf niedrigstem Niveau
Seit Beginn der Erhebung von Kirchgangshäufigkeiten zeichnen sich die skandinavischen lutherischen Kirchen durch einen im europäischen Vergleich ausgesprochen
geringen Aktivitätsgrad aus. So besuchten in Dänemark um 1927 nur elf Prozent der
Bevölkerung wöchentlich den Gottesdienst. Diese Zahl ist bis in die 1990er Jahre
noch einmal drastisch auf unter zwei Prozent gefallen. Umgekehrt verdreifachte sich
der Anteil derer, die „nie“ in die Kirche gehen. Während dies in den 1940er und
1950er Jahren nur für zehn Prozent der Fall war, betrifft dies heute ein Drittel der
dänischen Gesellschaft. Allerdings hat der massive Anstieg der „Kirchenverweigerer“ bereits in den 1960er Jahren stattgefunden und bleibt seitdem – mit Schwankungen je nach Erhebung –relativ konstant (Bruce 2000: 35-37). Umgekehrt: bereits
1964 war der Prozentsatz der kirchlich „Hochintegrierten“ (mindestens wöchentlicher Kirchgang) auf deutlich unter fünf Prozent gefallen (Jagodzinski/Dobbelaere
1993: 80). Auch lassen sich für Dänemarks Staatskirche – ganz im Gegensatz zu den
Kirchen fast aller anderen Länder – keine oder generationstypische Muster feststellen. 1992 waren 88 Prozent der Dänen Mitglied der lutherischen Kirche. Bei den
über 50jährigen liegt der Anteilswert bei etwas über 90 Prozent, bei den 15 bis
19jährigen bei 89 Prozent, nur der Anteil der Kleinkinder (bis vier Jahre) liegt mit
circa 77 Prozent etwas unter dem Schnitt (Dübeck 1996: 37). Wenn man bedenkt,
dass in dieser Altersgruppe manche vermutlich schlicht noch nicht getauft wurden,
ist Dänemarks Kirchenbindung ein Beispiel für Konstanz auf sehr hohem Niveau.
Für Davie ist Dänemark (wie ganz Skandinavien) die Umkehrung britischer Verhältnisse: statt „believing but not belonging“ – der Zustand den sie für Großbritannien konstatiert – findet sich hier Zugehörigkeit ohne große Glaubensrelevanz (Davie 2000: 3).
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6.5 Was ist passiert? Entkonfessionalisierung als gesamteuropäisches Phänomen
Was sind die Gründe für diesen massiven Einbruch der Kirchlichkeit in allen europäischen Nationen seit der Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts? Wie konnte etwas
so „einzigartiges“ und „epochenformendes“ (Brown 2003: 29) passieren? Zwei
Antworten drängen sich auf: Die 1960er Jahre gelten als Wasserscheide des Generationenwandels, der – an der hoch emotionalen und teilweise gewaltsamen Eruption
der Studentenrebellion exemplifiziert – auf einem tiefgreifenden Wertewandel beruht. Das Schlagwort vom Wertewandel hat viele Facetten. Auch betonen Autoren
ganz unterschiedliche Wandlungsprozesse und sehen unterschiedliche Mechanismen
am Werk. In einem sind sie sich allerdings einig: die Werte haben sich in einer Weise verschoben, die der Zukunft von Religion und Kirche, gerade der großen Amtskirchen, abträglich ist. Brown betont vor allem den negativen Einfluss der Frauenemanzipation, sowie der gleichzeitigen „Entpietisierung“ von Weiblichkeit und eine
Entfeminisierung der Frömmigkeit (Brown 2001b: 192). McLeod betont die Auswirkungen der „sexuellen Revolution“, die eine tiefe Kluft zwischen religiöser Moral, kirchlichen Sexualnormen und dem tatsächlichen Verhalten hinterließ (McLeod
2003: 3). Kaufmann spricht in Anlehnung an Lyotard von einer durch die Studentenunruhen ausgelösten Erschütterung, welche die Plausibilität bisheriger „Großerzählungen“ untergrub und den „Traditionsbruch“ hervorrief (Kaufmann 2000: 101;
ähnlich Klages 1993). Bei Inglehart ist es der Wandel von materialistischen zu
postmaterialistischen Werten, der alle Generationen erfasst, die in der Nachkriegszeit in physischer Sicherheit und materiellem Wohlstand aufgewachsen sind (z.B.
Inglehart 1977). Säkularisierung im Sinne von einer „systematischen Erosion religi-
öser Praktiken, Werte und Überzeugungen“ steht bei Inglehart in einem engen Zusammenhang mit einem abnehmenden Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit
in einer grundsätzlich unsicheren Welt. Dieses Bedürfnis verschwindet, da die Welt
– nicht überall, aber vor allem in den westlichen Industrienationen – seit Ende des
Zweiten Weltkriegs sicherer geworden ist (Inglehart 2004: 7). Zudem haben religiöse Werte gerade im Bereich Ehe und Familie viele gesellschaftliche Funktionen
verloren, da der (post)moderne Wohlfahrtsstaat in der Versorgung der Alten und
Jungen zentrale familiäre Leistungen an sich gezogen habe (Inglehart 1998: 63-65).
„[…] due to rising levels of human security, the publics of virtually all advanced industrial societies have been moving toward more secular orientations. […] “modernization” (the process
of industrialization, urbanization, and rising levels of education and wealth) greatly weakens
the influence of religious institutions in affluent societies, bringing lower rates of attendance at
religious services, and making religion subjectively less important in people’s lives” (Norris/Inglehart 2004: 24-25, Hervorhebung im Original).
Interessanterweise hat gerade jenes Land, dessen Bevölkerung seit Beginn international vergleichender Messungen postmaterialistische Spitzenwerte aufweist – die
Niederlande – den stärksten und abruptesten Kollaps kirchlicher Milieus und religiösen Verhaltens erfahren (Andeweg/Irwin 2002: 39). Auch Becks Szenario der Risikogesellschaft (Beck 1986), betont die Auflösung alter Sicherheiten und Geborgenheiten, zu denen die religiösen Milieus an zentraler Stelle gehören, als Ergebnis von
Individualisierung und Pluralisierung von Lebensstilen. Dies betrifft alle fortge-
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References
Zusammenfassung
Sind protestantische Vereine und Netzwerke ein besserer Nährboden für die Demokratie als katholische Organisationen? Brauchen auch Religionen den Wettbewerb des freien Marktes ohne staatliche Einmischung, um sich kraftvoll und lebendig zu entfalten? Das Buch untersucht die demokratische und sozial integrative Wirkung katholischer, lutherischer, calvinistischer und säkularer Organisationsformen in Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden, Dänemark, Spanien und Schottland. Dargestellt wird die gesellschaftliche und demokratische Rolle von Religion und Kirche seit den Zeiten der Reformation bis heute. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die demokratieförderliche oder aber hemmende Wirkung von Religion und Konfession als Bestandteil europäischer Zivilgesellschaften am Beginn des 21. Jahrhunderts. Auf der Basis einer international vergleichenden Organisationsstudie kontrastiert das Buch ökonomische Theorien der Religion mit dem klassischen Säkularisierungsparadigma, sowie Sozialkapitalansätze mit Organisationstheorien, die behaupten dass die kleine, dezentral organisierte Organisationsform des Protestantismus der großen, zentralistischen und hierarchischen Organisationsstruktur des Katholizismus überlegen sei.