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für die quasi-Staatskirche, die sich veränderten Rahmenbedingungen zu stellen hatte. Nicht nur musste die katholische Kirche den Grundsatz der Religionsfreiheit
akzeptieren und sich somit – zumindest im Prinzip – der nicht länger illegalen Konkurrenz alternativer Angebote stellen. Auch verlor sie mit der Diktatur, die noch
einmal eine enge Symbiose zwischen Nation, Staat und Katholizismus geschaffen
hatte, entscheidenden Zugriff auf viele Bereiche weltlicher Macht (vgl. Kapitel 5).
Daher: „[...] the Catholic Church has declined at a time when state support has been
reduced and very few of those leaving the Church have joined any of the many but
still very small alternatives“ (Bruce 1999: 113).
Oder, wie Ibán formuliert, der Niedergang praktizierender Katholiken füllt die Kategorie der Indifferenten und kommt anderen Religionsgemeinschaften nicht zugute.
Die katholische Kirche, historisch eine Monopolkirche, ist auch heute noch „the
only religious organisation with strong roots in society“ (Ibán 1996: 93) – allerdings
mit sinkender Relevanz im Alltagsleben. Die mit 54 Prozent Abstand größte Bevölkerungsgruppe Spaniens stellt heute die Kategorie der rein nominellen Katholiken –
Katholiken, die zwar (noch) nicht aus der Kirche ausgetreten sind, aber ihren Glauben nur noch selten, wenn überhaupt, praktizieren (Montero/Calvo 2000: 127).
6.4.5 Schottland: die leere Staatskirche
Die presbyterischen Kirchen beschäftigten 1900 noch 3600 Priester. Im Jahr 1990
waren es nur noch 1450, obwohl die Bevölkerung während dieser Zeit von 4,5 auf
fünf Millionen anstieg (Bruce 1999: 68). 1876 heirateten noch 99 Prozent der Schotten kirchlich, 1990 nur noch 57 Prozent (Rose 1993, zitiert nach Bruce 1999: 71).
Dies entspricht einer Verringerung um 36 Prozent. Für fast die Hälfte dieses
Schwunds ist allein die kurze Periode der 1960er Jahre verantwortlich (Brown 2003:
31). Mitte der 1990er Jahre vermeldete die Church of Scotland gerade noch 770 000
Mitglieder (McClean 1996: 309) – ein Anteil von 15 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Der Kollaps kam auch hier mit den 1960ern, um sich in den 1980er und
1990er Jahren noch einmal dramatisch zu beschleunigen (Brown 2001: 48):
„Britain in the 1960s experienced more secularization than in all the preceding four centuries
put together. Never before had all of the numerical indicators of popular religiosity fallen simultaneously, and never before had their declension been so steep“ (Brown 2003: 29).
So war auch im Schottland des Jahres 1956 das Niveau der Kirchenmitgliedschaft
kaum geringer als 1905, zum Höhepunkt der schottischen Kirchlichkeit. Noch 1961
bezeichneten sich 67 Prozent der Schotten als zumindest „nominelle Mitglieder“ der
Kirk (Haynes 1998: 66). Die Rolle der Kirche heute ist folgerichtig eine gänzlich
andere: „The Church of Scotland may still be the established national church, but it
is no longer the church of the nation” (Massie 1999, zitiert nach Brown 2001: 48). In
der Tat hat sich seit 1955 die Mitgliedschaft in der Church of Scotland halbiert. Falls
der Schwund im selben Tempo anhält, so eine düstere Prognose, wird die Kirk irgendwann zwischen 2033 und 2047 nicht länger existieren (Brown 2001: 49). Schon
jetzt ist die britische Gesellschaft eine „unchurched society“ (Davie 1994: 145).
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Auch in Schottland findet sich die für alle europäischen Gesellschaften typische
Generationenkluft. Noch 1956 waren immerhin 39 Prozent aller schottischen Kinder
in einer der presbyterischen Sonntagsschulen eingeschrieben, 1973 waren es noch
19 Prozent um bis Mitte der 1990er Jahre pro Jahr durchschnittlich weitere acht bis
zehn Prozent zu verlieren. Wenn auch hier der Trend anhält, wird es spätestens 2010
keine schottischen Sonntagsschulen mehr geben (Brown 2003: 32). Grundsätzlich
sind nicht nur die Church of Scotland, sondern – mit Ausnahme der kleinen Gemeinde der Baptisten, deren Mitgliederzahlen zumindest stagnierten – alle Kirchen
von diesem Erosionsprozess betroffen. Die katholische Kirche, die durch irische
Einwanderer im 19. Jahrhundert einen Mitgliederboom erlebte, konnte den Niedergang immerhin bis in die 1980er Jahre hinein aufhalten. Doch dann brach sie regelrecht zusammen: „Catholic Church decline started late, but is proving to be incredibly sharp“ (Brown 2003: 34). Auch subjektive Indikatoren religiöser Befindlichkeit
und Praxis zeigen für Großbritannien, aber gerade auch für Schottland, einen steilen
Niedergang für die Periode nach 1970. Regionen, die wie Schottland historisch als
„highly religious“ galten, sind von der „Ausblutung“ religiösen Glaubens besonders
betroffen (Field 2001).
6.4.6 Dänemark: Stagnation auf niedrigstem Niveau
Seit Beginn der Erhebung von Kirchgangshäufigkeiten zeichnen sich die skandinavischen lutherischen Kirchen durch einen im europäischen Vergleich ausgesprochen
geringen Aktivitätsgrad aus. So besuchten in Dänemark um 1927 nur elf Prozent der
Bevölkerung wöchentlich den Gottesdienst. Diese Zahl ist bis in die 1990er Jahre
noch einmal drastisch auf unter zwei Prozent gefallen. Umgekehrt verdreifachte sich
der Anteil derer, die „nie“ in die Kirche gehen. Während dies in den 1940er und
1950er Jahren nur für zehn Prozent der Fall war, betrifft dies heute ein Drittel der
dänischen Gesellschaft. Allerdings hat der massive Anstieg der „Kirchenverweigerer“ bereits in den 1960er Jahren stattgefunden und bleibt seitdem – mit Schwankungen je nach Erhebung –relativ konstant (Bruce 2000: 35-37). Umgekehrt: bereits
1964 war der Prozentsatz der kirchlich „Hochintegrierten“ (mindestens wöchentlicher Kirchgang) auf deutlich unter fünf Prozent gefallen (Jagodzinski/Dobbelaere
1993: 80). Auch lassen sich für Dänemarks Staatskirche – ganz im Gegensatz zu den
Kirchen fast aller anderen Länder – keine oder generationstypische Muster feststellen. 1992 waren 88 Prozent der Dänen Mitglied der lutherischen Kirche. Bei den
über 50jährigen liegt der Anteilswert bei etwas über 90 Prozent, bei den 15 bis
19jährigen bei 89 Prozent, nur der Anteil der Kleinkinder (bis vier Jahre) liegt mit
circa 77 Prozent etwas unter dem Schnitt (Dübeck 1996: 37). Wenn man bedenkt,
dass in dieser Altersgruppe manche vermutlich schlicht noch nicht getauft wurden,
ist Dänemarks Kirchenbindung ein Beispiel für Konstanz auf sehr hohem Niveau.
Für Davie ist Dänemark (wie ganz Skandinavien) die Umkehrung britischer Verhältnisse: statt „believing but not belonging“ – der Zustand den sie für Großbritannien konstatiert – findet sich hier Zugehörigkeit ohne große Glaubensrelevanz (Davie 2000: 3).
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References
Zusammenfassung
Sind protestantische Vereine und Netzwerke ein besserer Nährboden für die Demokratie als katholische Organisationen? Brauchen auch Religionen den Wettbewerb des freien Marktes ohne staatliche Einmischung, um sich kraftvoll und lebendig zu entfalten? Das Buch untersucht die demokratische und sozial integrative Wirkung katholischer, lutherischer, calvinistischer und säkularer Organisationsformen in Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden, Dänemark, Spanien und Schottland. Dargestellt wird die gesellschaftliche und demokratische Rolle von Religion und Kirche seit den Zeiten der Reformation bis heute. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die demokratieförderliche oder aber hemmende Wirkung von Religion und Konfession als Bestandteil europäischer Zivilgesellschaften am Beginn des 21. Jahrhunderts. Auf der Basis einer international vergleichenden Organisationsstudie kontrastiert das Buch ökonomische Theorien der Religion mit dem klassischen Säkularisierungsparadigma, sowie Sozialkapitalansätze mit Organisationstheorien, die behaupten dass die kleine, dezentral organisierte Organisationsform des Protestantismus der großen, zentralistischen und hierarchischen Organisationsstruktur des Katholizismus überlegen sei.