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6.4.3 Schweiz: Integrationsverluste auf hohem Niveau
Seit der Reformation stellten die Protestanten die deutliche Mehrheit der Schweizer.
Aufgrund geringerer Geburtenraten und zunehmender Immigration vor allem im 20.
Jahrhundert, hat sich das konfessionelle Gleichgewicht deutlich zu Gunsten der
Katholiken verschoben. Während 1860 noch 59 Prozent der schweizerischen Bevölkerung calvinistischen Glaubens war (und 40 Prozent katholisch), stieg 100 Jahre
später der Anteil der Katholiken auf 45 Prozent, wohingegen Protestanten nur noch
eine knappe Mehrheit von 53 Prozent stellen (Campiche 1972: 513). Noch allerdings
waren die Schweizer religiös orientiert. Eine Studie für das Lausanne der 1960er
Jahre ergab, dass 99 Prozent aller Bürger getauft waren, 96 Prozent an der Konfirmation bzw. Kommunion teilgenommen hatten und 91 Prozent aller Ehen in der
Kirche geschlossen wurden (Campiche 1972: 515). Befragungen zur alltäglichen
Involvierung haben allerdings schon damals ein weniger rosiges – aber konfessionsspezifisches – Bild ergeben. So besuchten von den staatskirchlich gebundenen Calvinisten nur drei Prozent regelmäßig den sonntäglichen Gottesdienst, aber 30 Prozent der Katholiken und sogar 56 Prozent der freikirchlich Organisierten (Campiche
1972: 517).161 Campiches Untersuchung beruht auf einer Bevölkerungsumfrage, die
in einem Sektor der Stadt Lausanne durchgeführt wurde. Berechnet man auf dieser
Basis die konfessionelle Zugehörigkeit der Lausanner, so ergibt sich für 1965, dass
damals 56 Prozent der Bevölkerung Mitglied der calvinistischen Kirche waren, 39
Prozent der katholischen Kirche und fünf Prozent einer protestantischen Freikirche
angehörten. Die Unterschiede zur heutigen Situation sind frappant: der Anteil der
Katholiken an der Stadtbevölkerung ist mit 38 Prozent mehr oder weniger konstant
geblieben, der Anteil der Protestanten (Staatskirche und Freikirchen gemeinsam) ist
dagegen von 61 auf 29 Prozent geschrumpft: ein Verlust von 32 Prozent in knapp 40
Jahren! Die Konfessionslosen, die 1965 kaum einen Prozent der Bevölkerung ausmachten, sind heute mit 22 Prozent fast so stark vertreten wie die Protestanten.162
Auch für Bern lässt sich eine ähnliche Entwicklung beobachten. Vor allem einwanderungsbedingt (zunächst aus katholischen Kantonen, später vor allem aus Italien
und Spanien) ist der Katholikenanteil im 20 Jahrhundert sprunghaft angestiegen: von
fünf Prozent im Jahr 1860 auf 20 Prozent in den 1960er Jahren bis zu 27 Prozent im
Jahr 1990 (Gächter 1999: 109).
Allerdings hat sich – wie in den Niederlanden – die katholische Subgesellschaft,
„welche dem einzelnen einen weitgehend katholisch geprägten gesellschaftlichen
Rahmen bot“, beinahe vollständig aufgelöst (Cavelti 1995: 207). Eine Studie des
161 Ebenso zeigte sich, dass zwar 83 Prozent der Mitglieder Lausanner Freikirchen „regelmäßig“
die Bibel lesen, aber nur 18 Prozent der staatskirchlich Gebundenen und 5 Prozent der Katholiken (Campiche 1972: 518).
162 Dieser Vergleich gilt nur unter der Bedingung, dass a) die Daten der 1965er Bevölkerungsumfrage tatsächlich repräsentativ sind; und b) der Sektor Sévelin-Lausanne, Basis der 1965er
Befragung, in seiner konfessionellen Zusammensetzung Gesamt-Lausanne ähnelt.
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Nationalfonds (Dubach/Campiche 1993) zeigt eine weit verbreitete „Privatisierung“
oder Individualisierung von Religion in der schweizerischen Gesellschaft: religiöse
Vorstellungen und Praxis variieren stark und sind sehr wenig von den kirchlichen
Institutionen und Dogmen geprägt. Manche, gerade kirchliche Kommentatoren,
schreibt Kramer, haben die Ergebnisse der Studie ausschließlich als Zeichen von
Krise und Verfall interpretiert und verlangen eine Gegensteuerung durch klarere
Verbindlichkeiten, mehr Disziplin und eindeutigere kirchliche Führung (Kramer
1998: 622). Doch noch immer ist ein hoher Prozentsatz der Schweizer kirchlich
gebunden – auf Bundesebene waren dies um 1990 86 Prozent der Einwohner (Dubach 1995: 133), Nach der jüngsten Volkszählung aus dem Jahr 2000 gaben nur
circa zwölf Prozent explizit an, keiner Religionsgemeinschaft anzugehören, über
vier Prozent machten keine Angabe (Bovay/Broquet 2004: 53-55). Allerdings ist
unter den 16 bis 25jährigen die Austrittsneigung sehr ausgeprägt. Immerhin ein
Drittel kann sich vorstellen, in absehbarer Zeit die Kirchen zu verlassen – ein Austritt mit doppelten Folgen, weil die einmal Ausgetreten in der Regel auch ihre Kinder nicht mehr taufen lassen (Dubach 1995: 136). In der Schweiz sind wie in
Deutschland die reformierten Kirchen größerem Schwund ausgesetzt als die katholische Kirche. Nur ein einziger Kanton, Bern, ist heute noch protestantisch dominiert,
während sich 1970 noch in zehn Kantonen mehr als die Hälfte der Bevölkerung zum
Protestantismus bekannte (Bovay/Broquet 2004: 17).
6.4.4 Spanien: beschleunigte Modernisierung
Lange war Spanien die katholische Nation „par excellence“ (Montero/Calvo 2000:
119). Noch sind über 90 Prozent der spanischen Bevölkerung katholisch getauft
(Ibán 1996: 93) und fast alle Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen werden römisch-katholisch durchgeführt (Manuel 2002: 73). Doch hinter dieser Konstanz
verbirgt sich ein dramatischer Kollaps religiöser Praxis. Laut Daten des World Values Survey besuchten im Jahr 1981 noch 53 Prozent der Spanier regelmäßig die
Kirche, 1991 waren es nur noch 37 Prozent (Bruce 1999: 113). Ähnliche Zahlen
berichten Jagodzinski und Dobbelaere für einen Vergleich von 1981 mit 1990
(1993: 78). Für 1999 ergibt die European Values Study, dass 36 Prozent der Spanier
mindestens einmal im Monat den Gottesdienst besuchen (Lambert 2003: 70). Wenn
die Datenbasis vergleichbar ist, hieße dies, dass der Abwärtstrend Anfang der
1990er Jahre deutlich an Schwung verlor. Allerdings öffnet sich ein Graben zwischen städtischer und ländlicher Bevölkerung: auf dem Land liegt der Anteil der
häufigen Kirchgänger bei 60 Prozent, in den urbanen Zentren bei gerade 20 Prozent
(Clark 1990, zitiert nach Manuel 2002: 73). Zudem tut sich – wie in anderen westeuropäischen Ländern – ein eklatanter Generationsunterschied auf (Davie 2000: 28).
Allerdings ist in keinem anderen westlichen Land ist ein so drastischer Rückgang
der Kirchlichkeit in nur einem Jahrzehnt zu beobachten. Davie erklärt diese radikale
Entwicklung mit Spaniens Fall als „artificially delayed and therefore speeded-up
version of modernity“ (Davie 2000: 28). Das Ende des Franco-Regimes und die
fehlende Demokratisierung und Modernisierung Spaniens erforderte eine neue Rolle
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References
Zusammenfassung
Sind protestantische Vereine und Netzwerke ein besserer Nährboden für die Demokratie als katholische Organisationen? Brauchen auch Religionen den Wettbewerb des freien Marktes ohne staatliche Einmischung, um sich kraftvoll und lebendig zu entfalten? Das Buch untersucht die demokratische und sozial integrative Wirkung katholischer, lutherischer, calvinistischer und säkularer Organisationsformen in Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden, Dänemark, Spanien und Schottland. Dargestellt wird die gesellschaftliche und demokratische Rolle von Religion und Kirche seit den Zeiten der Reformation bis heute. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die demokratieförderliche oder aber hemmende Wirkung von Religion und Konfession als Bestandteil europäischer Zivilgesellschaften am Beginn des 21. Jahrhunderts. Auf der Basis einer international vergleichenden Organisationsstudie kontrastiert das Buch ökonomische Theorien der Religion mit dem klassischen Säkularisierungsparadigma, sowie Sozialkapitalansätze mit Organisationstheorien, die behaupten dass die kleine, dezentral organisierte Organisationsform des Protestantismus der großen, zentralistischen und hierarchischen Organisationsstruktur des Katholizismus überlegen sei.