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6. Nach der Schlacht: Die Kirchen werden Teil der Zivilgesellschaft
Die Kirche hatte im Laufe der Jahrhunderte den Kampf um die Macht verloren. Die
Reformation beraubte sie ihrer Einheit und Unabhängigkeit, der säkulare Staat, der
auf die Revolutionsjahre folgte, verbannte sie in das Reich der Zivilgesellschaft.
Wie arrangierten sich die Kirchen mit dieser für sie zunächst so undankbaren Rolle?
Gelang dies manchen Konfessionen besser als anderen? Welche Auswirkungen hatte
die zivilgesellschaftliche Positionierung auf das kirchliche Verhältnis zu Demokratie
und Moderne? Welche Rolle spielen kirchliche Organisationen, Werte und Verhaltenskodizes im heutigen Europa? Dieses Kapitel untersucht den Einfluss der zivilgesellschaftlichen „Gründerjahre“ auf die Vereinswelt, wie sie sich heute zu Beginn
des 21. Jahrhunderts darstellt. Und: Haben manche der Pfade und Entwicklungen,
die Kirche und Staaten im Laufe der Jahrhunderte beschritten haben, eine besseren
Ausgangslage für die Herausforderungen, die das 20. Jahrhundert ihnen zumuten
würde, geschaffen? Nun wartete ein ganz neuer „Feind“ auf die Kirche. Die Menschen verloren schlicht das Interesse: an der Kirche als Institution, an der Religion
als sinn- und wertstiftende Instanz.
6.1 Die Subkultur als anti-modernistische Reaktion
Nach der Entwicklung des Staates zum konfessionsneutralen Staat blieb den Kirchen
nur die Zivilgesellschaft zur Entfaltung. Die Niederlage gegen den Staat wurde zur
Geburtsstunde christlicher Zivilgesellschaften: Bewegungen, Parteien und Vereine
entstanden allerorts, „nachdem die katholische Kirche säkularisierenden Attacken
modernisierender Staaten unterlag“ (Hanley 2003: 232). Die Kirchen hatten im
Verlauf der Jahrhunderte in allen europäischen Gesellschaften ihr Monopol auf
Wohlfahrts- und Bildungsangelegenheiten verloren. Mancherorts wurden sie sogar
nicht nur staatlicher Konkurrenz ausgesetzt, sondern ihre Einmischung in schulische, erzieherische Belange schlicht untersagt.131 Wenn sie nicht jeden gesellschaftlichen Einfluss verlieren wollten, mussten die Kirchen reagieren: mit der Schaffung
von Institutionen, die allein ihrer Zuständigkeit und Kontrolle oblagen. Im 19. Jahrhundert entstand so ein engmaschiges Netz aus Einrichtungen in konfessioneller
Trägerschaft. Die Kirchen antworteten auf ihre Entfernung aus staatlichen und bürgerlichen Aufgabenbereichen mit der Errichtung einer konfessionell abgeriegelten
Gesellschaft innerhalb des Staates:
131 Dabei glaubten beide Seiten, die staatliche und die kirchliche, „dass die Zukunft dem gehöre,
der die Institution Schule beherrsche, die, wie man glaubte, die künftigen Generationen forme“ (Rémond 2000: 100). So formulierte z.B. 1862 der deutsche Liberale Heinrich van Sybel: “Wer die Schule besitzt, der besitzt die Herrschaft über die Zukunft und über die Welt“
(Mommsen 1993: 426).
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„Nachdem man die Kirchen nach und nach aus der Leitung der bürgerlichen Gesellschaft gedrängt hatte, richteten sie ihre Hoffnungen auf die Entstehung einer konfessionellen Gesellschaft – zum Beispiel im Bildungswesen. In dem Maß wie der vom Gefühl seiner Verantwortung für die Schulen überzeugte Staat ein öffentlich-rechtliches Schulwesen aufbaute, das
nicht mehr unter der Aufsicht kirchlicher Würdenträger stand, oder, noch mehr, die Behörden
in einem bestimmten Verständnis des Laizismus glaubten, an diesen Schulen jegliche Beziehung zur Welt der Religion ausschließen zu müssen, richtete die katholische Kirche ein Netz
klar konfessionell geprägter Schulen ein, die mit den Staatsschulen konkurrierten“ (Rémond
2000: 99).
Das gleiche galt für Hospize und Krankenhäuser – uralte Angelegenheiten der Kirche bzw. religiöser Orden, denen nun der Staat säkulare Konkurrenz entgegengestellt hatte. Die Kirche stieß allerdings auch in neue Bereiche vor. So entwickelte
sich eine explizit konfessionelle Presselandschaft, vom dörflichen Mitteilungsblatt
der örtlichen Pfarrei bis zu überregionalen Tageszeitungen.132 Auch nutzten die
Kirchen das neue Organisationsrecht, das die Arbeiterbewegung dem Staat abgetrotzt hatte und christliche Gewerkschaften entstanden. Das 19. Jahrhundert markiert
zudem den Beginn der konfessionellen Vereinswelt. Organisationen aller Art – von
Wohltätigkeitsvereinen und Jugendgruppen über Studienkreise bis zum Sportverein
– wurden im Umfeld der Kirchen ins Leben gerufen. In allen Ländern mit katholischer Bevölkerung entwickelte sich zudem ein explizit politischer Katholizismus,
der in der Gründung katholischer Parteien gipfelte, die wie in den Niederlanden, der
Schweiz oder Deutschland für die Emanzipation der Katholiken in einer protestantisch dominierten Umwelt kämpften oder wie in Spanien (aber auch Österreich,
Italien oder Belgien) für eine christliche, also katholische, Gesellschaft mobilisierten
(Blaschke 2002b: 44). Die katholische Subkultur entstand, die den katholischen
Volksteil „zum Katholizismus als einer Art Subgesellschaft zusammenschweißte“
(Kaufmann 2000: 94). Dem gläubigen Katholik war es möglich fast sein ganzes
Leben um und in diesen katholischen Institutionen und Vereinen zu organisieren.
„An der Wiege des ‚Milieus’“ stand die „Idee der Gegengesellschaft Pate“ (Damberg 2002: 339). Die Milieubildung war ansteckend und vielerorts versuchten auch
die Protestanten (in den Niederlanden sogar die Liberalen und überall auch die Arbeiterbewegung) das katholische Modell zu kopieren. Warum?
Die Kirchen reagierten mit dieser Subkultur-Bildung nicht nur auf den erzwungen
Rückzug von der politischen Macht, sondern gerade auch auf das für sie bedrohliche
Auseinandertriften von religiösen Moralvorstellungen und gesetzlichen Regelungen.
Soziales Engagement und religiöse Vitalität war „die Reaktion der Kirchen auf die
wachsende Gleichgültigkeit gegenüber religiösen Fragen“ (Gadille 1997b: 564). Die
Errichtung konfessioneller Schulen, Jugendorganisationen und Sportvereinen erschien den Kirchen als wichtige Sozialisationsagenturen, um der Jugend religiöse
Moralvorstellungen zu vermitteln. Dabei war es wichtig, das Kind oder den Jugendlichen soweit wie irgend möglich von konkurrierenden Alternativvorstellungen fern
132 In Deutschland gab es 1865 insgesamt 91 katholische Zeitungen, 1880 nach dem Kulturkampf waren es bereits 221, um schließlich um 1912 einen Höhepunkt mit 446 katholischen
Zeitungen zu erreichen (Blaschke 2002b: 59).
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zu halten. Daher musste das Milieu so geschlossen wie möglich sein und gleichzeitig alle Angebote replizieren, welche in der säkularen Konkurrenzwelt existierten
und den Gläubigen potentiell attraktiv erscheinen könnten. Das Milieu – gerade das
katholische – war somit der Versuch eines Rückzugs von den Verwerfungen der
modernen Gesellschaft hin zur organischen Organisation des Zusammenlebens, in
der die religiösen Moralvorstellungen ihre Gültigkeit behielten. Der Preis, den die
Subkulturen dafür zahlen mussten, „war die zunehmende Isolierung von der kulturellen Entwicklung des Landes“ (Conzemius 1997b: 651). Diesen Preis zahlen religiöse Milieus aber bis heute gerne, da sie mit der Unabhängigkeit von der säkularen
Umwelt belohnt werden:
„Die Abschottung des fundamentalistischen Milieus von der „Welt“, die Trennung von Ungläubigen und die Errichtung einer sozialen Infrastruktur machen das Milieu [...] auch tatsächlich weniger abhängig von den Risiken der säkularen Kultur, Politik und Ökonomie“ (Riesebrodt 2000: 80).
6.1.1 Subkultur, Milieu und Säule: Vereinsbildung in gemischt konfessionellen und
katholischen Staaten
Alle gemischt konfessionellen Staaten entwickelten eine ganz typische Form des
Konfessionsstaates und des Umgangs mit Minderheitsreligionen, der in gewisser
Weise zum sie prägenden Charakterzug des 19. Jahrhunderts wird: Abschottung und
vertikale Versäulung. Blaschke nennt diese Entwicklung „religiöse Apartheid“, die
alle Länder dieses Typs gleichermaßen erfasste und nur länderspezifische Labels
trägt: Ghetto, Milieu, Subkultur, Säule, Lager (Blaschke 2002b: 67).133 Die Zeitspanne von 1860 bis zum Ersten Weltkrieg gilt als Periode „einer wachsenden Konfessionalisierung der Politik“ (Tihon/van de Sande 1997b: 549). Die Niederlande
sind zum sprichwörtlichen Paradebeispiel subkultureller Abschottung geworden.
„Die niederländischen Katholiken hatten ursprünglich die Formierung des deutschen
Milieus als Vorbild kopiert, es dann aber in Geschlossenheit und Reichweite noch
weit übertroffen“ (Damberg 2002: 347).
Konfessionelle Verbände und Gewerkschaften vereinigten sich zur Unterstützung
der Konfessionsschule und zur Durchsetzung politischer Interessen. Hinzu kam eine
Unzahl konfessioneller Sozialverbände:
„Durch die Gründung von kirchennahen Vereinen (verenigingen) und Stiftungen (stichtingen),
die soziale Dienstleistungen bereitstellten, eröffnete sich für die Kirchen organisationssoziologisch ein weiterer Zugang zu ihrer Glaubensklientel, der eine umfassende Integration des Individuums in die jeweilige Säule erlaubte“ (Fix/Fix 2005: 65).
133 Aus politikwissenschaftlicher Sicht ist diese Vermischung von Begrifflichkeiten mit unterschiedlichem konzeptionellem Hintergrund natürlich nicht unproblematisch. Aus Sicht des
Historikers ist dies aber vielleicht eine zu spitzfindige Differenzierung eines im Grunde genommen sehr ähnlichen Phänomens: Abschottung der Minderheiten voneinander und der Gesamtgesellschaft.
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Die Versäulung und Fragmentierung der Niederlande reichte bis in bizarre Bereiche
wie beispielsweise der Koexistenz einer calvinistischen neben einer katholischen
Ziegenzüchter-Vereinigung (van Rooden 2003: 118). Mit der Vielzahl der Vereine
kamen die Verbote: 1869 wurde allen niederländischen Katholiken kraft bischöflicher Autorität der Besuch öffentlicher Schulen verboten. 1912 untersagten die Bischöfe bei Androhung der Exkommunikation die Mitgliedschaft in interkonfessionellen Gewerkschaften (Damberg 1997: 533). 1933 erging an alle Katholiken die
Warnung, dass ihr Seelenheil in Gefahr sei, wenn sie sich in nicht-katholischen
Vereinen oder Organisationen engagierten (der sogenannte „Sport-Hirtenbrief“,
Blaschke 2002b: 55). Noch 1954 wurde das Verbot erneuert (Sengers 2004: 132).
Auch wenn gerade die katholische Kirche die sportliche Betätigung als moralisch
zweifelhaft betrachtete, konnte sie sich dem neuen Freizeittrend nicht widersetzen.
Das innerkirchliche Argument – nicht nur in den Niederlanden – lautete, dass unter
gemischtkonfessionellen Bedingungen Freizeitaktivitäten (Tanzen) im eigenen Kreis
und unter Aufsicht erforderlich seien, um Mitgliederverluste zu vermeiden und die
Gefahr der Mischehen zu verringern (Damberg 1997: 540). Um die Gläubigen bei
der Stange zu halten, bzw. das Abdriften der Sportbegeisterten in säkulare Vereine
zu verhindern, kam es zum massenhaften Aufbau exklusiv konfessioneller Sportvereine, der im katholischen Fall in der Gründung einer nationalen katholischen Fußballliga kulminierte (Derks/Budel 1990, zitiert nach Sengers 2004: 132).134 Die
Gläubigen folgten und eine fast perfekte Abschottung des religiösen Milieus gelang.
Jährliche priesterliche Hausbesuche zur Osterzeit dienten der kirchlichen Kontrolle
der Gläubigen (Caspers 1995, zitiert nach Sengers 2004: 133). Damberg interpretiert
diesen „ethischen Rigorismus“ in der Kontrolle der Katholiken – ein Überwachungssystem, das der katholischen Kirche anderer Länder fremd war – als „unbewusste Übernahme der strengen religiösen Observanz der Calvinisten“, „die der
gesamten niederländischen Kultur ihren Stempel aufgeprägt hatte“ (Damberg 1997:
565). „Ein neues Gleichgewicht entstand auf der Basis der verzuiling („Versäulung“), basierend auf den beiden großen Konfessionen und dem laizistischen
Milieu“ (Tihon/van de Sande 1997b: 549).
Im System der Versäulung, wird die Konfession zum Organisationsprinzip. Die
niederländische Nation bestand nicht länger aus Individuen, sondern aus verschiedenen, gleichrangigen Gruppen: „Ideologically, the ghettos took over the nation“ (van
Rooden 2003: 117). Die einzelnen Konfessionen bilden dabei unabhängige und fast
vollständig geschlossene Subsysteme, die alle öffentliche Bereiche und Aufgaben im
Proporz untereinander erfüllen. Das Aushandeln von Kompromissen ist dabei auf
die Elite jeder Säule begrenzt, während das einfache Mitglied in ein engmaschiges
Organisationsnetzwerk eingebunden bleibt, das Kontakte mit Mitgliedern anderer
Milieus mehr oder weniger ausschließt. Diese „Säulenstruktur“ prägte das soziale
Leben des Landes bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts (Tihon/van de
134 Auch in Deutschland kam es 1909 zur Gründung einer römisch-katholischen „Fußballkommission“ (Blaschke 2002b: 54).
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Sande 1997b: 556). Die Konfession war allgegenwärtig: „Der Konfessionalismus
prägte den Parlamentarismus, die Parteien, die Innenpolitik und die Machtverhältnisse“ (Zahn 1993: 166).
In Deutschland erhielt die katholische Vereinsbildung durch die Dynamik des Revolutionsjahres 1848 einen großen Aufschwung, da die Katholiken den allgemeinen
Ruf nach politischer Freiheit mit der Forderung nach religiöser Freiheit und Selbstbestimmung verbanden (Maier 2004: 65; Hürten 1986). Die Demokratiebewegung
gab den deutschen Katholiken ein neues gemeinschaftsbildendes Selbstbewusstsein
angesichts der protestantischen Hegemonialstellung, oder, wie Conzemius (1997b:
304) meint: „Die Demokratie war der Schrittmacher des Ultramontanismus.“ Eine
der zentralen katholischen Vereinsgründungen im Zusammenhang mit der 1848er
Revolutionsbewegung war die des Centralverein für religiöse Freiheit, der sich bald
in Pius-Verein umbenannte und sich in größter Geschwindigkeit und unter Massenandrang in allen deutschen Ländern mit katholischer Bevölkerung ausbreitete.135
Eine zweite Welle der Vereins- und Verbandsgründungfolgte, wie Morsey schreibt,
„als eine Antwort des Kirchenvolks auf den praktizierten Polizeistaat“ im Rahmen
des Kulturkampfs (Morsey 1997: 151). Auch die zweite Welle traf auf ungeheure
Unterstützung seitens der Katholiken. So wurde z.B. der Volksverein für das katholische Deutschland vor dem ersten Weltkrieg nur von der SPD hinsichtlich Mitgliederzahl übertroffen (Pappi 1985: 266). Die katholische Vereinsbildung entsprang
einer von unten gewachsenen Laienbewegung, „zwar mit Unterstützung des niederen Klerus, doch ohne direkte Geburtshilfe der Hierarchie“ (Conzemius 1997b: 306).
Aber im Gegensatz zum Protestantismus, dessen Vereine aus den dezidiert antistaatskirchlich agitierenden Erweckungsbewegungen stammten und daher wie in
Preußen auch massiver Verfolgung seitens des Staates ausgesetzt sein konnten (Greschat 1997: 315-316), war die Bindung der katholischen Laienbewegung an die
Mutterkirche eng und eine Verselbständigung der Bewegung, die den Rahmen der
Kirche sprengen könnte, stand nie zur Diskussion (Conzemius 1997b: 306). Besier
spricht sogar davon, dass das katholische Vereinswesen spätestens seit der Kulturkampfzeit zum Forum Papst- und zentrumstreuer Katholiken geworden war (Besier
1998: 25).
So entstand eine „bunte, unübersichtliche Vielzahl wohltätiger Vereine, Stiftungen und Einrichtungen für verschiedene Adressatengruppen“ (Sachße 1996: 45). Im
Endeffekt spaltete die Konfession Vereinswesen, Politik und Wirtschaft. Teilgesellschaften formierten sich und auch für Deutschland lassen sich niederländische Versäulungsprozesse nicht übersehen (Blaschke 2002b: 22). Die konfessionelle Vereinsbildung war zunächst eine katholische Angelegenheit und erlebte in den 1890er
Jahren ihren Höhepunkt. Nach 1918, sozusagen als Reaktion auf das bereits gefestigte katholische Milieu, folgt ein Gründungsboom explizit protestantischer Vereinigungen (Blaschke 2002b: 57).
135 In Freiburg z.B. bildeten sich 400 unterschiedliche Vereine mit insgesamt 100.000 Mitgliedern, die sich aus allen gesellschaftlichen Schichten rekrutierten (Conzemius 1997b: 304).
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Auch im katholischen Milieu der Schweiz, das durch den Kulturkampf und die dadurch entstandene Frontstellung zwischen nationalstaatlich und päpstlich orientierten Katholiken innerlich zerstritten war, hatten die Auseinandersetzungen eher revitalisierende als lähmende Folgen. „Analog zu deutschen und anderen Vorbildern
entwickelte sich ein Organisations- und Vereinswesen, das Parallelen zum holländischen Verzuiling aufweist“ (Conzemius 1997c: 577). So bezeugt eine Dokumentation für die Stadt Bern für die 1920er Jahre die Existenz von über 90 verschiedenen
katholischen Vereinen (Wäger 1999b: 41-42), und das obwohl (oder vielleicht gerade weil) die römisch-katholische Gemeinde eine Diaspora-Existenz zwischen staatlich privilegierter reformierter und staatlich unter-stützter christkatholischer Kirche136 führte und im Stadtgebiet „nur“ circa 12.000 Katholiken lebten (Gächter
1999: 113). Wie in Deutschland und den Niederlanden war das frühe konfessionelle
Vereinswesen vor allem seelsorgerisch und missionarisch ausgerichtet, in den
1870er Jahren folgten Vereinsgründungen im karitativen und genossenschaftlichen
Bereich. Interessanterweise hat sich in der Schweiz ein protestantisches Assoziationswesen entwickelt, welches das „der Katholiken wohl noch übertraf“ (Conzemius
1997c: 578).137 Allerdings wirkte das protestantische Engagement, häufig pietistisch
inspiriert, wie in den Niederlanden verstärkt in der äußeren Missionierung in Übersee und europäischen Nachbarländern. Der Schweizer Katholizismus dagegen war
auf Grund seiner „Gettosituation innerhalb der schweizerischen Gesellschaft“ (Conzemius 1997c: 579) vor allem nach innen gerichtet. Die größere Offenheit des
schweizerischen Protestantismus führte diesen mittelfristig an die Entwicklung der
bürgerlichen Gesellschaft heran und – so Conzemius – reduzierte das Christentum
auf eine Art bürgerliche Religion. Im Gegensatz dazu behaupteten sich Schweizer
Katholiken noch lange als „Sondergesellschaft“ (Conzemius 1997c: 579).
Die deutschen, niederländischen und schweizerischen Katholiken hatten auf Grund
ihrer Minderheitenposition in einem lutherisch bzw. calvinistisch geprägten Staat
schon sehr früh diese Organisationsnetzwerke entwickelt und eine geschlossene
katholische Subkultur gebildet. Aber auch in rein katholischen Nationen wie Frankreich (nach 1905) und Spanien kam es zu ähnlichen Entwicklungen als endgültig
absehbar war, dass der säkulare Staat nicht bereit war, die christliche Gesellschaft zu
fördern. Schon vor dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs war die katholische
Kirche „zum Zentrum eines Netzwerkes von Vereinigungen geworden“ – ein Netzwerk, das – wie Pérez-Díaz schreibt – einen großen Teil der spanischen Gesellschaft
umfasste (2001: 533). Nach dem Sieg Francos begann die „Blütezeit der Acción
Católica“ als die katholische Kirche – eine „Erweiterung und Stütze des Staates“ –
136 Die Christkatholiken hatten sich wie die Altkatholiken in Deutschland nach der päpstlichen
Unfehlbarkeitserklärung von der katholischen Mutterkirche getrennt. Der Kanton Bern versuchte gezielt diese neue katholische Gruppierung zu privilegieren, um die romtreuen Katholiken zu schwächen (ausführlicher in Kapitel 5).
137 Dies ist noch heute sichtbar, da die protestantische Diakonie drei Viertel aller konfessionellen
Wohlfahrtseinrichtungen unterhält, obwohl nur 33 Prozent der Schweizer Mitglied der reformierten Kirche sind (Fix/Fix 2005: 109).
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vermehrt Anstrengungen unternahm, die gesamte Gesellschaft zu erreichen (Pérez-
Díaz 2001: 538).
„Sie organisierten sich als von der übrigen Gesellschaft abgesonderte Gruppe mit eigenen konfessionellen Organisationen und dem Ziel, Menschen jeden Lebensalters und aus allen Berufsgruppen in einem engmaschigen Netz von Institutionen – Schulen, Gewerkschaften und Vereinen aller Art – zu erfassen, die allein von der Kirche kontrolliert wurden“ (Rémond 2000:
166-7).
Auch die spanische Kirche, die im Ringen um die Macht am wenigsten Kompetenzen verlor bzw. diese immer nur kurzfristig abgeben musste, zog somit eine den
katholischen Kirchen anderer Länder vergleichbare Lehre aus den Revolutionsjahren: Auf den Staat war kein Verlass. Um ihre Position zu sichern, musste sie die
(Zivil-)Gesellschaft gewinnen.
So entwickelte sich in allen Nationen mit größerem katholischen Bevölkerungsanteil eine Gesellschaft in der Gesellschaft, eine Gegen- oder Nebengesellschaft, die –
so die Befürchtung vieler liberal und national gesinnter Zeitgenossen – nicht nur die
Einheit der Nation bedrohte, sondern auch langfristig undemokratische und irrationale Auswirkungen haben mochte, da es einen Teil der nationalen Jugend dem aufgeklärten Vernunftdiskurs entzog und stattdessen den Glauben an eine historisch
überholte, christliche Gesellschaft nährte. Allerdings hatte die Milieubildung für die
Katholiken, die sich gerade in protestantisch dominierten Gesellschaften quasi in
Quarantäne emanzipieren konnten, langfristig – und auch aus demokratischer Perspektive – vermutlich mehr positive als negative Seiten. Für Nipperdey zumindest
steht fest, dass die ursprünglich anti-aufklärerische und anti-modernistische Milieubildung den Weg der Katholiken in die Demokratie erst ermöglichte:
„Die Intensität der katholischen Subkultur, ja auch das befestigte Ghetto, haben gewiß die
Selbstbehauptung der katholischen Kirche als Volkskirche, ihre Krisenresitenz nach 1918 und
auch nach 1933 gegen linke und rechte Totalitarismen und – langfristig – ihre Erneuerungspotentiale mit ermöglicht, ja getragen. Und mehr noch, der Modernisierungsschub im Vereinswesen hat den Eintritt des Katholizismus ins 20. Jh., dem doch die Kirche abgeneigt gegen-
überstand, entschieden befördert und damit die Ansätze zur positiven Einfügung in die Republik, in eine demokratische, im Prinzip egalitäre und zuletzt auch pluralistische Gesellschaft“
(Nipperdey 1994: 444).
Typisch für die erste Phase konfessioneller Vereinsbildung in allen Nationen war die
Gründung von Organisationen als Antwort auf die soziale Frage, gleichermaßen der
Bekämpfung des Pauperismus und einer wachsenden Arbeiterbewegung gewidmet.138 Für den Katholizismus wurde die Entdeckung der sozialen Frage „zum Katalysator für die Verteidigung seiner geschwächten Position in einem un- oder antikatholischen Staat“ (Bahle 2003: 400). Typisch für den Protestantismus bzw. die
vielfältigen Erweckungsbewegungen die an seinen Rändern entstanden und das
soziale Engagement initiierten, ist dagegen die Betonung des religiösen Rettungsgedankens: „Die Werke der Nächstenliebe – Waisenhäuser, Schulen, Krankenhäuser
usw. – waren insofern der Verkündigung des göttlichen Wortes und der Verbreitung
138 Auf katholischer Seite zentral sind vor allem die Kolpingvereine und das um sie entstehende
Genossenschaftswesen, auf protestantischer Seite die Vereinigungen der Inneren Mission.
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der Hl. Schrift nachgeordnet“ (Greschat 1997: 321). Aus der hegemonialen Position
des Protestantismus in allen drei gemischt konfessionellen Gesellschaften, sowie
seiner inneren Spaltung, ergibt sich schließlich die Frage, ob der Protestantismus je
ein dem Katholizismus vergleichbares Milieu hervorbrachte (kritisch z.B. Friedrich
2002: 104-110). Das Bild einer protestantischen Konfession, erst recht eines protestantischen Milieus wird daher von vielen Autoren bestritten. Der Protestantismus ist
vielgesichtig: konservative oder orthodoxe Elemente stehen gegen einen liberalen
und staatsnahen Flügel (Nipperdey 1994: 423). Andere sprechen sogar von der
„Spaltung des Protestantismus“ oder einem „innerprotestantischen Kulturkampf“
(Graf 1993; Hübinger 1994: 309); eine „bloße Gegenüberstellung“ von Protestantismus und Katholizismus greift „in jedem Fall“ zu kurz (Friedrich 2002: 101). Dieser Einwand macht auch aufgrund älterer milieusoziologischer Untersuchungen von
Lepsius Sinn: schon 1966 unterschied er für Deutschland ein seit der Kulturkampfzeit zusammengeschweißtes katholisches Milieu von drei weiteren „sozialmoralischen Milieus“, die allesamt auf verschiedenste Weise protestantisch geprägt sind:
ein ländlich-konservativ-protestantisches Milieu, ein – wenig geschlossenes – städtisch-bürgerlich-protestantisches Milieu und schließlich ein sozialdemokratisches
Milieu, das sich hauptsächlich aus areligiösen oder dissidenten Protestanten zusammensetzt (Lepsius 1993: 41, 47-49). Auch in den Niederlanden ist der Säulen- oder
Milieucharakter des Protestantismus nicht unumstritten, gerade im Vergleich zum
hohen Niveau der „sozialen Apartheid“ innerhalb der katholischen Säule (Andeweg
und Irwin 2002: 23). Der katholischen Säule am ähnlichsten war die Milieuorganisation der Gereformeerden; es folgten die Sozialdemokraten, gefolgt von der loseren
Struktur der ehemaligen „öffentlichen“ Religion der Hervormden, während die sogenannten liberale Säule, eher eine Restkategorie bildete, die alle Menschen aufnahm, die nicht in diese Säulenstruktur passten oder passen wollten (Andeweg/Irwin
2002: 25). Misst man den Grad der Versäulung mit Lijpharts Kriterienkatalog,139 so
erreicht nur die katholische Säule Spitzenwerte auf allen Indikatoren. Nicht nur ist
die calvinistische Säule weniger stringent organisiert, sie ist zudem – wie in
Deutschland – in mindestens zwei Subsäulen oder -milieus gespalten.
6.1.2 Orthodoxie gegen Verweltlichung: Vereinsbildung in protestantischen Staaten
Ähnliche religiöse Sub-Gesellschaften konnten (und mussten) sich in den Ländern
protestantischer Staatskirchen auf Grund des eher harmonischen und arbeitsteiligen
Verhältnisses zwischen Kirche und Staat natürlich nicht bilden. Dennoch kam es zu
prinzipiell ähnlichen Entwicklungen. Proteste kamen vor allem aus den Reihen so-
139 Lijphart (1968) nennt fünf Kriterien: 1) Die Rolle von Ideologie/Religion innerhalb der Säule,
2) Größe und Dichte des organisatorischen Netzwerkes, 3) die Geschlossenheit des organisatorischen Netzwerkes, 4) das Maß sozialer Apartheid, also Grad des säulensprengenden Sozialverhaltens und 5) das Ausmaß mit dem Milieuverhalten und Loyalität durch subkulturelle
Eliten gefördert wird.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Sind protestantische Vereine und Netzwerke ein besserer Nährboden für die Demokratie als katholische Organisationen? Brauchen auch Religionen den Wettbewerb des freien Marktes ohne staatliche Einmischung, um sich kraftvoll und lebendig zu entfalten? Das Buch untersucht die demokratische und sozial integrative Wirkung katholischer, lutherischer, calvinistischer und säkularer Organisationsformen in Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden, Dänemark, Spanien und Schottland. Dargestellt wird die gesellschaftliche und demokratische Rolle von Religion und Kirche seit den Zeiten der Reformation bis heute. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die demokratieförderliche oder aber hemmende Wirkung von Religion und Konfession als Bestandteil europäischer Zivilgesellschaften am Beginn des 21. Jahrhunderts. Auf der Basis einer international vergleichenden Organisationsstudie kontrastiert das Buch ökonomische Theorien der Religion mit dem klassischen Säkularisierungsparadigma, sowie Sozialkapitalansätze mit Organisationstheorien, die behaupten dass die kleine, dezentral organisierte Organisationsform des Protestantismus der großen, zentralistischen und hierarchischen Organisationsstruktur des Katholizismus überlegen sei.