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5. Staat und Kirche: Ringen um die Macht
Vor ungefähr 1000 Jahren war Europa ein vollständig und einheitlich christianisierter Kontinent. Noch älter ist die Allianz zwischen Staat und Kirche. Seit Kaiser
Konstantin im Jahr 312 die ehemals verfolgte Sekte der Christen zur alleinigen Religion des Römischen Reiches erklärte, hat sich ein Muster der Beziehungen zwischen
weltlicher und geistlicher Macht etabliert, das sich in der Geschichte Europas über
die nächsten 1500 Jahre immer wieder wiederholen sollte (McLeod 2003: 1). Aber,
wie Rémond schreibt, „die Religion konnte die Menschen einander nicht näher bringen, sie entwickelte sich vielmehr zum Gegenstand der Zwietracht“ (2000: 33). Vor
allem zwei Konflikte haben das Jahrhunderte überdauernde Muster im Verhältnis
zwischen Staat und Kirche zunächst gesprengt und dann dauerhaft verändert und
neu geprägt – „critical junctures“ in Rokkans Worten, die bis heute ihre Spuren
hinterlassen (Rokkan 2000: 20; McLeod 2003: 5; Hall/Taylor 1996: 10): Die Reformation im 16. Jahrhundert, welche die Einheit des Christentums ein für allemal
beendete, sowie die Französische Revolution, in deren Zuge sich der konfessionsneutrale, säkulare Staat durchsetzen konnte. Beide Ereignisse haben ganz Europa
erschüttert, sind aber von unterschiedlichen Ländern in jeweils spezifischer Form
erfahren worden. Auf Ereignisse, auch solche, die lange währende Gewissheiten und
Traditionen mit Macht in Frage stellen, werden Antworten gewählt, die der Logik
der historischen Entwicklung entsprechen (Pütz 2004: 3-6). Hall und Taylor fassen
die Perspektive des historischen Institutionalismus zusammen:
„They have been strong proponents of an image of social causation that is ‚path dependent’ in
the sense that it rejects the traditional postulate that the same operative forces will generate the
same results everywhere in favour of the view that the effect of such forces will be mediated
by the contextual features of a given situation often inherited from the past” (Hall/Taylor
1996: 9).
Akteure und Institutionen, Individuen und politische Kollektive reagieren „nicht
einfach mechanisch auf veränderte, äußere Reize“ (Lehmbruch 1998: 12). Und noch
einmal Lehmbruch:
„[…] und gerade bei starken Veränderungen der äußeren Rahmenbedingungen kann es für die
Vereinfachung einer komplexen Realität unter Umständen hilfreich sein, wenn man sie auch
im Rahmen früherer Erfahrungen interpretiert und an strategischen Repertoires festhält, die
sich in der Vergangenheit bewährt haben“ (Lehmbruch 1998: 12).
So haben auch die beiden Schlüsselereignisse des Staat-Kirche-Verhältnisses – Reformation und Französische Revolution – sehr verschiedenartige Schlussfolgerungen
provoziert: aus einem einzigen gültigen Muster der Staat-Kirche Beziehung entstand
die Vielzahl unterschiedlicher Staat-Kirche-Verhältnisse. Dieses Kapitel übernimmt
die Grundüberlegung des historischen Institutionalismus und sein Konzept der Pfadabhängigkeit als Arbeitshypothese. Ob sich die unterschiedlichen Reaktionen auf
diese Schlüsselereignisse noch heute im aktuellen Staatskirchenrecht widerspiegeln,
ob also der einmal eingeschlagene Pfad bis in die Gegenwart beibehalten wurde, ist
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eine Frage, die im Laufe diese Arbeit zu klären ist. Ziel dieses (und des folgenden)
Kapitels ist folglich nicht eine chronologische Beschreibung des Staat-Kirche-
Verhältnisses von seinen Anfängen bis heute, sondern der Versuch, die Relevanz der
beiden kritischen Momente in den sechs Ländern dieser Untersuchung nachzuvollziehen. Welche Lehren haben diese Länder aus beiden Ereignissen gezogen? Wie
und auf welche Weise mündeten diese Reaktionen in bis in die Gegenwart reichende
Beziehungen zwischen Staat und Kirche? Beide historischen Kapitel sollen so dazu
dienen, eine kontextsensitive und historisch stimmige Operationalisierung zeitgenössischen Staatskirchenrechts, wie dies Kapitel 7 zur Aufgabe hat, vorzubereiten.
In diesem Sinne dient der historische Blickwinkel noch einem zweiten Zweck.
Staatskirchenrechtliche Bestimmungen reichen in viele Details. Was ist wichtig, was
ist eher marginal? Die Reaktion der zentralen Akteure seitens der Kirche(n) und des
Staates auf diese aus solchen „critical junctures“ sich ergebenden neuen Machtkonstellationen, Ideen und Herausforderungen sollen hier ausschlaggebend sein. Nur was
die Akteure selbst für konfliktträchtig, kämpfenswert und für ihre Position zentral
erachteten – oder umgekehrt, was für sie als nicht trivial und marginal galt – soll in
Kapitel 7 zur Bestimmung des aktuellen Staat-Kirchen-Verhältnisses herangezogen
werden.
Der Katholizismus der Reformations-Ära wird gern als korrupt, spiritistisch verarmt
und theologisch verwischt bezeichnet – eine grundsätzlich pathologische Situation,
in der beherzte Reformer wie Luther und Calvin eine moralisch begründete und
theologisch fundierte Vision religiöser Praxis boten (Wallace 2004: 8). Wie meist,
sind monokausale Erklärungen nicht ausreichend. So führte ein ganzes Bündel unterschiedlicher Entwicklungen – von denen der aktuelle Zustand der katholischen
Kirche sicher einer der bedeutendsten war – zum Zusammenbruch der christlichen
Einheit Europas. Die tödlichen Pestwellen, die Europa in der Vor-Reformationszeit
mehrfach heimsuchten, hatten unter den Überlebenden eine verstärkte Hinwendung
zum Spirituell-Religiösen zur Folge. Die verschiedenen Schismen innerhalb der
katholischen Kirche, der päpstliche Verlust an Einfluss auf die entstehenden Nationalkirchen, sowie die zunehmende Verstrickung päpstlicher Amtsinhaber in italienische Realpolitik und kriegerische Auseinandersetzungen um die Hegemonie auf der
italienischen Halbinsel schwächten das Papsttum ungemein und ließen seine finanziellen Ressourcen austrocknen.88 Die Konzentration auf inner-italienische Machtkämpfe lenkte den Blick der Päpste auf außer-religiöses: „Die[se] weltliche Sicht
beherrschte ihre Pontifikate“ (Rapp 1995: 72). Der Verkauf geistlicher Positionen an
den Meistbietenden war in ganz Europa gängige Praxis, „but the sale of offices in
the papacy reeked of simony“ (Wallace 2004: 51). Die Verweltlichung des Papsttums verlief somit beinahe parallel zu einem vermehrten spirituellen Bedürfnis sei-
88 Niemals war das Papsttum so schwach wie in der Vor-Reformationszeit, als zeitweise drei
verschiedene „Päpste“ Anspruch auf die Kurie erhoben: „Traditional papal claims of moral
and spiritual leadership sounded false and shrill throughout divided Christendom, as papal authority reached its nadir“ (Wallace 2004: 46).
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tens der Gläubigen – eine explosive Mischung, die eine zentrale Rolle dabei spielte,
dass sich eine Reformbewegung zur Reformation entwickelte und letztendlich zur
Spaltung der Christenheit führte. Zentral war auch der zunehmende Einfluss einzelner Staaten auf „ihre“ Kirchen, die den Boden für die Reformation bereitete, „wich
then completed the shift of religious power into the hands of state officials“ (Wallace 2004: 53). Nicht unerheblich war auch die Rückbesinnung auf griechische und
antike Werte in Renaissance und Humanismus, die aus heutiger Perspektive als
Geburtstunde des modernen Individualismus gelten. Die Bedeutung der sich entwickelnden Presse kann für Erfolg und Diffusion kritischer und reformatorischer
Ideen – gerade auch im Vergleich zu Reformbewegungen früherer Zeiten89 – gar
nicht hoch genug bewertet werden (Lienhard 1995: 723). Fast alle frühen Schriften
Luthers erschienen in kurzen, in lokale Dialekte übersetzten Pamphleten, die schnell
und billig produziert und verteilt werden konnten:
„Luther became the publishing industry’s first best-selling author, whose name on the cover
could quickly sell out a press run. Printers pirated his works or inserted his name as the author
of other anticlerical writings“ (Wallace 2004: 77).
Die Reformation – „an unprecedented upheaval in the ordering of Christian society“ (Davie 2000: 15) – hat Europa grundsätzlich verändert. Aus der Einheit wurde eine Vielzahl nationaler Gebilde, mit unterschiedlichen Staat-Kirche Konstruktionen – „tension and partnership between Caesar and God“, wie Martin (1978: 100)
das nennen würde.
5.1 Der erste große Bruch: die Reformation
Die Reformation beendete nicht nur die religiöse Einheit Europas und initiierte
heftige konfessionelle Auseinandersetzungen, sondern brachte auch ein bis dahin
89 Viele Ideen der Reformation waren nicht grundsätzlich neu, sondern kursierten teilweise
schon seit Jahrhunderten, konnten aber von einer dann noch starken katholischen Kirche unterdrückt oder zumindest regional begrenzt werden. Typische Beispiele sind die Waldenser
im späten 12. Jahrhundert, die in Armut lebten, die Bibel in Landessprache predigten und den
opulenten Reichtum der Kirche anprangerten. Die Lollarden-Bewegung im England des 14.
Jahrhunderts kritisierte das Sakrament des Abendmahls und die Befähigung des Priesters,
Brot und Wein in Leib und Blut Christi zu verwandeln. Auch die Lollarden zirkulierten in die
Landessprache übersetze Bibeln und verkündeten, dass die Bibel den einzigen Zugang zum
wahren Glauben bot und vom Gläubigen selbst zu lesen sei. Jan Hus und die nach ihm benannten Hussiten im Böhmen des frühen 15. Jahrhunderts schließlich beriefen sich auf die
englischen Lollarden, kritisierten die institutionalisierte Kirche und riefen die Gläubigen auf,
Offiziellen den Gehorsam zu verweigern, die sich nicht gemäß der Bibel verhielten. Priester,
die sich der Bewegung anschlossen, zelebrierten die Messe in Alltagskleidung und predigten
in Scheunen. Die Taboriten, die sich im Anschluß an Hus’ Verbrennung auf dem Scheiterhaufen, bildeten, lehnten jegliche Elemente der katholischen Liturgie ab, die nicht explizit in
der Bibel beschrieben wurden. Nur Kommunion und Taufe wurden als Sakramente akzeptiert,
der Glaube an Heiligsprechung, Fegefeuer, Totengebete, Ablasszahlungen wurde verworfen
(Wallace 2004: 56-62).
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unbekanntes Element: neuzeitliche Nationen und Nationalkirchen.90 Sowohl das
Festhalten am Katholizismus als auch der Übertritt zur Reformation waren Staaten
und Monarchen Mittel zur Demonstration nationaler Einmaligkeit im Konzert europäischer Mächte. Natürlich haben sich die nordeuropäischen Staaten auch aus religi-
ösen Gründen für die Reformation entschieden, aber sie bot auch die nicht unwillkommene Gelegenheit, sich der Vormundschaft Roms zu entziehen und politische
und kulturelle Unabhängigkeit zu erreichen (Rémond 2000: 153). „Sheer royal
might“, so Österlin (1995: 61), bestimmte den Verlauf der Reformation in den nordischen Ländern. Dank der Reformation wandelte sich die Kirche von einer rivalisierenden Macht zu einer Ressource der Macht in der Hand staatlicher Autoritäten
(Madeley 2000: 30). Nicht zuletzt gab die Konversion zum Luthertum vielen Fürsten ein Mittel in die Hand, den immensen Reichtum der katholischen Kirche und
ihrer Klöster und Orden für sich zu reklamieren – im Ergebnis auch ein erheblicher
Machtzuwachs für die National- bzw. Landesebene auf Kosten unterer lokaler Verwaltungseinheiten (Wallace 2004: 97). Mit der Reformation, die überall mit der
Übersetzung der Bibel in lokale Idiome einherging, wurden zudem die Volkssprachen Kirchen-, Verwaltungs- und Kultursprache – eine nicht unerhebliche Bedeutung für die Nationalisierung der protestantischen Staaten (Rokkan 2000: 203).
„Das Band zwischen Religion und Nation wurde fester geknüpft, und der Antipapismus diente
den Nationen, die mit Rom gebrochen hatten, als Geburtshelfer ihrer nationalen Persönlichkeit“ (Rémond 2000: 154).
Was war nun das zentrale Anliegen der Reformatoren? Traditionelle Darstellungen
der Reformation beginnen und enden mit Martin Luther und dem Anschlag seiner
Thesen an die Kirchentür in Wittenberg am 31. Oktober 1517. Mit dieser Tat nahm
die Reformation zwangsläufig ihren Lauf; ihr Inhalt, in 95 Thesen zusammengefasst,
bildet eine kohärente Theologie der Reformation. Diese scheinbare theologische
Einheit ist allerdings eine artifizielle Vorstellung, denn die Reformation führte
schnell zu miteinander rivalisierenden Interpretationen und Reformansätzen, die das
zukünftige Bild Europas nachhaltig beeinflussen sollten: „Luther had the charisma
and energy to trigger reform, but (...) he could not control the course of events, nor,
in the long run, the nature of his own reformation” (Wallace 2004: 75).
Ein ganz entscheidendes Element in Luthers Denken war die antiklerikale Kritik,
die sich in seinem radikalen Verständnis von Glauben manifestierte: Glauben ist
Vertrauen in Gottes Liebe und Gnade. Keine frommen Akte, kein Ablassbrief, keine
priesterliche Freisprechung, kein Abendmahl, keine Wallfahrt, kein Opfer und keine
Wohltat kann diesen Glauben an Gott ersetzen. Für Luther waren alle Menschen von
Natur aus sündig und korrupt. Damit stand seine Menschensicht im krassen Widerspruch zur offiziellen Lehrmeinung, die Gnade und Erlösung durch die Partizipation
90 Bereits kurz nach der Christianisierung des Kontinents erfolgte das erste große Schisma mit
der Trennung der weströmischen von der oströmischen Kirche und die Entstehung der lateinischen sowie griechisch-orthodoxen Kirche, die bis heute ihre Geltung besitzt. Dies ist eigentlich der erste große Bruch in der Religionsgeschichte Europas und die Reformation der zweite.
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an priesterlichen Sakramenten versprach. Von den Sakramenten konnten nur Eucharistie und Taufe Gültigkeit besitzen, da nur sie in der Bibel Erwähnung finden. Die
spirituelle Wahrheit lag einzig in Gottes Wort, der Bibel; ihr hatten sich Kirchenhierarchie, kanonisches Recht91, päpstliche Bullen, Rituale und Liturgie unterzuordnen.
Erlösung und Gnade war dem Sünder nur durch Gottes Gnade teilhaftig. Auch
wandte er sich explizit gegen den Priesterstatus als privilegierte und separate Kaste,
sondern – besonders provozierend für die Kirchenhierarchie – alle wahren Christen
sollten Priesterstatus erlangen können. Eine „Glaubens- und Überzeugungsreligion“
trat an die Stelle der „hierarchisch-sakramentalen Religion“ (Troeltsch 1922/1961:
439). Damit legte schon Luther den Grundstein zu, wie Thuesen schreibt, einer „enduring Protestant suspicion of ecclesiastical authority“ (2002: 28). Um diese Reformideen gegen den Widerstand der Kircheninstitutionen durchsetzen zu können,
benötigte Luther von Anfang an die Hilfe säkularer Machtzentren – Monarchen,
Prinzen, Stadtmagistrate und vor allem seinen Schutzpatron, den sächsischen Kurfürst Friedrich den Weisen (Wallace 2004: 79).
5.1.1 Die Reformation in deutschen Ländern
Der Konflikt mit der katholischen Kirche war unvermeidbar, vor allem die Frage der
Eucharistie, der Wandlung von Brot und Wein, trieb einen Keil zwischen Reformer
und Katholiken, sollte mittelfristig aber auch die Reformer in bitterlich streitende
Fraktionen zerreißen. Wer durfte diese Wandlung vornehmen? In der traditionellen
Vorstellung konnte die wundersame Wandlung von Brot und Wein in Christi Leib
und Blut nur von einem ordentlich geweihten Priester vorgenommen werden. Reformer, die wie Karlstadt92, ein Gelehrter aber kein Priester, die Eucharistiefeier in
Alltagskleidung und in deutscher Sprache feierten, begingen in den Augen der Kirche schlimmste Blasphemie. Karlstadt gewann die Unterstützung des Wittenberger
Magistrats und eine neue Kirchenordnung wurde erlassen, die u.a. die Kommunion
vereinfachte, Betteln und Prostitution reglementierte und die Säuberung der Kirchen
von allen bildhaften Darstellungen Gottes befahl (Wallace 2004: 84; Lienhard 1995:
733-734). Gerade letzteres führte zu teilweise gewalttätigen Ausschreitungen und
Zerstörungen.
Zur gleichen Zeit mehrten sich Anzeichen eines neuen radikaleren Verständnisses,
das den grundsätzlich reformwilligen Magistraten und Autoritäten als höchst gefährlich, da die soziale Ordnung bedrohend, erschien. Ausgehend von Thomas Müntzers
Vorstellung und seiner Zwickauer Gemeinde bildeten sich Gruppierungen, die von
91 Das kanonische Recht entwickelte sich im 13. Jahrhundert und gestand erstmals einer Gesamtheit von Personen als Korporation (ursprünglich vor allem Kirchen und Klöster) den Status einer Rechtspersönlichkeit zu, die unabhängig von den einzelnen Mitgliedern Geltung besaß. Abgeleitet davon sind die Autonomie in inneren Angelegenheiten, aber auch das Recht
zur Schaffung von Sondervermögen, Stiftungen etc. (vgl. Loretan 1998: 582-583).
92 Karlstadt übernahm und interpretierte Luthers Thesen, während dieser sich 1521/1522 in der
Wartburg versteckt hielt um seinen Verfolgern zu entkommen.
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ekstatischen Visionen berichteten, in denen Frauen predigten und Anhänger behaupten, dass Gott zu ihnen gesprochen habe. Innerhalb von nur einem Jahr hatten sich
somit drei unterschiedliche reformatorische Strömungen in Sachsen breit gemacht.
Nach der Rückkehr aus seinem Wartburger Exil im Jahr 1522 beendete Luther sehr
schnell die aus seiner Sicht aus dem Ruder gelaufenen Reformbewegungen Karlstadter oder Zwickauer Prägung. Während es ihm gelang, die Reform in Sachsen
einzudämmen und nach seinen Vorstellungen zu reorganisieren, breiteten sich reformatorische Ideen so schnell über alle deutschen Länder aus, dass ihm eine Kontrolle über Sachsen hinaus nicht möglich war (Wallace 2004: 86). Gewalt und Gegengewalt entluden sich in vielen deutschen Gemeinden. In Franken zerstörten
Bauern Schlösser, eroberten die Bischofstadt Würzburg und zwangen den Bischof
zur Flucht. Gruppierungen im Schwarzwald belagerten Freiburg, bäuerliche Aufständische nahmen den Speyrer Bischof und den Kurfürsten der Pfalz gefangen, um
Reformen zu erzwingen: „By early May 1529, the social and religious order of
south-western Germany appeared to be teetering“ (Wallace 2004: 87).93
Die Restauration feudaler Macht erfolgte rasch und gewaltsam. Alles in allem
starben insgesamt 100.000 Aufständische entweder in der Schlacht oder wurden
hingerichtet. Thomas Müntzer selbst wurde gefangen genommen, zunächst gefoltert
und schließlich enthauptet (Lienhard 1995: 737). Der Bauernkrieg wurde zum entscheidenden Wendepunkt der evangelischen Reformbewegung in Deutschland.
Enthusiastische Reformer, die zuvor versucht hatten, die Christenheit von der Basis
her zu reformieren, waren zum Schweigen gebracht. Andere, wie Luther, der dem
Bauernaufstand ohnehin äußerst kritisch gegenüber stand, wendeten sich völlig den
Fürsten und Zivilmagistraten zu, die sie von nun an als einzige mögliche Agenten
einer Reform der religiösen Ordnung betrachteten.
„Hier hat Luther seinen anfänglichen Idealismus gründlich korrigiert, indem er außer der Zugänglichmachung dieser Wahrheit für alle auch die Beseitigung aller überhaupt die Ordnung
des christlichen Gemeinwesen störenden Häresien mit Gewalt durch die Obrigkeit forderte“
(Troeltsch 1922/1961: 471).
Aus grasroot Protest war, zumindest in deutschen Ländern, ein staatlich gesteuerter
und verordneter Reformprozess geworden (Wallace 2004: 88). Luther, so Lienhard,
habe gelernt, dass es bestimmter Strukturen bedarf: „Die Zeit der Visitationen und
Gemeindeordnungen war gekommen“ (Lienhard 1995: 738).
„In short, urban reformations consolidated the authority and enhanced the power of civic regimes, and gradually Protestant leaders constructed their new sacral society, one marked by
hierarchy, respect for authority, and social discipline“ (Wallace 2004: 93).
Der sächsische Kurfürst, Friedrichs Sohn Johann, unterstützte Luther aktiver als sein
Vater. Luther hatte eine deutsche Kirchenordnung verfasst die an alle sächsischen
93 Eine wichtige Rolle im Bauernkrieg spielten die sogenannten Anabaptisten, die sich als eine
radikale evangelische Reformbewegung etablierten und die Kindstaufe mit Verweis auf die
Bibel ablehnten. Der inner-protestantische Streit um die Richtigkeit von Kinds- bzw. Erwachsenentaufe entzweit bis heute das reformatorische Lager.
131
Gemeinden verteilt wurde. Der Kurfürst berief eine Kommission aus Laien und
Theologen ein, deren Aufgabe es war, die Einhaltung dieser Ordnung zu überprüfen.
Die Kommission entwickelte sich zu einem ständigen Kirchenrat, der mit der Verwaltung der Landeskirche betraut wurde. Eine hierarchische Kirchenstruktur entstand: das ursprüngliche „parish system“ wurde ersetzt und auf der Ebene einzelner
Stadtgemeinden neu organisiert, während es dem Kirchenrat oblag, die Pfarrer zu
ernennen. Luther schuf ebenfalls sogenannte Konsistorien, die aus Pastoren und
Staatsbeamten bestanden und über Fragen der moralischen Disziplin (von allgemein
unmoralischem Verhalten über Ehestreitigkeiten, Verletzung der Sonntagsruhe,
Trunkenheit bis hin zu Fluchen) in mehreren Gemeinden wachten. Die neugeschaffenen Positionen des Diakons und des Kirchenwarts waren für Kirchenfinanzen und
Armenfürsorge zuständig. Luthers Modell machte Schule und wurde bald zur Basis
der Kirchenordnung in anderen lutherischen Landeskirchen: „At every level, Church
and state worked together“ (Wallace 2004: 97). In Luthers neuer Kirchenverfassung
waren rein kirchliche Institutionen staatlichen Institutionen unterstellt. Im Ergebnis
konnten staatliche Autoritäten somit direkt das kirchliche und soziale Alltagsleben
beeinflussen, da ihnen die traditionellen bischöflichen Rechte zufielen (Wallace
2004: 100). Ex officio, so wünschte es vor allem Melanchton, solle der Landesfürst
über Gottesdienst und Lehre wachen und die Pfarrer ernennen. Die Kirche, so Linehard (1995: 741), wurde „der politischen Obrigkeit unterstellt“.
Als großes Problem innerhalb der Reformbewegung entpuppte sich sehr schnell die
unterschiedliche Betrachtung des Abendmahls, bzw. die Frage, ob – wie Luther oder
Melanchton predigten – Jesus Christus tatsächlich beim Abendmahl physisch präsent sei,94 oder ob Zwingli und Bucer richtig lagen, die dies Mysterium verneinten
und die Lehre der rein spirituellen Präsenz Christi vertraten. Als immer mehr Städte
und Fürstentümer den protestantischen Glauben übernahmen, forderten diese die
führenden reformerischen Theologen auf, sich auf eine Version der Eucharistie zu
einigen, um die Entstehung politischen Zwistes zu vermeiden. Diese Einigung kam
nicht zustande. Im Gegenteil, der Graben vertiefte sich und wurde mit der Augsburger Erklärung, welche die zentralen Glaubensauffassungen Luthers einschließlich
der Wandlungsthese niederlegte, institutionalisiert. Im Gegenzug verfassten sowohl
Zwingli als auch Bucer eigene Glaubensbekenntnisse, die von verschiedenen Gemeinden übernommen wurden: „The divisions among the Protestant religious leaders were now public“ (Wallace 2004: 98). Angesichts einer militärischen Bedrohung durch die Katholiken, formten sich die lutherischen Städte und Fürstentümer,
welche sich die Augsburger Erklärung zu Eigen gemacht hatten, zu einer Liga, der
sogenannten Schmalkaldischen Liga zusammen.95 Seit dieser Zeit war das Luthertum die bestimmende Form des Protestantismus in Deutschland, das vor allem Nordund Ostdeutschland dominierte, während sich „reformierte“ Bekenntnisse, die sich
94 Im Gegensatz zum Katholizismus war dies allerdings kein Resultat priesterlicher Aktivitäten,
sondern allein auf Gottes Macht und Willen zurückzuführen (Wallace 2004: 98).
95 Schmalkalden ist eine Gemeinde in Thüringen, wo sich die Fürsten 1530 trafen, um eine
Verteidigungsstrategie gegen eine militärische Invasion Karl V. zu entwickeln.
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an Zwingli und Bucer orientierten, kurzfristig in einigen süddeutschen Ländern
etablieren konnten. Die Gravitationskraft des Luthertums und vor allem seines militärischen Arms, der Schmalkaldischen Liga, war allerdings zu stark, als dass sich die
süddeutschen Fürsten dieser Macht lange entziehen konnten. Schon 1537 waren
quasi alle süddeutschen Reformer an Luthers Seite zurückgekehrt (Wallace 2004:
99). Der Augsburger Religionsfriede von 1555, der auf die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen der Schmalkaldischen Liga und dem katholischen Kaiser
folgte, sanktionierte das lutherische Bekenntnis von Augsburg und gab den Landesfürsten das Recht, die Konfession ihrer Untertanen zu bestimmen. Kirchen und Gemeinden, die sich auf Zwinglis Lehre beriefen, waren seit diesem Zeitpunkt illegal
(Wallace 2004: 116).
5.1.2 Die Reformation in Dänemark
Die skandinavischen Monarchien waren die ersten Königreiche, die sich vom Katholizismus lossagten und zum Luthertum übertraten. Damit führte die Reformation
auch nicht zur konfessionellen Spaltung wie in Deutschland, der Schweiz oder den
Niederlanden, sondern förderte die nationale Entwicklung von Sprache und Kultur
(Vogler 1992: 438). Die Reformation kam auf Initiative der Monarchen (Österlin
1995: 59). Bereits 1537 holte sich Christian III, König von Dänemark, die Zustimmung der dänischen Ständeversammlung, des Riksdags, lutherische Reformen einzuführen.96 Katholische Bischöfe mussten ihr Amt niederlegen und wurden durch
Superintendenten ersetzt. Die Kirchengüter wurden an den König, den Adel und die
Städte verteilt (Vogler 1992: 438). Ein Jahr später schloss sich Dänemark der
Schmalkaldischen Liga an und unterzeichnete das Augsburger Bekenntnis. Damit
verpflichtete sich der König, alle seine Einwohner unter lutherischem Bekenntnis zu
halten. Artikel 6 der sogenannten „Lex Regia“ gab dem König alle exekutive Macht
hinsichtlich der Kirche insgesamt, der Kirchenverwaltung sowie dem Klerus (Dübeck 1996: 38). Pietas firmat regnam (Frömmigkeit stärkt Herrschaft) war das Motto der dänischen Könige (Madeley 2000: 30). „From 1536 to 1849, the Evangelical
Lutheran Church was the state church because it was the church of the royal family“
(Bruce 1999: 92).
Der dänische Monarch gewährte allerdings katholischen Klöstern, Konventen und
Bischofssitzen die Freiheit, unter Überwachung und Schutz seitens adliger Patrone
weiter zu existieren. Sein Schwerpunkt lag im Aufbau eines Bildungssystems. Das
Ziel war, eine geschulte, effektive und reformierte Pfarrergarde zu schaffen, die mit
der Aufgabe betreut wurde, den neuen Glauben innerhalb der dänischen Bevölkerung zu verbreiten (Wallace 2004: 101).
96 Vorausgegangen war unter Christians Vorgängern, Friedrich I und Christian II, eine offene
Rebellion seitens katholischer Adliger und Kirchenführer. Christian II wollte eine Art katholische Nationalkirche, in der die Rechte der Bischöfe eingeschränkt und die Appellation nach
Rom untersagt waren (Lienhard 1995: 756; Wallace 2004: 101).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Sind protestantische Vereine und Netzwerke ein besserer Nährboden für die Demokratie als katholische Organisationen? Brauchen auch Religionen den Wettbewerb des freien Marktes ohne staatliche Einmischung, um sich kraftvoll und lebendig zu entfalten? Das Buch untersucht die demokratische und sozial integrative Wirkung katholischer, lutherischer, calvinistischer und säkularer Organisationsformen in Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden, Dänemark, Spanien und Schottland. Dargestellt wird die gesellschaftliche und demokratische Rolle von Religion und Kirche seit den Zeiten der Reformation bis heute. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die demokratieförderliche oder aber hemmende Wirkung von Religion und Konfession als Bestandteil europäischer Zivilgesellschaften am Beginn des 21. Jahrhunderts. Auf der Basis einer international vergleichenden Organisationsstudie kontrastiert das Buch ökonomische Theorien der Religion mit dem klassischen Säkularisierungsparadigma, sowie Sozialkapitalansätze mit Organisationstheorien, die behaupten dass die kleine, dezentral organisierte Organisationsform des Protestantismus der großen, zentralistischen und hierarchischen Organisationsstruktur des Katholizismus überlegen sei.