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4.3.9 Mögliche Schlussfolgerungen für eine empirische Analyse
Analog zur ökonomischen Theorie hat auch die Kritik ein Hauptthema: religiöser
Pluralismus führt zu sinkender religiöser Partizipation:
Religiöser Pluralismus (der Wettstreit zwischen Konfessionen) unterminiert die Glaubwürdigkeit jeder einzelnen Glaubensrichtung und führt damit zu Indifferenz, Apathie und Austritten.
Diese These ist die genaue Umkehrung oder Gegenthese zur rational choice Vorstellung, die Pluralismus mit religiöser Vitalität verknüpft. Interessanterweise sind
sich Protagonisten der ökonomischen Theorie und ihre Hauptkritiker darin einig,
dass ein Zusammenhang zwischen staatlicher Regulierung und religiösem Monopol
(bzw. Deregulierung und Pluralismus) besteht, uneinig ist man sich allein über die
kausale Richtung dieses Zusammenhangs. Dem religiösen Pluralismus dagegen
werden völlig konträre Wirkweisen unterstellt: als Inspiration religiöser Partizipation einerseits, als Wegbereiter fortschreitender Säkularisierung und religiöser Indifferenz andererseits. These und Gegenthese werden im Laufe dieser Arbeit empirisch
zu überprüfen sein.
Die kritische Seite formuliert zudem Interpretationen und Zusammenhänge, die
sich vor allem für eine Überprüfung mancher Soziaklapitalthesen wie sie in Kapitel
2 diskutiert wurden, nutzen lassen. Wie gezeigt, trennt rational choice und ihre
Kritik vor allem die inhaltliche Interpretation ähnlich verstandener Zusammenhänge.
Spezialisierung und Nischenbildung – von beiden Seiten als Resultat „freier“ Märkte
begriffen – wird nicht als Motor religiöser Vitalität betrachtet, sondern als Verursacher sozial segmentierter, ungleicher Organisationswelten. Auch diese Interpretationen lassen sich als überprüfbare Hypothesen formulieren:
• Mit der religiösen Monopolstellung steigt die Brückenbildungskapazität des
religiösen Sektors, bzw. je freier der Markt, je mehr Organisationen konkurrieren, desto homogener ist die Mitgliederbasis jeder einzelnen Organisation.
• Der freie Markt provoziert eine Konzentration des religiösen Sektors um Mittelklasse-Interessen bzw. das Ausmaß öffentlicher Subventionierung erhöht die
(soziale) Vielfalt religiöser Angebote.
• Je stärker religiöse Organisationen in weltliche Angelegenheiten involviert sind
(z.B. dank einer privilegierten Stellung im Verwaltungs,- Bildungs- oder Wohlfahrtsbereich), desto effizienter wirken sie als „Schulen der Demokratie“ , da die
Verflechung von Kirche und Staatsaufgaben die Entscheidungskompetenz der
Bürger erhöht.
4.4 Rational Choice und die Erklärung religiöser Vitalität und Partizipation
Welche Vorteile besitzt die ökonomische Schule, wenn Religion als mögliche Quelle zivilgesellschaftlichen und demokratischen Engagements betrachtet wird? Wie in
Kapitel 2 argumentiert wurde, haben religiös aktive Gesellschaften einen enormen
Startvorteil. Religiöse Organisationen sind hervorragende Schulen der Demokratie
und vermitteln zivilgesellschaftliche Kompetenzen gerade auch an Menschen, die
sonst wenig Gelegenheit bekommen, solche Ressourcen zu kumulieren. Kirchen und
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religiöse Vereine befördern zudem politische Partizipation und sozialisieren Menschen in ein eher altruistisches Weltbild, das soziales Engagement und Kollektivgutdenken fördert.86 Die rational choice Theorie der Religion formuliert einige
Essentials, die zur religiösen Vitalität einer Gesellschaft beitragen. Diese Essentials
sind vor allem negativer Natur: strikte Trennung von Staat und Kirche, keine Regulierung des religiösen Marktes, keine Subventionierung religiöser Angebote. Hier
schließt sich der Kreis: wenn religiöse Organisationen einen wichtigen Baustein zu
einer aktiven Bürgergesellschaft beitragen, dann offeriert die ökonomische Schule
ein Patentrezept wie dieser Baustein zu gestalten sei, um höchste Effizienz erreichen.
Zudem offeriert die rational choice Schule auch ein organsationsstrukturelles Argument, das über die Logik des small is beautiful, welche von Autoren im Kontext
Sozialkapital und Zivilgesellschaft (vgl. Kapitel 3) gern bemüht wird, hinausreicht.
Die ökonomische Theorie benennt konkrete Gründe für den Vorteil kleiner Gruppen: soziale Kontrolle, gruppeninterne Homogeneität, Lösung der Trittbrettfahrer-
Problematik. Noch interessanter ist aber ein zweites Organisationsargument, dass in
der Theorie selbst eher beiläufig Erwähnung findet: die Organisation des religiösen
Marktes übt, unabhängig von der konfessionellen Ausrichtung, einen direkten Einfluß auf die Beteiligungsoptionen innerhalb von Organisationen aus. Organisationen
im freien Markt, also Organisationen, die finanziell von den Leistungen ihrer Mitglieder abhängen, entwickeln responsivere und demokratischere Strukturen und
öffnen sich der Laienbeteiligung in einem Maße in dem dies Organisationen, die
mehrheitlich vom Staate leben, nicht tun. Der freie Markt befördert somit nicht nur
religiösen Pluralimus und damit Konkurrenz und ein hohes Niveau individuellen
Engagements (sicher das zentrale Argument im rational choice Ansatz), sondern er
inspiriert auch eine horizontal verfasste, demokratische Vereinslandschaft. Frei nach
Tocqueville: Religiöse Organisationen im freien Markt sind bessere Schulen der
Demokratie als Organisationen, die in regulierten Märkten operieren. Hinzu kommt
schließlich eine Negativwirkung freier Märkte wie sie vor allem aus der rational
choice kritischen Religionssoziologie heraus postuliert wird. Weil freie Märkte
Nischenbildung provozieren, sind intern homogene und extern segmentierte Organisationswelten die Folge. Reguliertere Märkte mit geringer Religionsvielfalt sollten
umgekehrt Organisationen produzieren, die sozial gemischt sind: brückenbildendes
Sozialkapital wird vornehmlich in Monopolsituationen generiert. Mit der ökonomischen Theorie der Religion lassen sich somit Erwartungen formulieren, die für alle
im Rahmen dieser Untersuchung relevanten demokratischen und zivilgesellschaftlichen Aspekte eine Rolle spielen: Organisationsreichtum, bürgerschaftliches Engagement, Produktion von Sozialkapital.
86 Die Tatsache, dass religiöse Involvierung auch immer die Gefahr einer Abwendung von der
Gesellschaft, Abschottung und im Extremfall antidemokratischen Sektierertums in sich birgt,
ist ebenfalls ausführlich in Kapitel 2 diskutiert.
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Kann die rational choice Theorie ihre Versprechungen halten? Es ist sicher keine
Überraschung mehr, wenn Autoren wie Bruce den Anwendungswert ökonomischen
Denkens in Bezug auf Religion für nahe Null halten:
„The economistic rational choice approach works best (if it works at all) for something like car
purchase, where there is widespread demand for the product but very little brand loyalty. Then
people are free to engage in maximising behaviour. [...] In European countries where religion
remains popular it does so as part of an inherited and ascribed social identity, deeply embedded in painful struggles for ethnic and national autonomy“ (Bruce 2000: 44).
In einer zusammenfassenden Bewertung der analytischen Relevanz der rational
choice Theorie kommt Bruce folgerichtig zu einer schlicht negativen Einschätzung:
„The effects of state support (and of state repression) are not uniform and they are not uniformly bad. Religious pluralism either is irrelevant or weakens the power of religion. Whatever explanatory value the concentration on the structure of the religious market has for understanding religion in the USA, it has no useful application for Europe” (Bruce 1999: 120).
Hat Bruce Recht oder schüttet er mit seiner Fundamentalkritik das Kind mit dem
Bade aus? Immerhin hat die ökonomische Theorie den großen Vorteil, dass sie auf
einer konkreteren Ebene als dies Sozialkapital oder Zivilgesellschaftstheorien tun,
Makroindikatoren formulieren, die Gesellschaftsvergleiche systematisch ermöglichen Bis dato können die gängigen Sozialkapitalansätze zwar ein Mehr oder Weniger an Zivilgesellschaft konstatieren, haben bisher aber noch keine systematisch
nutzbaren Theorien und Indikatoren zur Erklärung von Niveauunterschieden entwickelt.87 In diesem Punkt bietet die rational choice Theorie einen Fortschritt, besonders da ohne weiteres vorstellbar ist, dass ihre Grundprinzipien nicht nur für den
religiösen, sondern für den freiwilligen Sektor insgesamt Geltung besitzen. Ihr wunder Punkt ist die höchst zwiespältige empirische Validierung, die dazu einlädt,
Bruce grundsätzliches Misstrauen über die Plausibilität des Gedankengebäudes zu
teilen. Aber nicht nur widersprüchliche Ergebnisse sind ein Problem, auch ist die
Theorie bisher immer nur häppchenweise getestet worden, und hier vor allem der
Zusammenhang zwischen religiöser Vielfalt einerseits und Kirchgangshäufigkeit
andererseits. Zum zentralen Argumentationskern, freier Markt, Regulierung, Subventionierung und Pluralismus, gibt es (fast) keine Untersuchung. Ähnliches gilt für
andere zentrale Punkte wie Subkulturbildung, Säkularisierungsgrad, Minoritätenposition, etc. Folglich ist die rational choice Theorie der Religion, obwohl von manchen als neues „Paradigma“ gefeiert (z.B. Warner 1993) oder als „most popular
alternative“ (Inglehart 2004: 8) im theoretischen Angebot beschrieben, auch nach
nun bereits über zehn Jahren akademischer Auseinandersetzung „in dispute“ (Inglehart 2004: 9).
87 Dies ist in gewisser Weise ein unfairer Vorwurf, da es der Sozialkapital- und Zivilgesellschaftstheorie im Kern darum geht, zu erklären, welche Auswirkungen Sozialkapital auf das
Funktionieren von Demokratie und Gesellschaft besitzt. Auch versuchen manche Arbeiten im
Sozialkapitalkontext Niveauunterschiede systematischer zu erklären (vgl. z. B. Gabriel et al.
2002: 217-247), doch haben die angebotenen Erklärungen eher den Charakter von ad-hoc
oder a posteriori Rationalisierungen, und sind noch weit davon entfernt, eine schlüssige Theorie zu bilden.
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Eine Erklärung für die bis dato mangelhafte oder bruchstückhafte Überprüfung zentraler Annahmen ist die Schwierigkeit im Gesellschaftsvergleich valide Indika-toren
zu bilden, da die Informationsbeschaffung nicht leicht ist und auch die Zuordnung
einzelner Gesellschaftssysteme zu bestimmten Aspekten alles andere als eindeutig
ist. Wann z.B. ist ein Markt frei von Subvention? Zählt nur direkte Bezuschussung
der Kirchen oder müssen auch staatliche Gelder, die kirchliche Wohlfahrtseinrichtungen als Entgelt für erbrachte Dienstleistungen erhalten als Subventionierung
gerechnet werden? Ist die Trennung von Staat und Kirche in Deutschland trotz Kirchensteuersystem und quasi-obligatorischem Religionsunterricht an allgemeinbildenden Schulen höher als in Schottland, wo die presbyterianische Kirche zwar nominell als Staatskirche fungiert, sich aber allein über Schenkungen und freiwillige
Mitgliedsbeiträge finanziert? Eine Unzahl solcher Fragen muss geklärt werden,
bevor eine auch nur ansatzweise plausible Operationalisierung vorgenommen werden kann. Im Folgenden soll ein erster Versuch unternommen werden. Dazu werden
die beiden folgenden Kapitel das Staat-Kirche-Verhältnis und seine historische Entwicklung in den hier interessierenden Gesellschaften Schottlands, Dänemarks, den
Niederlanden, Spaniens, der Schweiz sowie Ost- und Westdeutschlands analysieren.
Auf Basis dieser beiden Kapitel werden dann in Kapitel 7 Operationalisierungsvorschläge zu zentralen Indikatoren des rational choice Ansatzes vorgestellt und auf
ihre empirische Tauglichkeit hin überprüft.
Im weiteren Verlauf der Arbeit werden dann rational choice und Organisationstheorie in Konkurrenz zueinander untersucht: Welchen Zusammenhang gibt es zwischen
der Angebots-Struktur, die sich aus Variationen im Verhältnis zwischen Staat und
Kirche ergibt einerseits, und der Organisationsstruktur religiöser Vereine, die innerhalb gewisser Makro-Strukturen existieren andererseits? Und: welchen Einfluss
haben beide Aspekte auf Partizipationsmuster, Ehrenamtlichkeit und die Generierung von Sozialkapital im religiösen Sektor?
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Sind protestantische Vereine und Netzwerke ein besserer Nährboden für die Demokratie als katholische Organisationen? Brauchen auch Religionen den Wettbewerb des freien Marktes ohne staatliche Einmischung, um sich kraftvoll und lebendig zu entfalten? Das Buch untersucht die demokratische und sozial integrative Wirkung katholischer, lutherischer, calvinistischer und säkularer Organisationsformen in Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden, Dänemark, Spanien und Schottland. Dargestellt wird die gesellschaftliche und demokratische Rolle von Religion und Kirche seit den Zeiten der Reformation bis heute. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die demokratieförderliche oder aber hemmende Wirkung von Religion und Konfession als Bestandteil europäischer Zivilgesellschaften am Beginn des 21. Jahrhunderts. Auf der Basis einer international vergleichenden Organisationsstudie kontrastiert das Buch ökonomische Theorien der Religion mit dem klassischen Säkularisierungsparadigma, sowie Sozialkapitalansätze mit Organisationstheorien, die behaupten dass die kleine, dezentral organisierte Organisationsform des Protestantismus der großen, zentralistischen und hierarchischen Organisationsstruktur des Katholizismus überlegen sei.