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4.3.8 Die Subkultur als anti-pluralistische Reaktion
Die für Deutschland (aber auch die Niederlande und die Schweiz) vor dem Zweiten
Weltkrieg langezeit typische Konstellation von protestantischer bzw. calvinistischer
Dominanz und katholischer Minderheiten- oder Enklave-Kirche ist eine eigene
Spielart des Pluralismus, da hier zwar zwei verschiedene Konfessionen im Konkurrenzverhältnis stehen, aber einer der beiden Konkurrenten quasi staatskirchlichen
Charakter besitzt, während die zweite eine nur subkulturelle und staatsferne Rolle
spielt. Während die ökonomische Theorie die höhere Partizipationsrate von Minderheitsreligionen theoriekonform auf die Konkurrenzsituation bezieht, kommt Olson
zu einem anderen Schluss: nicht Pluralität und auch nicht Konkurrenz erhöhen die
Plausibilität des eigenen Glaubens (und damit auch das Niveau religiösen Engagements), sondern die Fähigkeit einer Konfession, ihre eigene Subkultur auszubilden.
Subkulturen oder religiösen Milieus gelingt gerade die Ausschaltung bedrohlicher
Konkurrenz und die Minimierung des Kontakts mit Andersdenkenden: die pluralistische Realität wird ausgeblendet: „[...] the growth of religious subcultures facilitates
interaction among persons who share a religious identity and shields many from
significant exposure to religious pluralism“ (Olson 1993: 35). Die Bildung von Subkulturen wird besonders dann wahrscheinlich, wenn Minderheiten fühlen, dass sie
eine der Mehrheit widersprechende Identität besitzen bzw. die dominanten Werte
der mainstream Kultur nicht teilen (wollen). Wenn dann noch prinzipiell Organisationsfreiheit besteht, wie dies in modernen liberalen Gesellschaften der Fall ist,
werden Mitglieder der Minderheit diese Freiheit nutzen, um enge Organisationsnetzwerke zu schaffen, die allein aus Mitgliedern der Minderheit bestehen – die
Subkultur entsteht (Fischer 1977, 1982). Die Subkultur ist – in der Perspektive von
Fischer und Olson – somit ein ausgesprochen modernes (und urbanes) Phänomen,
das erst durch die Wahlfreiheit organisatorischer Heimaten aber auch kultureller
Identitäten ermöglicht wird. Ganz ähnlich klingt dies auch bei Smith, der ebenfalls
explizit gegen rational choice eine (Sub)kulturtheorie zu organisatorischem Wachstum und Niedergang formuliert:
„In a pluralistic society, those religious groups will be relatively stonger which better possess
and employ the cultural tools needed to create both clear distinction from and significant engagement and tension with other relevant outgroups, short of becoming genuinely countercultural“ (Smith 1998: 118-119).
Um demnach das erhöhte Engagement mancher religiöser Minderheiten zu erklären,
muss man nicht auf rational choice Annahmen zurückgreifen. Im Gegenteil: Subkulturbildung unter der Bedingung von Organisationsfreiheit hat das Ziel die Kräfte
des Pluralismus und der Konkurrenz zu schwächen – eine Art Monopolbildung in
einer als feindlich wahrgenommenen Umwelt.85
85 Empirisch kann Olson zeigen, dass religiöse Gruppen mit starker interner Vernetzung (gemessen als Anteil enger Freunde innerhalb der religiösen Organisation) auch zu orthodoxeren
Normen und Werten neigen (1993: 38-39).
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4.3.9 Mögliche Schlussfolgerungen für eine empirische Analyse
Analog zur ökonomischen Theorie hat auch die Kritik ein Hauptthema: religiöser
Pluralismus führt zu sinkender religiöser Partizipation:
Religiöser Pluralismus (der Wettstreit zwischen Konfessionen) unterminiert die Glaubwürdigkeit jeder einzelnen Glaubensrichtung und führt damit zu Indifferenz, Apathie und Austritten.
Diese These ist die genaue Umkehrung oder Gegenthese zur rational choice Vorstellung, die Pluralismus mit religiöser Vitalität verknüpft. Interessanterweise sind
sich Protagonisten der ökonomischen Theorie und ihre Hauptkritiker darin einig,
dass ein Zusammenhang zwischen staatlicher Regulierung und religiösem Monopol
(bzw. Deregulierung und Pluralismus) besteht, uneinig ist man sich allein über die
kausale Richtung dieses Zusammenhangs. Dem religiösen Pluralismus dagegen
werden völlig konträre Wirkweisen unterstellt: als Inspiration religiöser Partizipation einerseits, als Wegbereiter fortschreitender Säkularisierung und religiöser Indifferenz andererseits. These und Gegenthese werden im Laufe dieser Arbeit empirisch
zu überprüfen sein.
Die kritische Seite formuliert zudem Interpretationen und Zusammenhänge, die
sich vor allem für eine Überprüfung mancher Soziaklapitalthesen wie sie in Kapitel
2 diskutiert wurden, nutzen lassen. Wie gezeigt, trennt rational choice und ihre
Kritik vor allem die inhaltliche Interpretation ähnlich verstandener Zusammenhänge.
Spezialisierung und Nischenbildung – von beiden Seiten als Resultat „freier“ Märkte
begriffen – wird nicht als Motor religiöser Vitalität betrachtet, sondern als Verursacher sozial segmentierter, ungleicher Organisationswelten. Auch diese Interpretationen lassen sich als überprüfbare Hypothesen formulieren:
• Mit der religiösen Monopolstellung steigt die Brückenbildungskapazität des
religiösen Sektors, bzw. je freier der Markt, je mehr Organisationen konkurrieren, desto homogener ist die Mitgliederbasis jeder einzelnen Organisation.
• Der freie Markt provoziert eine Konzentration des religiösen Sektors um Mittelklasse-Interessen bzw. das Ausmaß öffentlicher Subventionierung erhöht die
(soziale) Vielfalt religiöser Angebote.
• Je stärker religiöse Organisationen in weltliche Angelegenheiten involviert sind
(z.B. dank einer privilegierten Stellung im Verwaltungs,- Bildungs- oder Wohlfahrtsbereich), desto effizienter wirken sie als „Schulen der Demokratie“ , da die
Verflechung von Kirche und Staatsaufgaben die Entscheidungskompetenz der
Bürger erhöht.
4.4 Rational Choice und die Erklärung religiöser Vitalität und Partizipation
Welche Vorteile besitzt die ökonomische Schule, wenn Religion als mögliche Quelle zivilgesellschaftlichen und demokratischen Engagements betrachtet wird? Wie in
Kapitel 2 argumentiert wurde, haben religiös aktive Gesellschaften einen enormen
Startvorteil. Religiöse Organisationen sind hervorragende Schulen der Demokratie
und vermitteln zivilgesellschaftliche Kompetenzen gerade auch an Menschen, die
sonst wenig Gelegenheit bekommen, solche Ressourcen zu kumulieren. Kirchen und
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References
Zusammenfassung
Sind protestantische Vereine und Netzwerke ein besserer Nährboden für die Demokratie als katholische Organisationen? Brauchen auch Religionen den Wettbewerb des freien Marktes ohne staatliche Einmischung, um sich kraftvoll und lebendig zu entfalten? Das Buch untersucht die demokratische und sozial integrative Wirkung katholischer, lutherischer, calvinistischer und säkularer Organisationsformen in Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden, Dänemark, Spanien und Schottland. Dargestellt wird die gesellschaftliche und demokratische Rolle von Religion und Kirche seit den Zeiten der Reformation bis heute. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die demokratieförderliche oder aber hemmende Wirkung von Religion und Konfession als Bestandteil europäischer Zivilgesellschaften am Beginn des 21. Jahrhunderts. Auf der Basis einer international vergleichenden Organisationsstudie kontrastiert das Buch ökonomische Theorien der Religion mit dem klassischen Säkularisierungsparadigma, sowie Sozialkapitalansätze mit Organisationstheorien, die behaupten dass die kleine, dezentral organisierte Organisationsform des Protestantismus der großen, zentralistischen und hierarchischen Organisationsstruktur des Katholizismus überlegen sei.