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katholischen Organisationen) die religiöse Beteiligung behindere. Schweizer Studien
schließlich zeigen, dass die Rate der Konfessionslosen in den Kantonen am höchsten
ist, wo die Trennung zwischen Staat und Kirche am rigidesten durchgesetzt wurde
(Dubach 1998: 26-27). Norris und Inglehart, die den World Values Survey nutzen
und die Gültigkeit der Pluralimusthese an 76 Nationen testen, kommen zu einem
vernichtenden Ergebnis:
„We demonstrate that pluralism has no positive relationship with participation, either within
postindustrial societies or in worldwide perspective. The theory fits the American case but the
problem is that it fails to work elsewhere” (Norris/Inglehart 2004: 24).
4.3.5 Freie Märkte und religiöse Vielfalt: ein historisches Missverständnis?
Die rational choice Theorie der Religion, so Bruce, hat sehr viel von Tocqueville
entliehen. In den 1830er Jahren gab es in Frankreich eine einzige Religion (die katholische) und diese erfreute sich keiner großen Beliebtheit. In den USA dagegen
bewunderte er ein lebendiges religiöses Leben und setzte dies in Beziehung zur
Vielzahl existierender Sekten.
„Free and powerful in its own sphere, satisfied with the place reserved for it, religion never
more surely establishes its empire than when it reigns in the hearts of men unsupported by
aught beside its native strength“ (Tocqueville 1848/1998: 21).
Der Vergleich zwischen beiden Ländern stimulierte Tocqueville, so Bruce, zu einer
unangemessenen Gleichsetzung: In Frankreich führte das katholische Monopol zur
religiösen Indifferenz, während der Wettbewerb in den USA hohe religiöse Involvierung zur Folge hatte (Bruce 1999: 46). Die Gleichung sei jedoch falsch.
„However, those who have revived de Tocqueville have failed to notice that his impression of
variety was formed while travelling around the colonies. Considerable diversity at the national
level was accompanied by considerable degrees of concentration in particular places” (Bruce
1999: 58).
Tocquevilles Amerika war auf lokaler Ebene, also dort wo Individuen die Möglichkeit hätten, ihre Nutzenkalkulation zu maximieren, erstaunlich homogen. Selbst
1950 waren wenige Kreise und Kommunen nicht von einer oder wenigen Kirchen
dominiert (Gaustad 1962: 159, zitiert nach Bruce 1999: 58; vgl. auch Pyle/Davidson
2003: 66-69).78
78 Selbst aus aktueller Perspektive bezweifelt Beaman (2003: 312) das Ausmaß religiöser Vielfalt, wie es von rational choice Autoren für Amerika beschrieben wird. Typisch ist eher
Auswahl unter einer Vielzahl sehr ähnlicher Varianten des Protestantismus. Religiöse Vielfalt
ist daher ein Mythos. Diese Wahrnehmung – alle protestantischen Varianten sind mehr oder
weniger gleich – wird von Gill (2003: 328-329) allerdings als falsch und unangemessen kritisiert.
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Die Pluralismusthese, so Bruce, ist zudem historisch falsch. Diversifizierung ist
nicht das Resultat eines freien Marktes, sondern umgekehrt: der freie Markt, der
Verzicht auf Regulierung, folgt dem Pluralismus (Bruce 2000: 34). Auch die USA
bestanden zu Zeiten ihrer kolonialen Anfänge aus verschiedenen ‚Nationen’, von
denen fast jede ihre Staatskirche aus dem Emigrationsland mitgebracht hatte. Im
Gründungsakt der Vereinigten Staaten mussten die Verfassungsväter diesen religiösen Pluralismus berücksichtigen und entschieden sich daher für die strikte religiöse
Neutralität:
„It was because each faced significant dissent within its own boundaries and because, taken
together, they were not the same church – that is, because there was religious diversity – that
the founding fathers drafted a constitution that thought religion a good thing but did not support any particular form” (Bruce 1999: 75).
Kurz gesagt: zuerst entstand religiöser Pluralismus; die Abschaffung staatskirchlicher Systeme und die Selbstverpflichtung zu religiöser Neutralität war eine Reaktion auf die faktische Diversität in konfessionellen Angelegenheiten.
4.3.6 Zur Privatisierung von Religion: Motivationsschub oder Unsichtbarkeit der
Religion?
Auch haben Modernisierung und die mit ihr einhergehende gesellschaftliche Differenzierung unterschiedliche Auswirkungen in katholischen und protestantischen
Nationen. In Ländern wie Italien und Spanien entsteht eine scharfe Trennungslinie
zwischen konservativer katholischer Kultur einerseits, die auf der Gültigkeit älterer
gemeinschaftlicher organischer Modelle gesellschaftlichen Zusammenlebens besteht, und radikaleren anti-christlichen, anti-klerikalen Bewegungen, die mit diesem
Bezugsrahmen vollständig brechen (vgl. Spohn 2003: 331; Madeley 2003b: 39;
Manuel 2002: 71).79 Der Konflikt verläuft demnach zwischen katholischer und säkularer oder laizistischer Kultur. In protestantischen Ländern führen Säkularisierungstendenzen zu inner-protestantischen Konfliktlinien. Die Reformation, so Bruce, hat
im Endeffekt die Institution der Kirche als Autoritätsquelle und Bindeglied zwischen
Gott und Mensch obsolet gemacht. Mit der Reformation wurde das Individuum zum
Oberrichter biblischer Authentizität gekürt (Thuesen 2002: 28). Die Betonung der
Bibel und die Überzeugung, dass sich jedem einzelnen Gläubigen das Wort Gottes
durch Bibellektüre erschließen könne, führte im Zuge sozialer Differenzierung zu
einer großen Zahl mit einander konkurrierender Auslegungen und Institutionen:
„In Protestant countries, social differentiation took the form not of a radical divide between
clerical and secular elements but of a series of schisms from the dominant traditions. Rising
social classes were able to express their new aspirations and ambitions by reworking the familiar religion into shapes that accorded with their self-image” (Bruce 1999: 11).
79 Laut Bruce ist es von daher kein Zufall, dass gerade katholische Nationen durch die Existenz
starker kommunistischer Parteien gekennzeichnet sind (Bruce 1999: 10, 22).
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References
Zusammenfassung
Sind protestantische Vereine und Netzwerke ein besserer Nährboden für die Demokratie als katholische Organisationen? Brauchen auch Religionen den Wettbewerb des freien Marktes ohne staatliche Einmischung, um sich kraftvoll und lebendig zu entfalten? Das Buch untersucht die demokratische und sozial integrative Wirkung katholischer, lutherischer, calvinistischer und säkularer Organisationsformen in Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden, Dänemark, Spanien und Schottland. Dargestellt wird die gesellschaftliche und demokratische Rolle von Religion und Kirche seit den Zeiten der Reformation bis heute. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die demokratieförderliche oder aber hemmende Wirkung von Religion und Konfession als Bestandteil europäischer Zivilgesellschaften am Beginn des 21. Jahrhunderts. Auf der Basis einer international vergleichenden Organisationsstudie kontrastiert das Buch ökonomische Theorien der Religion mit dem klassischen Säkularisierungsparadigma, sowie Sozialkapitalansätze mit Organisationstheorien, die behaupten dass die kleine, dezentral organisierte Organisationsform des Protestantismus der großen, zentralistischen und hierarchischen Organisationsstruktur des Katholizismus überlegen sei.