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auf einem allgemeinen Umlagesystem basieren, dieser Neigung am wenigsten nachgeben (müssen). Dies ist übrigens ein beliebtes Argument seitens der über allgemeine Umlagen finanzierten Kirchen, die nichts mehr befürchten, als Abhängigkeit von
Schenkungen und Mitgliederbeiträgen und große Nachteile für die weniger Begüterten unter den Bevölkerungen beschwören:
„That, they say, can be more stifling than establishment when it comes to championing the
rights of the underdog who may not be popular with the bourgeois church members who pay
the organist and call the hymn tune. The state’s money is more anonymous and enables them
to be more independent [...]” (Lamont 1989: 171).
Auch aus historischer Sicht ist das Argument der gesellschaftlichen Ineffizienz vieler Staatskirchen schwer zu halten. Staatskirchen waren Teil der Verwaltungsstruktur und in der Regel alleinzuständig für alle Belange der Lokalverwaltung, einschließlich Bildungs-, Wohlfahrts- und Gerichtswesen. Die Kirchenmitglieder, die
sich in der Gemeinde engagierten, hatten somit Einfluss auf lebensrelevante Bereiche außerhalb der engeren spirituellen kirchlichen Angelegenheiten. Vor allem
(männliche) Bürger der höheren Schichten, aber auch manche weniger bevorteilte
Gemeindemitglieder gewannen so „a sense of direct participation in the government
of the church“ (Mitchison 2002: 351). Aus historischer Sicht sind somit gerade
Staatskirchen mit ihren vielfältigen und zum Teil politischen Aufgaben hervorragende Schulen der Demokratie gewesen. Geht man noch weiter in mittelalterliche
Zeiten zurück, so war die Kirche sogar einer der wenigen Zugangsmöglichkeiten zu
Macht und politischer Verantwortung: „in medieval-agrarian societies“, so Collins,
„religion was a bulwork of the main organizational structure, and the church was a
direkt route to power, wealth, and prestige“ (Collins 1997: 164). Die aktuelle Annahme, die Staatskirchentum mit Passivität seitens der Kirchenmitglieder und des
Kirchenpersonals gleichsetzt, beruht offensichtlich auf einer Perspektive, die allein
auf die Jetztzeit zutrifft. Dabei ist anzunehmen, dass solche historischen Konfigurationen, gerade wenn sie über Jahrhunderte bestanden, lang anhaltend nachwirken.
Dieses Argument lässt sich unschwer mit Ingleharts Interpretation verknüpfen, der
wie Lipset und andere Autoren aktuelle Unterschiede in der Sozialkapital-
Ausstattung zwischen protestantischen und katholischen Nationen auf die postreformatorische Natur der jeweiligen Kirchen zurückführte (vgl. Kapitel 3): historische Staatskirchen als Generator eines Reservoirs an Sozialkapital, das sich über die
Jahrhunderte in die politische Kultur der Nationen übertrug. Allerdings dürfte man
nicht wie Inglehart ein spezifisch protestantisches Organisationsmodell für diesen
nachhaltigen Effekt verantwortlich machen. Der Grund wäre eine Jahrhunderte währende staatskirchliche Einbindung mit ihren vielfältigen politischen und administrativen Aufgaben, die als effiziente Schulen der Demokratie wirkten.
4.3.2 Religion, die nichts kostet?
Dass Religion im Staatskirchensystem sozusagen umsonst zu haben sei, gehört zu
den zentralen Argumenten der rational choice Theorie der Religion. Dies ist sicherlich nicht das überzeugendste Argument der ökonomischen Schule. Immerhin wer-
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den viele dieser Systeme über Kirchensteuern finanziert (ausführlich in Kapitel 7),
somit weiß der einzelne Steuerpflichtige in der Regel sehr wohl und auch ganz
exakt, was ihn die Kirche pro Monat kostet. Zudem steht die Annahme im krassen
Gegensatz zu Überlegungen bei Putnam (1995b: 666) oder Offe/Fuchs (2001: 433).
Hier wird davon ausgegangen, dass Engagement dort am geringsten verbreitet ist,
wo signifikante Mitgliedsbeiträge gezahlt werden müssen (wie in Parteien, Gewerkschaften, aber eben auch den Kirchen), und dort am stärksten, wo Vereinigungen
funktional vom Einsatz von Zeit, Kompetenzen und Erfahrungen abhängen (z.B. im
Sport- oder Gesangsverein). Putnam oder Offe und Fuchs gehen demnach davon
aus, dass die Mitglieder sehr wohl wissen, welche Ressourcen einzelne Organisationen am dringendsten benötigen und sie handeln entsprechend. Wenn Menschen eine
nicht unerhebliche Geldsumme – und gerade Kirchensteuern können zu erklecklichen Beträgen wachsen – an eine Organisation überwiesen haben, sind sie weniger
bereit, weitere Ressourcen (Zeit, Engagement) zu investieren. Diese Dynamik haben
Jordan und Maloney (1997) in einem anderen Zusammenhang als ein „contracting
out“ der Partizipationsfunktion beschrieben: Ich gebe Geld, weil ich die Ziele einer
Organisation unterstützte, aber selbst nicht die Absicht habe, aktiv zu werden. Nicht
die kostenfreie, sondern ganz im Gegenteil, die teuer zu bezahlende Bereitstellung
von Religion begründet hier Migliederapathie. Auch empirisch ist der Zusammenhang zwischen individuellen Kosten und Partizipation fragwürdig: reiche, staatsfinanzierte Kirchen in Skandinavien leiden unter ähnlicher Mitgliederapathie wie die
ärmsten, privat finanzierten Kirchen in Frankreich oder auch Großbritannien (Davie
2000: 43). Ebenso wird die These, dass Professionalisierung den Appetit auf ehrenamtliche Tätigkeiten untergrabe, zwar häufig repliziert (z.B. Davie 2000: 47). Empirisch aber zumindest angreifbar. Ehrenamtliche sind dort am häufigsten anzutreffen,
wo auch professionelles, fest angestelltes Personal existiert. Die Größe des professionellen Sektors ist sogar der wichtigste Prädiktor freiwilligen Engagements (Maloney und Roßteutscher 2005: 105-106). Wie ist das möglich? Maloney und
Roßteutscher argumentieren, dass „the culture of volunteering is best nourished in a
professional environment of expertise and permanent staff” (2005: 111). Ehrenamtlichkeit benötigt demnach qualifizierte Hilfe und professionelle Anleitung. Auch
führt die Institutionalisierung fester Stellen zu einer gewissen Dauerhaftigkeit einer
Organisation und ihrer Ziele, was wiederum die Rekrutierung Ehrenmatlicher erleichtert. Allerdings lässt sich der von der ökonomischen Schule ausgeschlossene
Positivzusammenhang zwischen Professionalisierung/Dauerstellung/Einkommenssicherheit und dem Niveau ehrenamtlicher Tätigkeiten auch theoriekonform interpretieren. Der nutzenmaximierende „Kirchenbeamte“ mag sich – heimlich oder
offen – leere Kirchen wünschen, die ihm wenig Arbeit zumuten. Er kann aber auch,
gerade weil er nutzenmaximierend denkt, die anfallenden Arbeiten Ehrenamtlichen
überlassen und gerade dadurch eine Kultur freiwilligen Engagements befördern.72
72 Auch Warren (vgl. Kapitel 3) bemüht ein ähnliches Argument, wenn er die gesicherte Position katholischer Priester in den USA mit der Gemeinde-Abhängigkeit des protestantischen
Klerus vergleicht.
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4.3.3 Soziale Segmentierung als Ergebnis deregulierter Märkte
Es gibt ein grundsätzliches Argument gegen den kausalen Zusammenhang zwischen
Deregulierung auf der einen Seite und religiöser Vielfalt auf der anderen. Amerika
ist eine vor allem nach ethnischen Gesichtspunkten segmentierte Gesellschaft. Pluralismus und Organisationsvielfalt sind kausal mit diesen Bruchlinien verknüpft, da
z.B. schwarze Baptisten nie gemeinsam mit weißen oder hispanischen Baptisten eine
Organisation bilden würden. Allein die ethnische Konfliktlinie führt daher zu einer
drei- oder vierfachen Ausbildung der gleichen Organisation, oft nochmals segmentiert nach Schicht- oder Geschlechtskriterien. “The decisive separations in the majority (in America) Christian world did not follow denominational lines so much as
lines of gender, class, race, ethnicity, cause, or ideology and political preference“
(Marty 1993: 19). Folgt man diesem Argument, so sind potentielle Auswirkungen
der Marktorganisation marginal oder sekundär zum Einfluss der Segmentierung der
amerikanischen Gesellschaft. Die (religiöse) Vereinslandschaft der USA wäre daher
vor allem deshalb vielfältiger als in den meisten vergleichsweise homogenen europäischen Gesellschaften, weil diese Gesellschaft von mehr und weniger einfach zu
überbrückenden Konfliktlinien gekennzeichnet ist. Dabei hat sich die Segmentierung entlang sozio-struktureller Merkmale in den vergangenen zwei Jahrhunderten
deutlich verstärkt.
„These three demographic factors – region, social class, and urbanism – at first served to differentiate from each other a dozen or so denominations of mostly white, Anglo-Saxon Protestants, but by the middle of the 19th century, religion in the United States became much more
multicultural, with race, ethnicity, and national origin added to the demographic differentiators
of religious denominations. The immigration of masses of Catholics and Jews (as well as more
Lutherans) from Germany and Catholics from Ireland increased the sociological salience of religious identity itself, the Civil War intensified religious sectionalism, and the rapid rise of African-American churches after the war added a color line between the churches (instead of
simply within them)“ (Warner 1993: 1058-1059).
Damit stehen diese Überlegungen im Widerspruch zu alternativen Annahmen, die
gesellschaftliche Homogeneität als Ausgangspunkt religiöser Vitalität betrachten
(siehe unten). Hier heißt es nun, dass heterogene Gesellschaften Vereinsbildung und
Partizipation fördern, da die Vereinslandschaft quasi natürlich die verschiedenen
Merkmale, Interessen und Wertüberzeugungen der Gesellschaftsmitglieder widerspiegelt. Je mehr eine Gesellschaft durch Gegensätze (ethnischer, sozialstruktureller
oder weltanschaulicher Natur) gekennzeichnet ist, desto eher wird ein lebendiges
und differenziertes Vereinsleben entstehen. Weil der einzelne Verein somit homogener strukturiert ist, sind Gruppennormen und interner Zusammenhalt hoch, daher
wird in solchen Vereinen auch stärker partizipiert als in Vereinen mit heterogener
Mitgliederbasis. Heterogenität beeinflusst somit sowohl die Ausbildung von Organisationen als auch individuelles Handeln in Organisationen (Krassa 1995, Wilson
1986):
„Mit der Breite des Angebots an Organisationen steigt die Wahrscheinlichkeit der individuellen sozialen Beteiligung in Vereinen, da den unterschiedlichen Präferenzen der Individuen
zahlreiche Auswahlmöglichkeiten gegenüber stehen“ (Bühlmann/Freitag 2004: 331).
Für Anhänger der rational choice Schule wäre dies allerdings kein überzeugendes
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Sind protestantische Vereine und Netzwerke ein besserer Nährboden für die Demokratie als katholische Organisationen? Brauchen auch Religionen den Wettbewerb des freien Marktes ohne staatliche Einmischung, um sich kraftvoll und lebendig zu entfalten? Das Buch untersucht die demokratische und sozial integrative Wirkung katholischer, lutherischer, calvinistischer und säkularer Organisationsformen in Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden, Dänemark, Spanien und Schottland. Dargestellt wird die gesellschaftliche und demokratische Rolle von Religion und Kirche seit den Zeiten der Reformation bis heute. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die demokratieförderliche oder aber hemmende Wirkung von Religion und Konfession als Bestandteil europäischer Zivilgesellschaften am Beginn des 21. Jahrhunderts. Auf der Basis einer international vergleichenden Organisationsstudie kontrastiert das Buch ökonomische Theorien der Religion mit dem klassischen Säkularisierungsparadigma, sowie Sozialkapitalansätze mit Organisationstheorien, die behaupten dass die kleine, dezentral organisierte Organisationsform des Protestantismus der großen, zentralistischen und hierarchischen Organisationsstruktur des Katholizismus überlegen sei.