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on ausüben (Stark/Bainbridge 1996: 142; Stark/Finke 2000: 143). Der Ausstieg aus
solch devianten Organisationen ist relativ „teuer“, da sie völlig neuen Ansprüchen in
einer für sie fremden Umwelt genügen müssen:
„An organization in tension will ask a lot from its members, who in turn will give a lot to the
organization. [...] Furthermore, by deliberately offering or withholding these rewards, a religious organization can tie people exclusively to the organization and ensure that they will give
their rewards to the organization alone“ (Sengers 2004: 130).
So vergrößern sich die Spannungen mit der Außenwelt, da Unterschiede betont
werden und sich antagonistische Beziehungen entwickeln. Allerdings: mit dem Erfolg einer solchen subkulturellen Organisation sinkt der Grad der Spannung zwangsläufig. Die Sekte mutiert zur Kirche (Stark/Bainbridge 1996: 270; Stark/Finke 2000:
143). Dies ist ein direkter Effekt ihrer Größe. Je mehr Anhänger, desto schwieriger
wird die Disziplinierung der Mitglieder und desto wahrscheinlicher wird es, dass
Normen und Werte sozialisiert werden, die denen der Umwelt ähneln. Sinken die
Spannungen und Konflikte mit der Umwelt, so sinkt auch der gruppeninterne Mobilisierungsgrad. Mit anderen Worten, „strikte“ Kirchen wachsen, liberalere Kirchen
bzw. Kirchen, die an die Umwelt angepasst sind, schrumpfen (Kelley 1986; Iannaccone 1994). Folgt man der Logik des „sect-church-cycles“ so ist Subkulturbildung
demnach entweder zeitlich begrenzt oder nur dann dauerhaft möglich, wenn die
religiöse Gruppierung erfolglos bleibt, also nicht den Mitgliederzuwächsen ausgesetzt ist, die den Sekte-Kirchen-Zyklus in Gang setzen. „The heart of the sect-tochurch theory is the thesis that deviant religious organizations can become succesful,
but that they bear the seed of decline in them“ (Sengers 2004: 130). Auch die rational choice Theorie feiert somit den partizipativen Vorteil kleiner Größe. Wie im Fall
der Sozialkapitaltheorie sind auch hier viele Thesen zur Vitalität von Sekten gegen-
über Kirchen bei Weber und Troeltsch entliehen (vgl. Kapitel 3).
4.2.5 Mögliche Schlussfolgerungen für eine empirische Analyse
Das zentrale Argument der ökonomischen Schule lautet: ein freier Markt produziert
religiöse Vielfalt und diese Vielfalt führt zu einer Steigerung religiöser Partizipation.
Damit ergeben sich zwei überprüfbare Hypothesen, von denen die erste den Zusammenhang zwischen Regulierung und Pluralismus formuliert und eine zweite den
Einfluss von pluralistischen Angebotsstrukturen auf individuelle Partzipationsraten
beinhaltet:
• Je weniger der Staat in den religiösen Sektor eingreift (je „freier“ der Markt ist),
desto höher ist der Pluralimsmusgrad im religiösen Sektor, d.h. desto mehr unterschiedliche konfessionelle Angebote stehen zur Verfügung.
• Je mehr religiöse Angebote zur Verfügung stehen (je pluralistischer der religiöse Markt strukturiert ist), desto höher ist die religiöse Partizipation.
Die These, dass freie Märkte und die daraus hervorgehende pluralistische Konkurrenzsituation religiöse Partizipation erhöhen, gilt sowohl auf für Individuen als
auch für zivilgesellschaftliche Organisationen:
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Im freien Markt gibt es mehr und vielfältigere religiöse Organisationen/Angebote,
da …
• …neue Anbieter nicht vom Staat eingeschränkt werden,
• …start-up Kosten daher relativ gering sind und
• …vermehrt Nischenprodukte offeriert werden.
Auch in der einzelnen religiösen Organisation wird engagierter partizipiert, da …
• …attraktive, kundenoriente „Produkte“ angeboten werden,
• …die Organisation dem „Kunden“ und nicht dem Staat gegenüber verantwortlich ist,
• …die Kunden (Mitglieder) die Organisation finanzieren und daher über hohe
Kontrollbefugnisse verfügen.
Dadurch erhöht sich schlussendlich auch im Aggregat der Anteil, der von religiösen
Organisationen insgesamt Mobilisierten. Die These von der vitalitätssteigernden
Kraft pluralistischer Systeme im Vergleich zur Monopolsituation lässt sich somit
dreifach präzesieren:
In pluralistischen Kontexten gibt es a) mehr religiöse Organisationen, b) höhere
Partizipationsraten innerhalb der Organisationen und c) eine höhere religiöse Mobilisierungsrate, d.h. ein höherer Anteil der Gesamtbevölkerung ist in religiösen Gruppen aktiv. Die Richtigkeit dieser Thesen wird in Kapitel 8 (Zusammenhang zwischen freiem Markt und religiöser Vielfalt) und Kapitel 11 (Zusammenhang zwischen religiöser Vielfalt und Ausmaß individueller Partizipation) empirisch
überprüft. Neben diesen Kernannahmen ergeben sich aber aus der Logik der rational
choice Theorie mehrere Hypothesen, die für diese Untersuchung ebenfalls fruchtbar
sind. Interessanterweise sind dies Hypothesen, die nicht mit dem Organisationsargument der Partizipations- und Sozialkapitaltheorie konkurrieren, sondern diese
ergänzen. Dies betrifft zunächst eine These, die besagt, warum unter bestimmten
institutionellen Verhältnissen die Ausbreitung demokratischer Organisationsformen
befördert oder aber gehemmt wird.
• Im freien Markt sind religiöse Organisationen eher dezentral und demokratisch
verfasst, da sie finanziell von der Mitgliederbasis und nicht vom Staat abhängen.
• Umgekehrt: Mit der Abhängikeit von staatlichen Mitteln, steigt die oligarchische, arbeitsteilige, professionalisierte Verfassung religiöser Organisationen.
Zwei weitere Thesen ergeben sich, welche die Wirkung organisatorischer Merkmale
auf individuelle Partizipationsmuster im Prinzip bestätigen, aber den kausalen Mechanismus, der sich hinter dem postulierten Zusammenhang verbirgt, konkretisieren:
• Mit der Professionalisierung des religiösen Sektors (im Sinne festangestellter,
womöglich staatlich finanzierter „Kirchenbeamter“) sinkt das innerorganisatorische Niveau an Partizipation und Ehrenamtlichkeit.
• Je größer die Höhe staatlicher Subvention bzw. die Abhängigkeit von öffentlichen Mitteln ist – also von Mitteln, die organisationsextern requiriert werden –
desto geringer ist das Ausmaß innerorganisatorischer Partizipation.
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4.3 Fehlversorgung, Segmentierung und Abschottung – die Schattenseite freier
Märkte
Es ist sicher nicht überraschend, dass die Anwendung ökonomischer Denkmodelle
auf ein Phänomen wie Religion scharfe Kritik hervorrufen musste. Überraschend ist
vielleicht, dass sehr ähnliche Kontextfaktoren oder Makroindikatoren auch von der
kritischen Seite in den Mittelpunkt gestellt werden – allerdings gänzlich anders
interpretiert werden. So werden auch hier Pluralismus und deregulierte Märkte in
einen engen Zusammenhang gesetzt, doch ist nicht religiöse Mobilisierung das Resultat religiöser Vielfalt, sondern Relevanzverlust der Religion und sinkende Partizipationsraten. Spezialisierung und Nischenbildung, die in der ökonomischen Theorie
als Triebfeder religiöser Mobilisierung firmieren, werden nun zu Bausteinen einer
segmentierten und sozial ungleichen Gesellschaftsordnung. Während die ökonomische Schule die Sonnenseite freier Märkte thematisiert, sehen ihre Kritiker mehr
Schatten als Licht.
4.3.1 Über- und Unterversorgung: zur Ineffizienz freier Märkte
Monopole mögen, wie Iannaccone argumentiert, ineffizient sein, doch dies kann auf
kompetitive Situationen ebenso zutreffen: unnötige Duplizierung bereits bestehender
Angebote ist die offensichtlichste Ineffizienz rivalisierender Religionen. So zeigt
Gill, dass der religiöse Wettstreit im Großbritannien des 19. Jahrhunderts zu einer
massiven Überversorgung mit Kirchen führte (Gill 1993). Auch Bruce findet für die
Zeit nach dem großen Schisma innerhalb der calvinistischen schottischen Kirche
und der Abspaltung der Free Church, dass die Freikirche genau in den (wohlhabenden Mittelklasse-) Stadtteilen und Gemeinden alternative Kirchen und Schulen baute, die bereits bestens von der Kirk (der schottischen Staatskirche) versorgt waren,
und die Gemeinden übersahen, in denen auch die Kirk nicht aktiv war: „The result
was eighty years of expensive and pointless overprovision and, after the re-union in
1929, the closure of hundreds of church buildings“ (Bruce 1999: 52).
Überversorgung ist also eine mögliche Auswirkung deregulierter Märkte. Die
Verstärkung sozialer Schichtung ist eine aus demokratischer Perspektive womöglich
noch bedenklichere Folge eines freien Marktes. Auch dies lässt sich eindeutig für
das schottische Aberdeen bestätigen:
„It was self-evident that the more wealthy members a church could attract the better would be
its financial position and its resultant status in the country. It was early realization of this simple fact which undoubtedly played a large part in influencing the choice of building sites for
both Greyfriars and Trinity Free churches. Both of these congregations deserted what were
primarily working-class parishes and built their churches with fifty yards of one another in
fashionable Crown Street“ (MacLaren 1974: 109).
Je stärker religiöse Organisationen auf freiwillige Gaben ihrer Mitglieder angewiesen sind, desto eher versuchen sie, ressourcensstarke Individuen zu gewinnen. Umgekehrt ist zu vermuten, dass staatskirchliche oder amtskirchliche Traditionen, die
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Sind protestantische Vereine und Netzwerke ein besserer Nährboden für die Demokratie als katholische Organisationen? Brauchen auch Religionen den Wettbewerb des freien Marktes ohne staatliche Einmischung, um sich kraftvoll und lebendig zu entfalten? Das Buch untersucht die demokratische und sozial integrative Wirkung katholischer, lutherischer, calvinistischer und säkularer Organisationsformen in Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden, Dänemark, Spanien und Schottland. Dargestellt wird die gesellschaftliche und demokratische Rolle von Religion und Kirche seit den Zeiten der Reformation bis heute. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die demokratieförderliche oder aber hemmende Wirkung von Religion und Konfession als Bestandteil europäischer Zivilgesellschaften am Beginn des 21. Jahrhunderts. Auf der Basis einer international vergleichenden Organisationsstudie kontrastiert das Buch ökonomische Theorien der Religion mit dem klassischen Säkularisierungsparadigma, sowie Sozialkapitalansätze mit Organisationstheorien, die behaupten dass die kleine, dezentral organisierte Organisationsform des Protestantismus der großen, zentralistischen und hierarchischen Organisationsstruktur des Katholizismus überlegen sei.