103
Methodismus oder die Great Awakening in den britischen Kolonien – haben ein und
dieselbe Ursache: Eine Wiederbelebung christlichen Glaubens, Missionierung und
privater Gotteserfahrung als Reaktion auf die religiöse Indifferenz einer zunehmend
säkularisierten Kultur, Elite und Gesellschaft (Wallace 2004: 200).
Damit kann Säkularisierung – in der Regel als Feind religiöser Vergemeinschaftung
jeder Art verstanden – sogar eine den religiösen Sektor befruchtende Wirkung besitzen. Versteht man unter Säkularisierung die Entstehung einer säkularen Vereinswelt
mit unterschiedlichsten Freizeit- und Unterhaltungsangeboten, so führen Nachahmungszwänge die Religion in eine größere organisatorische Vielfalt: je mehr „profane“ Angebote zur Verfügung stehen, desto mehr eigene Angebote müssen die
Kirchen kreieren, um ihre Mitglieder und Anhänger nicht an die säkulare Welt zu
verlieren. Da mit dieser Ausweitung des Angebots in profane Bereiche hinein in der
Logik der ökonomischen Schule der Sekte-zu-Kirchen Zyklus in Gang gesetzt wird
(oder dies zumindest droht), führt säkulare Konkurrenz zur permanenten Erneuerung
und Vitalität des religiösen Marktes.
4.2.4 Minoritäten und Sekten: vom partizipativen Vorteil „strikter“ Kirchen
Die Minderheitsreligion fühlt sich von einer ihr feindlichen Kultur umgeben. Dies
gilt auch dann, wenn die Minderheit in einer bestimmten Region eine Hegemonialposition einnimmt (Finke/Stark 1988: 44-46; 1989: 1054-1056). Die Minderheitsreligion ist ständig um den Erhalt ihrer Identität bemüht und daher „less likely to lapse
into the complacency that a protected position invites“ (Warner 1993: 1056).
Die relative Position der katholischen Kirche – von der Hegemonialmacht in der
klassischen katholischen Nation bis zur bekämpften und benachteiligten Minderheit
in dominant protestantischen Staaten – erklärt nach Stark und Iannaccone auch die
sehr nationenspezifischen Partizipationsraten der Katholiken. So findet Stark (1992)
auf der Basis eines 45 Nationenvergleichs, dass das Engagement der Katholiken
negativ korreliert mit der Größe des katholischen Bevölkerungsanteils.
„That is, the Catholic Church will be more effective in mobilizing its members where it is confronted either by pluralistic religious economies or by Protestant semimonopolies and will be
least effective where it most closely approximates a monopoly“ (Stark/Iannaccone 1994: 240).
Die rational choice Theorie der Religion sieht die positiven Effekte deregulierter
Märkte auch für nicht-christliche Religionen innerhalb dominant christlicher Gesellschaften bestätigt. Auf der Basis eines 18 Nationenvergleichs schließen Chaves et
al., dass Muslime desto stärker partizipieren, je freier der Markt an sich organisiert
ist: „Even among Muslim in predominantly Christian societies, less state subsidy of
religion produces higher levels of religious activity“ (Chaves et al. 1994: 1087). Je
ausgeprägter die Außenseiter-Position solcher Minoritäten ist, desto wahrscheinlicher wird hohes Gruppenengagement. Dies ist so, weil Spannungen (degree of tension) zwischen der Umwelt und einer religiösen Gruppe bzw. die Abweichung (deviance) von dieser Umwelt, einen positiven Einfluss auf innerkirchliche Partizipati-
104
on ausüben (Stark/Bainbridge 1996: 142; Stark/Finke 2000: 143). Der Ausstieg aus
solch devianten Organisationen ist relativ „teuer“, da sie völlig neuen Ansprüchen in
einer für sie fremden Umwelt genügen müssen:
„An organization in tension will ask a lot from its members, who in turn will give a lot to the
organization. [...] Furthermore, by deliberately offering or withholding these rewards, a religious organization can tie people exclusively to the organization and ensure that they will give
their rewards to the organization alone“ (Sengers 2004: 130).
So vergrößern sich die Spannungen mit der Außenwelt, da Unterschiede betont
werden und sich antagonistische Beziehungen entwickeln. Allerdings: mit dem Erfolg einer solchen subkulturellen Organisation sinkt der Grad der Spannung zwangsläufig. Die Sekte mutiert zur Kirche (Stark/Bainbridge 1996: 270; Stark/Finke 2000:
143). Dies ist ein direkter Effekt ihrer Größe. Je mehr Anhänger, desto schwieriger
wird die Disziplinierung der Mitglieder und desto wahrscheinlicher wird es, dass
Normen und Werte sozialisiert werden, die denen der Umwelt ähneln. Sinken die
Spannungen und Konflikte mit der Umwelt, so sinkt auch der gruppeninterne Mobilisierungsgrad. Mit anderen Worten, „strikte“ Kirchen wachsen, liberalere Kirchen
bzw. Kirchen, die an die Umwelt angepasst sind, schrumpfen (Kelley 1986; Iannaccone 1994). Folgt man der Logik des „sect-church-cycles“ so ist Subkulturbildung
demnach entweder zeitlich begrenzt oder nur dann dauerhaft möglich, wenn die
religiöse Gruppierung erfolglos bleibt, also nicht den Mitgliederzuwächsen ausgesetzt ist, die den Sekte-Kirchen-Zyklus in Gang setzen. „The heart of the sect-tochurch theory is the thesis that deviant religious organizations can become succesful,
but that they bear the seed of decline in them“ (Sengers 2004: 130). Auch die rational choice Theorie feiert somit den partizipativen Vorteil kleiner Größe. Wie im Fall
der Sozialkapitaltheorie sind auch hier viele Thesen zur Vitalität von Sekten gegen-
über Kirchen bei Weber und Troeltsch entliehen (vgl. Kapitel 3).
4.2.5 Mögliche Schlussfolgerungen für eine empirische Analyse
Das zentrale Argument der ökonomischen Schule lautet: ein freier Markt produziert
religiöse Vielfalt und diese Vielfalt führt zu einer Steigerung religiöser Partizipation.
Damit ergeben sich zwei überprüfbare Hypothesen, von denen die erste den Zusammenhang zwischen Regulierung und Pluralismus formuliert und eine zweite den
Einfluss von pluralistischen Angebotsstrukturen auf individuelle Partzipationsraten
beinhaltet:
• Je weniger der Staat in den religiösen Sektor eingreift (je „freier“ der Markt ist),
desto höher ist der Pluralimsmusgrad im religiösen Sektor, d.h. desto mehr unterschiedliche konfessionelle Angebote stehen zur Verfügung.
• Je mehr religiöse Angebote zur Verfügung stehen (je pluralistischer der religiöse Markt strukturiert ist), desto höher ist die religiöse Partizipation.
Die These, dass freie Märkte und die daraus hervorgehende pluralistische Konkurrenzsituation religiöse Partizipation erhöhen, gilt sowohl auf für Individuen als
auch für zivilgesellschaftliche Organisationen:
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Sind protestantische Vereine und Netzwerke ein besserer Nährboden für die Demokratie als katholische Organisationen? Brauchen auch Religionen den Wettbewerb des freien Marktes ohne staatliche Einmischung, um sich kraftvoll und lebendig zu entfalten? Das Buch untersucht die demokratische und sozial integrative Wirkung katholischer, lutherischer, calvinistischer und säkularer Organisationsformen in Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden, Dänemark, Spanien und Schottland. Dargestellt wird die gesellschaftliche und demokratische Rolle von Religion und Kirche seit den Zeiten der Reformation bis heute. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die demokratieförderliche oder aber hemmende Wirkung von Religion und Konfession als Bestandteil europäischer Zivilgesellschaften am Beginn des 21. Jahrhunderts. Auf der Basis einer international vergleichenden Organisationsstudie kontrastiert das Buch ökonomische Theorien der Religion mit dem klassischen Säkularisierungsparadigma, sowie Sozialkapitalansätze mit Organisationstheorien, die behaupten dass die kleine, dezentral organisierte Organisationsform des Protestantismus der großen, zentralistischen und hierarchischen Organisationsstruktur des Katholizismus überlegen sei.