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Schmitt fordert vor allem eine Differenzierung zwischen verschiedenen Typen des
Protestantismus, aber auch eine differenzierte historische Betrachtungsweise
(Schmit 1985: 297-299). Interessant ist aber für den Kontext dieser Arbeit, welch
weitreichende Schlussfolgerungen auch in Europa aus der aus dem Glaubensinhalt
resultierenden verschiedenartigen Organisationsstruktur und dem Niveau organisatorischer Vernetzung gezogen wurden.
3.4 Sekte oder Kirche: ein Missverständnis?
Die Unterscheidung zwischen „klein=aktiv“ und „groß=passiv“ hat – basierend auf
Max Weber und von Ernst Troeltsch weiter entwickelt – eine lange religionssoziologische Geschichte. Die Sekte gilt hier als Prototyp der exklusiven, kleinen Vereinigung, die Kirche oder Konfession als ihr inklusives, großes Gegenstück. Während
die Kirche oder Konfession ihre Mitglieder qua Geburt (und/oder Kinder- bzw.
Babytaufe) erhält und keine gesonderten Mitgliedskriterien aufbaut, beruht der Typ
der Sekte auf Erwachsenenkonversion und verbindlichen sowie häufig anspruchsvollen Mitgliedschaftskriterien – eine „believers’ church“, eine „Gemeinschaft der
persönlich Gläubigen und Wiedergeborenen“ (Weber 1904/2000: 111). Mit anderen
Worten: „Anstaltskirchen und Freiwilligkeitskirchen“ (Troeltsch 1922/1961: 375).
Allerdings: Weber bezieht sich nicht auf den Protestantismus an sich, sondern meint
vor allem Baptisten, Mennoniten und Quäker – Sekten, die exklusive auf Erwachsenenkonversion und auf Engagement und religiöser Disziplin beruhende Mitgliedschaftskriterien besitzen: „Alle täuferischen Gemeinschaften wollen abr „reine“
Gemeinden im Sinn des tadellosen Wandels ihrer Mitglieder sein“ (Weber
1904/2000: 115; Hervorhebungen im Original). Luthertum, Katholizismus und Calvinismus dagegen sind in dem Sinne Kirche und nicht Sekte, da unter ihrem Dach
Gläubige und Ungläubige, Aktive und Inaktive vereint sind (Weber 1904/2000:
111). Wie Weber betont Troeltsch das inklusive Element der Kirche: „Der Typus
der Kirche ist die überwiegend, massenbeherrschende und darum ihrem Prinzip nach
universale, d.h. alles umfassen wollende Organisation“ (Troeltsch 1922/1961: 362).
Die Kirche will ein „universales alles beherrschendes Ideal“ gegenüber der Welt und
Masse geltend machen (Troeltsch 1922/1961: 368). Sekten zeichnen sich neben
ihrer Exklusivität zudem durch Askese und ihren Kleingruppencharakter aus – Eigenschaften, welche die Sekte in den Gegensatz zur säkularen Gesellschaft, aber
auch zur Kirche positionieren. Sektiererische Traditionen leben von einer strengen
Grenzziehung zwischen sich und der Umwelt und versuchen „unspotted from the
world“ zu verbleiben. Im Gegensatz dazu haben Kirchentraditionen gerade in monokonfessionellen Umständen weltliche Institutionen „umarmt“ und zu leiten versucht
(Madeley 2003b: 36). Sekten zeichnen sich zudem durch wenig komplexe, flache
Organisationsprinzipien aus, besitzen hochgradig motivierte Mitglieder, die sich oft
aus unteren Schichten speisen und bilden engmaschige gruppeninterne Beziehungen.
Praktiziert wird ein „Laienchristentum“ basierend auf religiöser Gleichheit und
Brüderlichkeit. Die Ablehnung offizieller Kirchenvertreter, „Seelenführer“ und
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Theologen resultiert aus der Berufung auf das Neue Testament und die Urkirche
(Troeltsch 1922/1961: 370). Die Kirche oder Konfession repräsentiert das Gegenteil:
groß, bürokratisch, hierarchisch, unpersönlich, angepasst an die gesellschaftlich
dominanten Verhältnisse und mit den gehobenen Schichten verbündet: „Unter diesen Umständen war dann aber auch der Kompromiß mit den Staatsgewalten, der
gesellschaftlichen Ordnung, den ökonomischen Lebensbedingungen unausweichlich
[...]“ (Troeltsch 1922/1961: 369). Die ganze lutherische Denkweise, schreibt
Troeltsch, gehört „von Hause aus wesentlich dem Kirchentypus“ an (1922/1961:
448). Zwar tritt an die Stelle der (katholischen) hierarchischen Sakramentskirche die
Schrift- und Predigerkirche, aber auch sie ist „Anstalt“, „völlig unabhängig von dem
Eintreten oder Nicht-Eintreten der subjektiven Bekehrungswirkungen“ (449). Auch
sie basiert auf der Kindertaufe als einem Dokument der „Weltweite der Kirche“ und
„ihrer Unabhängigkeit vom Subjekt und von seiner Leistung“ (1922/1961: 455).
Solche Kirchentraditionen haben jeweils spezifische Anpassungen an die „Welt“
unternommen und Soziallehren entwickelt, welche die Autorität des Staates legitimieren. Luthers Vorstellung von Uniformität, Einheit und allgemeiner Herrschaft
der Kirche mündet daher fast zwangläufig in die Errichtung einheitlicher Staats- und
Landeskirchen (Troeltsch 1922/1961: 458-459).
„Da wird es dann selbstverständlich, dass die Landesherren und Obrigkeiten als zum Dienst
am Gotteswort verpflichtete Gemeindeglieder und als die verordneten Repräsentanten der
Gemeinde die kirchliche Ordnung durch Visitationen in die Hand nehmen und die Herrschaft
des reinen Wortes aufrichten, das wenigstens in seiner Reinheit überall auf den Leuchter gestellt werden und allen zugänglich gemacht werden muß“ (Troeltsch 1922/1961: 465).
Die Universalität der Luther-Kirche wird somit nicht allein durch die Kraft des Wortes, sondern ebenso durch eine „politisch-polizeiliche Aufrechterhaltung einer äußeren Christenheit“, sowie der Schaffung landeskirchlicher Organisationen hergestellt,
was im Endeffekt, so Troeltsch zu einer „Zwangsherrschaft dieses uniformierten
Kirchentums“ werde (1922/1961: 468-469). Wie die katholische Kirche, so musste
auch Luther erleben, dass Idee und Glaube allein nicht ausreichten, um die Menschheit zu bekehren. So griff auch er zu Zwangsmitteln, allerdings nicht wie im Katholizismus durch die Kirche selbst, sondern durch den Staat (Troeltsch 1922/1961:
469-470).
Der Calvinismus schließlich geht einen großen Schritt Richtung Freiwilligkeitskirche, bleibt aber in vieler Hinsicht der Idee der Anstaltskirche verhaftet. Er besitzt
daher eine Doppelstruktur, die ihn von Katholizismus und Luthertum unterscheidet:
„Die Kirche des Calvinismus ist Bekenntnis- und Volkskirche; Heiligungsgemeinschaft und
Heilsanstalt, Freiwilligkeits- und Zwangskirche zugleich, indem vorausgesetzt wird, daß alle
Erwählten bei genügender Belehrung dem Geist der Wahrheit ihr Ohr öffnen, und indem gefordert wird, daß alle Nichterwählten Gott zur Ehre und zum Schutze der Erwählten niederzuhalten und an öffentlicher Aeußerung ihres Unglaubens wie ihrer Sittenlosigkeit gehindert
werden müssen“ (Troeltsch 1922/1961: 730).
Erst dort, wo sich der Calvinismus mit Pietismus und Freikirchentum verbindet, und
somit die Idee einer die gesamte Kultur einheitlich zu beherrschenden Autorität
aufgibt, mutiert er zur Freiwilligkeitskirche und Sekte (Troeltsch 1922/1961: 733-
734). Erst das freikirchliche Prinzip tritt in eine geistige und organisatorische „Verbindung mit der Demokratie“ (Troeltsch 1922/1961: 733).
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Ausgehend von Weber und Troeltsch ist das Luthertum so sehr „Anstaltskirche“ wie
der Katholizismus. Selbst der Calvinismus, auch wenn er gewisse Organisationsprinzipien der Sekte übernimmt, ist mindestens zur Hälfte Kirche, da er den Anspruch erhebt, Gläubige und Ungläubige, Aktive und Inaktive zu umfassen und zu
reglementieren. Erst die Lösung von diesem Anspruch führt in der Freikirche zur
Durchsetzung des Freiwilligkeitsprinzips, der Gleichheit der Gläubigen und somit
auch zur Kreation flacher, dezentraler Strukturen innerkirchlicher Mitbestimmung.
Wollte man somit eine Rangfolge der Konfessionen hinsichtlich ihres Kirchencharakters (und somit ihres Charakters als umfassende, große, hierarchische Organisationen) bilden, so würde man mit dem Katholizismus beginnen müssen, mit dem
Luthertum quasi auf gleicher Position, gefolgt vom Calvinismus, hin schließlich
zum Organisationsprinzip der kleinen, dezentralen, nicht-hierarchischen Freiwilligkeitskirche, das sich erst in den post-calvinistischen Sekten, bzw. dort, wo der Calvinismus die freikirchliche Form wählen musste (wie am Niederrhein), da ihm die
Implementierung eines Staatskirchentums nicht gelang (Troeltsch 1922/1961: 739-
740), in Reinform materialisierte. Nicht der Protestantismus an sich ist demokratischer als der Katholizismus, sondern eine ganz bestimmte Variante des Protestantismus, nämlich die von Weber und Troeltsch hervorgehobenen Täuferbewegungen,
der Pietismus, der Kongregationalismus, die Mennoniten, Methodisten und Adventisten – Formen des Protestantismus, die das religiöse Leben Amerikas bestimmen.
Hier liegt in der Tat die Wurzel der (amerikanischen) Gleichsetzung von Protestantismus mit kleinen, flachen Organisationsstrukturen, denn es sind diese Sekten, die
in den USA den mainstream bilden und im europäischen Kontext nur Randerscheinungen geblieben sind.
Allerdings ließe sich durchaus argumentieren, dass Luthertum und Calvinismus im
Zuge ihrer „Entstaatlichung“, also ihrer im Laufe der Jahrhunderte abnehmenden
Fähigkeit, staatliche Autoritäten für sich in Anspruch zu nehmen (ausführlicher in
Kapitel 5), einen Großteil ihres hierarchisch-bürokratischen Charakters verloren
haben, der ja in beiden Fällen explizit darauf beruhte, dass weltliche Obrigkeit die
(Nicht-) Gläubigen überwachte und sanktionierte. Geblieben wäre somit die Kirche
der Gläubigen, die ja auch im Luthertum angedacht war, sowie das Freiwilligkeitselement des Calvinismus. Die katholische Kirche dagegen bliebe auch im Zuge ihres
Verlusts „weltlicher“ Macht, eine große hierarchisch-bürokratische Organisation, da
ihr Grundprinzip der Hierarchie innerkirchlicher Natur ist und nicht wie im Luthertum und im Calvinismus an den Landesherren externalisiert wurde. Der demokratische Vorteil des Protestantismus wäre somit ein aktueller, nicht ein historisch bestimmter. Damit stünde eine solche Interpretation allerdings im Gegensatz zu der
von Inglehart, Lipset oder Verba und seinen Kollegen bevorzugten Erklärung, die
allesamt davon ausgehen, dass Struktur- und Organisationsunterschiede zwischen
Protestantismus und Katholizismus aus der Reformation selbst resultieren und in die
politische Kultur protestantischer Staaten einflossen, ohne dass aktuellen kirchlichen
Organisationsformen noch ein großer Einfluss auf Denken und Handeln der Menschen zugesprochen wird. Schließlich ließe sich mit Hilfe des Weber’schen Gegensatzes zwischen Kirche und Sekte auch für den Katholizismus eine gewisse Wandlung von der Kirche zur Sekte registrieren. Im Laufe des 19. Jahrhunderts hat der
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Katholizismus, gerade als es ihm nicht mehr gelang, den Lauf weltlicher Institutionen zu bestimmen, den Kirchenpfad verlassen und viele sektentypische Merkmale –
vor allem hinsichtlich Abschottung und interner Mobilisierung – ausgebildet.
3.5 Organisationsstruktur, Konfession und Demokratie
Aus der Diskussion um Organisationsformen, Sozialkapital und Demokratie lässt
sich zunächst ein Schluss ziehen: Konfession ist irrelevant; kleine Gruppen sind
besser als große. Aus dem Kleingruppenprinzip werden alle weiteren demokratierelevanten Eigenschaften abgeleitet: flache Hierarchien, dezentrale Struktur, hohes
Maß an innerorganisatorischer Partizipation. Aus dieser organisationstheoretischen
Überlegung heraus lassen sich somit zwei Grundannahmen formulieren:
• Kleine (mitgliederarme) Organisationen sind intern demokratisch, da sie flach
und dezentral organisierbar sind. Da die Neigung zum Trittbrettfahren minimiert
wird, ist die Mitgliederpartizipation hoch.
• Umgekehrt: große (mitgliederstarke) Organisationen neigen zur Ausbildung
interner Hierarchien, die Differenzierung und Professionalisierung zur Folge
haben, welche wiederum die Mitgliederpartizipation unterdrücken.
Das vor allem von Smith und Warren postulierte Konstrukt partizipativer Hierarchie
beinhaltet die Gegenthese:
• Hierarchischen, zentral geleiteten und in größere nationale oder supranationale
Hierarchien eingebetteten Organisationen gelingt Mobilisierung und Sozialkapitalgenerierung eher als Kleingruppen, da die Hierarchie die Informations- und
Kontrollmechanismen verbessert und eine größere (soziale) Mischung an der
Mitgliederbasis besteht.
Aus diesen grundsätzlichen organisationstheoretischen Überlegungen wird – von
vielen – der demokratische Vorteil protestantischer Organisationen bzw. – von wenigen – der partizipatorische Vorteil katholischer Gruppen abgeleitet. Dies geschieht, indem beide Organisationstypen mit Konfession in Beziehung gesetzt werden. Dem Protestantismus wird die kleine, flache, dezentrale Organisationsstruktur
unterstellt, der Katholizismus mit großen, bürokratischen zentralistischen Organisationen gleichgesetzt. Während die (große, hierarchische) Organisationsstruktur des
Katholizismus unisono angenommen wird, ist die Gleichsetzung des Protestantismus
an sich mit kleinen, dezentralen Organisationsstrukturen, wie es vor allem in der
aktuellen amerikanischen Diskussion um Sozialkapital geschieht, problematischer.
Nimmt man die Ursprungsargumente, wie sie von Weber und Troeltsch zu Beginn
des 20. Jahrhunderts formuliert wurden, ernst, so sollten sich große innerprotestantische Unterschiede ergeben:
• Lutherische Organisationen sind katholischen Organisationen sehr ähnlich.
Größe, Hierarchie, Zentralismus und Mitgliederapathie verringern sich vom Luthertum über den Calvinismus und erreichen erst in den aus dem Calvinismus
hervorgegangen Sekten den Idealtypus der kleinen, dezentralen, partizipativen
Gruppe.
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Zusammenfassung
Sind protestantische Vereine und Netzwerke ein besserer Nährboden für die Demokratie als katholische Organisationen? Brauchen auch Religionen den Wettbewerb des freien Marktes ohne staatliche Einmischung, um sich kraftvoll und lebendig zu entfalten? Das Buch untersucht die demokratische und sozial integrative Wirkung katholischer, lutherischer, calvinistischer und säkularer Organisationsformen in Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden, Dänemark, Spanien und Schottland. Dargestellt wird die gesellschaftliche und demokratische Rolle von Religion und Kirche seit den Zeiten der Reformation bis heute. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die demokratieförderliche oder aber hemmende Wirkung von Religion und Konfession als Bestandteil europäischer Zivilgesellschaften am Beginn des 21. Jahrhunderts. Auf der Basis einer international vergleichenden Organisationsstudie kontrastiert das Buch ökonomische Theorien der Religion mit dem klassischen Säkularisierungsparadigma, sowie Sozialkapitalansätze mit Organisationstheorien, die behaupten dass die kleine, dezentral organisierte Organisationsform des Protestantismus der großen, zentralistischen und hierarchischen Organisationsstruktur des Katholizismus überlegen sei.