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3. Konfession und Sozialkapital oder ist der Protestantismus demokratischer als der Katholizismus?
In der Wahrnehmung manch überzeugter Protestanten – Riesebrodt spricht von
„Ideologien der Selbstlegitimation“ (2000: 38) – sind mit der Reformation Religion
und Glaube in eine höhere Entwicklungsstufe eingetreten, die über die mystische,
vorurteilsbehaftete, wenig transparente, ja „dunkle“ Stufe des Katholizismus hinausreicht (vgl. z.B. Bellah 1976: 20-50). Diese Sicht der Dinge wird von katholischer
Seite wenig überraschend vehement attackiert. Hier ist die Reformation Ursprung
alles Übels, die Häresie schlecht hin, welche die Einheit des Christentums und das
Reich Gottes auf Erden leichtfertig verspielte. Jenseits dieser Mythen, die von wenigen und mit immer weniger Resonanz aufrecht gehalten werden, findet man interessanterweise in der aktuellen Politikwissenschaft neue pro-protestantische Argumentationsmuster. Der Protestantismus ist, kurz gesagt, im Vergleich zum katholischen
Kontext ein besserer Nährboden demokratischer Systeme, er produziert aktivere
Bürger und bietet eine effizientere Plattform demokratischen Lernens. Stimmt das?
Falls ja, warum ist das so?
3.1 „Small is beautiful“: Partizipationsvorteile des Protestantismus
Auch wenn es kaum empirische Studien dazu gibt, wird ein (Vor-) Urteil fast unisono gefällt: die beste, die demokratischste, die zivilgesellschaftlich wertvollste
Vereinigung ist klein, besitzt flache (oder besser noch gar keine) Hierarchien. Alle
Mitglieder sind gleichzeitig auch aktiv, kennen sich untereinander gut und befleißigen sich – als kleine Schulen der Demokratie – des toleranten Umgangs miteinander
und üben schließlich die hohe Schule deliberativer Konfliktlösung im Alltag des
Vereinslebens. In einer solchen Perspektive sind kleine, intime Organisationen „inherently good“, während die „professionalized, staffed, nationalized, computerized
operation of the thousands of associations […] are always bad” (Schudson 1998:
280, in eher kritischer Manier gegenüber dem gängigen Tenor im aktuellen Sozialkapitalansatz) .
„[...] the Tocquevillian view on civil society predicts that small, well-organized intermediary
associations affording ample opportunity for participation in local public affairs transform individuals into public-spirited citizens with the capacity to exercise an effective influence on
broader public issues [...]“ (Bell 1998: 248).
Und umgekehrt: Komplexe und bürokratische Strukturen überfordern Individuen,
führen zu ihrer Entfremdung und tragen somit zur Atomisierung moderner Gesellschaften bei (z.B. Bellah et al. 1985: 203-207). Diese kausale Verknüpfung von
Vereinsgröße, flacher Hierarchie und innerorganisatorischen Partizipationschancen
mit der demokratischen bzw. zivilgesellschaftlichen Qualität einer Gruppe verbirgt
sich hinter der relativen Aufwertung des protestantischen Vereinslebens, das Teile
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der aktuellen amerikanischen Diskussion um Sozialkapital und Zivilgesellschaft
charakterisiert:
„Protestant and Catholic churches differ [...]. Protestant congregations tend, on average, to be
smaller; most Protestant denominations allow for greater lay participation in the liturgy; and
most Protestant denominations are organized on a congregational rather than a hierarchical basis“ (Verba et al. 1995: 245).
Die Gründe, die Verba und seine Kollegen für den Unterschied zwischen den Konfessionen verantwortlich machen, sind demnach struktureller oder organisatorischer
Natur und haben keinen direkten ideologisch-theologischen Ursprung: Partizipation
und Laienbeteiligung ist ein direktes Resultat von Organisationsgröße und Organisationsstruktur. Ähnlich bezieht Inglehart das deutlich geringere Niveau sozialen Vertauens in katholischen Ländern wie Frankreich, Spanien, Italien oder Portugal auf
die hierarchische und zentralistische Struktur des dort dominanten Katholizismus im
Vergleich zur horizontalen, lokal organisierten Struktur protestantischer Nationen
(Ingelhart 1999: 92). Der Unterschied zwischen katholisch und protestantisch ist
demnach ein grundsätzlicher, da er auf Organisationsmerkmalen beruht, die quasi
konfessionsprägend oder -typisch sind. Wer sich der „richtigen“ Konfession anschließt, darf mit Vorteilen rechnen – für sich selbst und seine Gruppe:
„In the United States, African Americans have historically gained greater social capital (networks, norms, and social trust) for civic engagement through horizontally structured Protestant
denominations than through vertically structured Roman Catholic institutions“ (Harris 1995:
279).
Obwohl sich Putnam vor allem auf die katholische Kirche Italiens bezieht, bemüht
auch er ein organisationsstrukturelles Argument. Die katholische Kirche ist für ihn
nicht Teil der Zivilgesellschaft, da sie sich durch „vertical bonds of authority“ und
nicht durch „horizontal bonds of fellowship“ (Putnam 1993: 107) auszeichne. Vertikale Beziehungen, so Putnam, verbinden Menschen ungleichen Ranges in einer
asymmetrischen Beziehung von Hierarchie und Abhängigkeit. Solche vertikalen
Beziehungen verstärken Passivität und Unterordnung (Coleman 2003: 36). In horizontalen Netzwerken dagegen verbinden sich Mitglieder gleichen Status und gleicher Macht miteinander (Putnam 1993: 173). „Networks within Protestant congregations are traditionally thought to be more horizontal than networks in the Catholic
Church” (Putnam 1993: 173).
Der Organisationsstruktur der katholischen Kirche – „the world’s longeststanding hierarchical organization“ (Gill 2001: 118) – wird somit ein starker und
negativer Effekt zugeschrieben, der auf eine Unzahl prinzipiell erstrebenswerter
demokratischer Tugenden wirkt: geringere Produktion sozialen Vertrauens; weniger
Gelegenheiten, zivilgesellschaftliche Kompetenzen zu erlernen; größere ingroup
Orientierung und Isolationismus; weniger Laienbeteiligung und ehrenamtliches
Engagement (siehe z.B. Uslaner 2002b: 242; LaPorta et al. 1997: 336; Inglehart
1999). Diese (amerikanische) politikwissenschaftliche Sichtweise erhält auch aus
(europäischer) religionssoziologischer Perspektive Unterstützung: die „herkömmliche Logik“, die den Katholizismus kennzeichne, so Ebertz (1998: 72), ist geprägt
von den Zügen einer „Anstalt“, in die man als Säugling hineingeboren wird „und
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deren oktroyierten wie sanktionierten Ordnungen man bis zu seinem Lebensende zur
Vermittlung von Heil und Erlösung fraglos unterworfen ist“. Die typische Sozialfigur der katholischen Gnadenanstalt ist der „geistliche Untertan“ (Ebertz 1998: 73).
Auch Religionshistoriker argumentieren ähnlich, allerdings mit einem sehr unterschiedlichen Blick auf die anglikanische und lutherische Kirche einerseits und Calvinisten und Presbyterianern auf der anderen Seite. So unterscheidet Rémond zwischen eher hierarchisch strukturierten Kirchen und solchen, die zumindest eine gewisse Demokratisierung des Kirchenlebens gestatten. Ganz im Einklang mit Putnam
und Verba et al. formuliert Rémond:
„Der Typus der Disziplin lenkt nicht nur die Vorstellung über die Organisation der bürgerlichen Gesellschaft, sondern formt auch Verhaltensweisen, erzeugt Gewohnheiten und sorgt für
Empfindlichkeiten. Unter diesem Aspekt unterscheiden sich der Katholizismus, die anglikanische und die lutherische Kirche, die alle die bischöfliche Hierarchie bewahrten, ganz deutlich
von den eher presbyterial organisierten Konfessionen calvinistischer oder schottischer Art, die
dem Prinzip der Beteiligung der Gläubigen an der Verwaltung des Kirchenlebens folgen“
(Rémond 2000: 40).
Nach Rémond, und auch hier findet er sich im Einklang mit Putnam und Verba et
al., hat dieser Unterschied weitreichende demokratisch relevante Folgen. Menschen,
die an hierarchische Kirchenstrukturen gewöhnt sind, neigen viel eher dazu, jeglicher Autorität, also nicht nur religiöser, sondern auch politischer Natur, zu folgen
und sich ihr im Notfall zu unterwerfen. Menschen, die dank der Kirche „in der gemeinsamen Beratung Übung besitzen“, sind folglich für das Prinzip der demokratischen Funktionsweise empfänglicher und tendieren eher dazu, Entscheidungen von
Autoritäten zu bestreiten (Rémond 2000: 40).
In diesem Sinne bemüht auch Rudolph das Gegensatzpaar „hierarchisch – egalitär“
als einer Differenzierung von drei zentralen Aspekten der Unterscheidung. Allerdings werden die beiden anderen – politisch oder unpolitisch, sowie freiwillig und
primordial („ascribed“) – von ihr im Laufe der Argumentation als artifiziell dekonstruiert (Rudolph 2004: 76-80). Ob eine Assoziation freiwillig ist oder nicht, ist eine
Frage, die sich im Zeitverlauf und abhängig von den jeweils dominanten Diskursen
ändert: was heute als „zugeschriebene“ Assoziation (sie nennt das Beispiel Ethnizität) empfunden wird, ist morgen als soziale Konstruktion entlarvt. Ob man die Unterscheidung zwischen politisch und unpolitisch als wichtig erachtet, ist – so Rudolph – vor allem eine Frage der theoretischen Perspektive, also ob man mit Habermas und der republikanischen Tradition an einem Konzept der politischen
Öffentlichkeit festhalte oder mit Tocqueville und Putnam eher interne Effekte sozialer Partizipation betrachte.33 So bleibt als zentrales Kriterium allein die Unterscheidung zwischen hierarchischen und egalitären Organisationen. Egalitäre Organisationen, so Rudolph, erlauben die Beteiligung der Mitglieder an der Zielformulierung
33 Siehe Maloney/Roßteutscher (2007a) für unterschiedliche Konzeptionen von Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit sowie der Frage, inwieweit Zivilgesellschaft notwendigerweise politisch ist oder darüber hinausgeht.
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und Durchführung assoziativer Tätigkeiten. Mitglieder partizipieren am Status und
der Macht der Vereinigung. Hierarchische Organisationen dagegen erziehen Mitglieder zu Regelgehorsam und Befolgung der Direktiven anderer. Abhängigkeiten
und klientelistische Beziehungen zwischen Mitglied und Patron werden gepflegt.
Daher: „Hierarchical associations are not likely to create the sort of psychological
and moral preconditions that generate the social capital considered a precondition
for democracy” (Rudolph 2004: 77).
Klein – flach – partizipatorisch
Was aber passiert, wenn die kleine Gruppe neue Mitglieder gewinnt? Organisationen verändern sich mit der Zeit; Organisationen – falls erfolgreich – wachsen. Der
Erfolg hat allerdings seinen Preis. Mit der Größe steigt die Bedeutung elitärer Zirkel,
welche die Organisation übernehmen und die Rolle des Normalmitglieds marginalisieren. Dieser von der Größe und dem Erfolg einer Organisation abhängige Trend
zur Oligarchisierung gilt spätestens seit Michels Untersuchung zur deutschen Sozialdemokratie in den ersten Jahren des vorherigen Jahrhunderts als eine der Grundweisheiten der Organisationssoziologie (Michels 1911). Das Argument ist ein prinzipielles: Größe führt zur Unüberschaubarkeit, mithin zur Unregierbarkeit, wenn
nicht Wenige im Auftrag der Vielen die zentralen Aufgaben der Organisation übernehmen. Daher treffen Prozesse der Oligarchisierung auch Organisationen wie die
Arbeiterbewegung, deren ursprüngliches Organisationsziel Mobilisierung und Erhöhung von Beteiligungschancen und -motivationen war. Professionalisierung und
organisationsinterner Elitismus sind quasi unvermeidlicher Partner einer erfolgreich
wachsenden Organisation. Auf der Ebene des einfachen Mitglieds sind die Effekte
eher negativer Natur: sinkende Partizipationsbereitschaft und zunehmende Entfremdung (Knoke 1981). Religiöse Organisationen sind hier keine Ausnahme:
„When applied to religious organizations this means that increasing church size will decrease
member’s ability to sway organizational decisions. [...] This increasingly centralized leadership robs individual members, especially the laity, of control over local church and erodes
their commitment” (Finke 1994: 7-8).
Die Größe einer Organisation wird so zum entscheidenden Kriterium: je kleiner sie
ist, desto aktiver sind ihre Mitglieder, desto besser gelingt die Bildung von Sozialkapital und desto höher ist die Bereitschaft, sich für die Gemeinschaft einzusetzen:
„the members of small groups are quite often prompted to become more active in
their communities, to help others who may be in need, and to think more deeply
about pressing social and political issues“ (Wuthnow 1994: 346). Kleingruppen, dies
ist die Grundidee, minimieren die Neigung zum Trittbrettfahren, da Prestige und
Position eines jeden Gruppenmitglieds davon abhängt, dass die anfallenden Aufgaben erfüllt werden. Zudem ist Trittbrettfahren in Kleingruppen weniger wahrscheinlich, da keiner behaupten könne, dass das Engagement des Einzelnen zur Erreichung
des Gruppenziels irrelevant sei. Kleine Gruppen besitzen daher große Vorteile in der
Bereitstellung von Partizipationsanreizen. Sie sind eher in der Lage, das Kollektiv-
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gut im Sinne des Gruppenziels zu erreichen und das Verhalten ihrer Mitglieder zu
kontrollieren (Olson 1965). Dies ist auch ein Grund, warum religiöse Gruppierungen, gerade wenn ihr Anliegen sich sehr auf die Reglementierung der Lebensführung der Anhänger konzentriert, klein sein müssen. Und umgekehrt: je größer
eine religiöse Organisation ist, desto weniger kann sie erwarten, dass sich ihre Mitglieder am Verhaltens- und Wertekodex der Organisation orientieren. Die Organisation verliert im wahren Sinne des Wortes die Kontrolle über ihre Mitglieder. Sowohl
Adam Smith als auch über ein Jahrhundert später Max Weber und vor allem Ernst
Troeltsch betonen die Bedeutung der (kleinen) Größe für den Erfolg protestantischer
Sekten hinsichtlich des religiösen Verhaltens ihrer Mitglieder: „In little religious
sects, [...] the morals of the common people have been almost always remarkably
regular and orderly“ (Smith 1776/1976: 317)34.
Die kleine Gruppe wird so zum Synonym für eine Reihe wünschenswerter Eigenschaften, die sozusagen von alleine aus der Gruppengröße resultieren. Geringe Grö-
ße erlaubt flache Hierarchien, demokratische Entscheidungsstrukturen, freien Diskurs, Elitenkontrolle, Offenheit und Partizipation. Nur so hat Partizipation in Gruppen den erzieherischen und sozialisierenden Effekt, fördert demokratische Tugenden
und lehrt zivilgesellschaftliche Kompetenzen (z.B. Hadenius 2004: 52).
Der Einfluss der Organisationsgröße auf Engagement innerhalb einer Organisation wurde in der Tat empirisch bestätigt. Finke (1994: 7) zitiert mehrere amerikanische Untersuchungen, die diesen Zusammenhang herstellen. So fanden Pinto und
Crow (1982) in einer repräsentativen Studie zu einer protestantischen Sekte (den
Nazarinern), dass Organisationsgröße negativ korreliert mit der Fähigkeit einer
Organisation a) neue Mitglieder zu rekrutieren, b) die vorhandenen Mitglieder zu
aktivieren und c) Verhaltenscodes innerhalb der Organisation verbindlich zu machen. Wilken (1971: 176) zeigte, dass die Größe lutherischer Gemeinden auf sechs
von sieben von ihm überprüften Indikatoren der Partizipation einen hemmenden
Einfluss ausübt. Hougland und Wood (1980) schließlich, die 58 protestantische
Gemeinden in Indianapolis untersuchten, kamen zu dem Ergebnis, dass Größe einen
negativen Einfluss auf Mitgliederengagement und Identifikation mit der Gemeinde
besitzt.35 Finke selbst findet zunächst keinen eindeutigen, bzw. keinen monotonen
Einfluss von Organisationsgröße auf Mitgliederengagement. Anhand einer Untersuchung amerikanischer baptistischer Gemeinden (Southern Baptist) sieht auch er,
dass die kleinsten Organisationen – solche mit weniger als 50 Mitgliedern – den mit
Abstand stärksten Grad innerorganisatorischer Partizipation aufweisen. Allerdings
fällt das Ausmaß des Engagements schon in der nächsten Größenklasse (50 bis 99
34 Zitiert nach Finke (1994: 7).
35 Guth et al. (2003: 504), welche die politische Partizipation von amerikanischen protestantischen Priestern der evangelikalen Tradition untersuchten, kamen allerdings zu dem Ergebnis,
dass die Größe der Kirche keinen Einfluss auf das Partizipationsverhalten der Priester ausübt.
Einen nur marginalen, vernachlässigbaren Effekt von (geringer) Größe fanden Smidt et al.
(2003b: 527-528) hinsichtlich amerikanischer Priester der mainline Traditionen. Mit anderen
Worten, wie auch theoretisch zu erwarten, wirkt Größe auf das einfache Mitglied nicht aber
auf Eliten.
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Mitglieder) deutlich ab und übertrifft kaum noch das Engagementpotential der Organisationsriesen (mit mehr als 3000 Mitgliedern). Überhaupt findet er einen kurvenlinearen Zusammenhang, der ausdrückt, dass Organisationen mittlerer Größe
nicht nur deutlich hinter kleinen Organisationen zurückbleiben, sondern hinsichtlich
innerorganisatorischer Mobilisierung auch von großen Gruppen übertroffen werden
(Finke 1994: 9-10).36
Alle genannten Studien untersuchten den Einfluss von Organisationsgröße innerhalb einer spezifischen Religionsgemeinschaft, und fanden – mit unterschiedlichen
Herangehensweisen und auf Basis unterschiedlicher Typen von Konfession – eine
prinzipielle Bestätigung für die partizipatorischen Vorteile kleiner Gruppen. Was hat
dies mit den von so vielen Autoren postulierten Unterschieden zwischen Katholiken
und Protestanten zu tun? Die Antwort lautet schlicht: Katholische Organisationen
sind größer und hierarchischer als protestantische Organisationen, ergo kumulieren
die organisationsstrukturellen Nachteile im Katholizismus, während protestantische
Organisationen – alles in allem – Organisationsmodellen folgen, die diese Nachteile
minimieren. Diese Gleichsetzung kommt nicht von ungefähr. In den USA, aus der
fast alle zitierten Thesen und Studien stammen, sind katholische Gemeinden und
Organisationen im Schnitt zwei bis drei Mal so groß wie die durchschnittliche protestantische Gemeinde oder Organisation (Coleman 2003: 37; Chaves et al. 1999:
466; Welch et al. 2004: 318).
Parallel dazu finden auch repräsentative Partizipationsstudien einen massiven Unterschied zwischen amerikanischen Katholiken und Protestanten: Katholiken sind in
ihren Gemeinden und Organisationen weit weniger aktiv als Protestanten in den
ihrigen (Verba et al. 1995: 264). Diesen großen Unterschied zwischen Katholiken
und allen Formen des Protestantismus in der Neigung zu freiwilligem Engagement
in Kirchen und religiösen Vereinen, aber auch in nicht-religiösen Organisationen,
bestätigte ein Vergleich zwischen den USA und Kanada (Smidt et al. 2003: 163-165
allerdings nur für die USA, vgl. auch Lam 2002: 411-413; Hoge et al. 1998). Solchen Unterschieden wird eine erhebliche demokratische Bedeutung zugesprochen.
Da durch religiöse Partizipation über das religiöse Anliegen hinaus politisch und
demokratisch relevante Fähigkeiten und Kompetenzen erworben werden (ausführlich in Kapitel 2), haben Katholiken geringere Chancen als Protestanten, ihr Kompetenzniveau durch religiöses Engagement zu erhöhen: „Protestants are three times
more likely than Catholics to report a skill opportunity“ (Verba et al. 1995: 322).
Dieser massive Unterschied gilt, so Verba et al., unabhängig von Bildung, Einkommen, Geschlecht oder ethnischer Herkunft der Mitglieder (1995: 323). Innerhalb
aller sozialen Gruppen sind Mitglieder protestantischer Organisationen im Vorteil.
Die Kluft zwischen Katholiken und fundamentalistischen evangelikalen Bewegungen (Varianten der Pfingstbewegung, Konservative Christen, Erweckungskirchen)
36 Finke benutzt drei unterschiedliche Messungen innerorganisatorischen Engagements. Zwei
Indikatoren zeigen den oben beschriebenen kurvenlinearen Zusammenhang, während ein dritter Indikator einen monoton anwachsenden Negativeffekt steigender Größe ergibt (Finke
1994: 9-12).
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ist noch ein wenig ausgeprägter, obwohl gerade diese evangelikalen Bewegungen
eher Mitglieder aus sozial schwachen Schichten rekrutieren (Verba et al. 1995: 327).
Die Ursachen dieser Unterschiede zwischen dem Katholizismus und sämtlichen
Varianten des Protestantismus verorten Verba et al. daher weder in der sozialen
Zusammensetzung unterschiedlicher Konfessionen noch in den politischen Orientierungen der Mitglieder oder Eliten. „The roots of differences in church structures“,
schreiben Verba et al., „...lie in the history of the respective churches dating back to
the Reformation” (1995: 332).37 Das Thema, ob und in welcher Weise, die Reformation tatsächlich bestimmte Organisationsstrukturen formte, wird in Kapitel 5 wieder
aufgenommen.
Die lange historische Perspektive, die davon ausgeht, dass einmal gewählte Organisationsformen über die Jahrhunderte konstant bleiben, wird allerdings nicht von
allen Autoren unterstützt. Katholische Organisationen können sehr wohl scheinbar
protestantische Organisationsformen adaptieren. Dies sei zumindest für die katholische Kirche in den USA der Fall (Dolan 1985: 158-194). „And where Catholics
adopt a congregational style – as in African-American parishes – they look much
like black Protestants in their propensity toward volunteering” (Coleman 2003: 37).
Nicht konfessionelle Ausrichtung, sondern die institutionelle Struktur jeder einzelnen Gemeinde oder Kirche gibt den Ausschlag (Cavendish 2000: 382).38 Cavendish vergleicht katholische Gemeinden schwarzer mit Gemeinden weißer Amerikaner und kommt zu dem Schluss, dass es innerhalb katholischer Gemeinden massive
Unterschiede gibt, die auch dadurch erklärt werden können, dass manche Gemeinden Laienpartizipation institutionalisiert haben und diese durch Spezialprogramme
fördern, während andere dies nicht tun:
„My hunch is, however, that the church’s denominational affiliation may be less significant
than the particular congregations’s own internal structure. In other words, I suspect that it matters less whether the church is Protestant or Catholic than whether the congregation is open to
lay participation“ (Cavendish 2000: 382).
So zeigen empirische Untersuchungen in der Tat, dass Konfession an sich keine
große Erklärungskraft besitzt. Campbells und Yonishs Studie unterstützt zwar in
einer ersten rein deskriptiven Betrachtung die Annahme, dass freiwilliges Engagement in keiner Religionsgemeinschaft so verbreitet ist wie unter mainline Protestan-
37 Auch für Lipset, der Religion und Vereinsektor in Kanada und den USA vergleicht, sind
Unterschiede zwischen Konfessionen und deren Leistung hinsichtlich freiwilligem Engagement und politischer Partizipation historisch bedingt: „[...] the defining event which gave
birth to both countries“ (Lipset 1986: 114).
38 Zech und Gautier, welche die Organisationsstruktur katholischer Gemeinden in den USA
untersuchen, kommen dagegen zu dem Schluss, dass Organisationsindikatoren an sich kaum
Einfluss auf Partizipationsraten besitzen. Es sind Mikroindikatoren (wie individuelle Spiritualität, Religiosität des Ehepartners oder der Eltern), die hauptsächlich erklären, ob und wie
häufig Menschen, die Kirche besuchen (Zech/Gautier 2003: 147). Die Messung von Organisationsstruktur bei Zech und Gautier beschränkt sich allerdings auf die Operationalisierung
verschiedener Priestermodelle (Team von Priestern, Pastor ohne Priesterausbildung, ein
Priester für mehrere Gemeinden (vgl. Zech/Gautier 2003: 143).
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ten.39 Im multivariaten Modell, das für eine breite Zahl konkurrierender Faktoren
wie Bildung, Status, Gemeindegröße, Einkommen etc. kontrolliert, verschwindet
dieser Effekt jedoch völlig: „In other words, how often you go to church is far more
important in predicting whether you volunteer than which church you attend“
(Campbell/Yonish 2003: 98).
Auch wenn Smidt und seine Kollegen zu einem widersprechenden Ergebnis
kommen (Konfession hat Einfluss auf freiwilliges Engagement), konzedieren auch
sie, dass weder für Kanada noch für die USA in einem multivariaten Modell Anzeichen zu finden seien, dass Konfession die Bereitschaft und Häufigkeit politischer
Beteiligung beeinflusst (Smidt et al. 2003: 167-168). Die Botschaft der empirischen
Studien ist somit selbst für die USA weniger eindeutig als es die aktuelle Debatte
um Sozialkapital und Partizipation suggeriert. Kapitel 9 wird organisationsstrukturelle Unterschiede zwischen Vereinen verschiedener Konfessionen in Europa systematischer untersuchen.
3.2 Soziales Vertrauen und brückenbildendes Sozialkapital
Auch aus einer Sozialkapital-Perspektive kumulieren in homogen katholischen Nationen die partizipativen und Sozialkapital generierenden Nachteile katholischer
Organisationsprinzipien – mit desolaten Folgen: weniger Vertrauen, daher weniger
effiziente, dafür korruptere Regierungen, teurere Angestellte im öffentlichen Sektor,
weniger Demokratie (LaPorta et al. 1998: 31). Es gilt also auch hier zunächst der
protestantische Vorteil: Vertrauen sprießt in protestantischen Gesellschaften, da –
und hier kommt wieder ein organisationsstrukturelles Argument – die protestantische Kirche egalitärer ist als die hierarchische katholische Kirche (Lipset 1990,
Kapitel 6; Putnam 1993: 175). In egalitären Gesellschaften schenken sich Menschen
eher Vertrauen (Uslaner 2002), daher kann es nicht überraschen, wenn Skandinavien
höchste Vertrauenswerte erreicht – ausgesprochen egalitäre, aber auch „heavily
Protestant“ Gesellschaften (Uslaner 2003: 181). In der Tat zeigt Inglehart im Makrovergleich, dass von den 18 Gesellschaften mit ausgeprägten Vertrauenswerten 13
protestantisch sind (und unter diesen besetzen die skandinavischen Länder die Spitzenpositionen), während von den zehn Gesellschaften mit dem geringsten Reservoir
an zwischenmenschlichem Vertrauen acht katholisch sind. Um diese auffälligen
Unterschiede zu erklären, verweist Inglehart auf Putnam: „As Putnam (1993) has
argued, rule by large, hiererchical, unresponsive, centralized bureaucracies seems to
corrode interpersonal trust“ (Inglehart 1999: 92). Die katholische Kirche, so Ingle-
39 Als mainline gelten in den USA u.a.: Methodisten, Presbyterianer, Episkopale, Lutheraner,
Amerikanische Baptisten, United Church of Christ. Dies sind Denominationen „that have
functioned as an unofficial religious and cultural establishment within America and within
American Protestantism” (Carroll/Roof 1993: 11-12). Sogenannten evangelicals und Fundamentale sind: „Southern Baptist“, Pfingstbewegungen, „Assemblies of God“, aber auch Zeugen Jehovas, Mormonen u.a.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Sind protestantische Vereine und Netzwerke ein besserer Nährboden für die Demokratie als katholische Organisationen? Brauchen auch Religionen den Wettbewerb des freien Marktes ohne staatliche Einmischung, um sich kraftvoll und lebendig zu entfalten? Das Buch untersucht die demokratische und sozial integrative Wirkung katholischer, lutherischer, calvinistischer und säkularer Organisationsformen in Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden, Dänemark, Spanien und Schottland. Dargestellt wird die gesellschaftliche und demokratische Rolle von Religion und Kirche seit den Zeiten der Reformation bis heute. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die demokratieförderliche oder aber hemmende Wirkung von Religion und Konfession als Bestandteil europäischer Zivilgesellschaften am Beginn des 21. Jahrhunderts. Auf der Basis einer international vergleichenden Organisationsstudie kontrastiert das Buch ökonomische Theorien der Religion mit dem klassischen Säkularisierungsparadigma, sowie Sozialkapitalansätze mit Organisationstheorien, die behaupten dass die kleine, dezentral organisierte Organisationsform des Protestantismus der großen, zentralistischen und hierarchischen Organisationsstruktur des Katholizismus überlegen sei.