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Religiöser Fundamentalismus und Demokratie bilden einen grundsätzlichen Widerspruch. Da fundamentalistische Gruppen der Meinung sind, Träger einer absoluten
Wahrheit zu sein, können sie die relativen Wahrheiten, die demokratische Prozesse
produzieren, nicht akzeptieren. Fundamentalisten sind, wie Riesebrodt schreibt,
„niemals Demokraten aus Prinzip, sondern stets nur aus Opportunität“ (Riesenbrodt
2000: 89). „Es geht nicht um Menschengeschichte, sondern um Heilsgeschichte, in
der Kompromiß und Pluralismus nicht Tugend, sondern Verderbnis bedeuten“ (Riesebrodt 2000: 90).
Fundamentalisten, so Inglehart, reagieren mit „beispiellosem Aktionismus“ auf
die Tatsache, dass viele ihrer grundlegenden Normen ausgehöhlt werden und in
einem Großteil der Bevölkerung nicht länger bindende Kraft besitzen (Inglehart
1998: 109). Umso säkularisierter die Bevölkerung an sich ist, könnte man daraus
schließen, desto orthodoxer oder fundamentalistischer wird das in religiösen Organisationen verbleibende Bevölkerungssegment.32
2.6 Zur Rolle religiöser Vereine in der Demokratie
Wie ist das nun mit der demokratiefördernden und Sozialkapital generierenden Wirkung religiöser Gruppierungen? Zunächst erscheint der Beitrag des religiösen Sektors als durchweg positiv: religiöse Organisationen rekrutieren auch in bildungs- und
einkommensschwächere Gruppen hinein, bieten somit einen gewissen Ausgleich für
den typischen „Mittelklasse-Bias“, der hinsichtlich sozialer und politischer Partizipation immer wieder zu registrieren ist. Da im Verein politisch relevante Fähigkeiten und Kompetenzen erworben werden, leisten religiöse Vereine einen Beitrag zur
Verringerung politischer Ungleichheit, da sie Kompetenzen an Menschen vermitteln, die in anderen Lebensbereichen solche Chancen nicht erhalten. Hinzu
kommt, dass Religionen aller Couleur Werte der Empathie und Solidarität mit
Schwächeren predigen und somit nicht nur zu ehrenamtlichem Engagement anregen,
sondern gerade in individualistisch-kapitalistischen Gesellschaftssystemen Wohlfahrts-, und Kollektivorientierungen befördern und damit zur sozialen Integration
dieser Gesellschaften beitragen. Diese Argumente sind überzeugend vorgetragen
und in vielen (amerikanischen) Studien empirisch bestätigt.
Eine etwas genauere Untersuchung der demokratieförderlichen Rolle religiöser
Partizipation zeigt allerdings, dass die Welt weniger rosig ist, als dies auf den ersten
Blick erscheint. Ein nicht unerheblicher Teil des partizipativen Vorteils religiöser
Organisationen kommt der Gesamtgesellschaft nicht zu gute. In religiösen Organisationen wird viel partizipiert und viel ehrenamtliche Arbeit geleistet, aber dieses
Engagement richtet sich vor allem auf gruppeninterne Ziele. Menschen außerhalb
der Gruppe profitieren davon kaum oder gar nicht. Auch die Sympathie für andere
32 Ingleharts Behauptung, dass das Phänomen des westlichen Fundamentalismus keine Zukunft
habe, da es nur „das Rückzugsgefecht eines schwindenden Segments der Bevölkerung“ sei
(1998: 109), würde wohl Huntington zu vehementem Widerspruch reizen.
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macht gern an den Gruppengrenzen halt. Nach außen wird abgegrenzt und sozial
segmentierten Gesellschaften Vorschub geleistet. Die relative Werthomogenität
religiöser Organisationen kann zu exzessivem bonding verleiten. Dieses unterminiert gesellschaftliche Integration und kann im Extremfall gesellschaftlich und demokratisch schädliche Wirkungen entfalten. Auch hier sind die Argumente schlüssig
und zumindest teilweise (und wiederum vor allem in amerikanischen Studien) empirisch bestätigt. Wie ist das möglich?
Identische Strukturmerkmale religiöser Vereinsbildung können jederzeit sowohl
positiv als auch negativ wirken. Dies ist ein Grundparadoxon der Gruppenbildung,
das auf Vereine insgesamt, aber auf den religiösen Sektor in besonderem Maße
zutrifft. Weil religiöse Gruppen eher auf einem geteilten Werthorizont basieren als
nicht-religiöse Gruppen, sind sie in ihrer Struktur homogener (zumindest hinsichtlich dieser Dimension). Diese Homogenität erleichtert die Bildung sozialen Vertrauens, fördert Normen der Reziprozität, erschwert das Trittbrettfahren und kreiert
schlussendlich eine Kultur des Engagements. Allerdings können genau diese Eigenschaften aus gesellschaftlicher und demokratischer Sicht unerwünschte Folgen bergen: exzessive Cliquenbildung, Generierung von verbindendem auf Kosten
brückenbildenden Sozialkapitals, Gruppenegoismen, und dichtes, nicht transferierbares Vertrauen.
Das Thema dieses Kapitel wird im folgenden Kapitel weiter geführt, da in der Literatur ein gewisser Konsens besteht, dass Vereine bestimmter Konfessionen (Protestantismus) die Vorteile und Positivaspekte religiöser Gruppenbildung maximieren,
während Vereine, die dem katholischen Kontext entspringen, diese Vorteile des
Gruppenengagements unterdrücken, wenn nicht sogar in der Tendenz eher die Negativaspekte hervorbringen: Ist der Protestantismus demokratischer als der Katholizismus?
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References
Zusammenfassung
Sind protestantische Vereine und Netzwerke ein besserer Nährboden für die Demokratie als katholische Organisationen? Brauchen auch Religionen den Wettbewerb des freien Marktes ohne staatliche Einmischung, um sich kraftvoll und lebendig zu entfalten? Das Buch untersucht die demokratische und sozial integrative Wirkung katholischer, lutherischer, calvinistischer und säkularer Organisationsformen in Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden, Dänemark, Spanien und Schottland. Dargestellt wird die gesellschaftliche und demokratische Rolle von Religion und Kirche seit den Zeiten der Reformation bis heute. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die demokratieförderliche oder aber hemmende Wirkung von Religion und Konfession als Bestandteil europäischer Zivilgesellschaften am Beginn des 21. Jahrhunderts. Auf der Basis einer international vergleichenden Organisationsstudie kontrastiert das Buch ökonomische Theorien der Religion mit dem klassischen Säkularisierungsparadigma, sowie Sozialkapitalansätze mit Organisationstheorien, die behaupten dass die kleine, dezentral organisierte Organisationsform des Protestantismus der großen, zentralistischen und hierarchischen Organisationsstruktur des Katholizismus überlegen sei.