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chen oder kommunalen Strukturpolitiken bezüglich der Förderung bestimmter Wirtschaftssektoren und Beschäftigungsverhältnisse; Typ und Generosität des Wohlfahrtsstaates). Unschwer lässt sich eine Vielzahl solch intervenierender Faktoren
benennen. Es ist daher bereits konzeptionell unmöglich im internationalen Kontext
perfekt vergleichbare Gemeinden zu finden. Die Auswahl der Fälle ist daher von der
Überlegung geleitet, Minimalbedingungen zu formulieren und bei der Auswahl zu
realisieren, welche die optimale Entwicklung eines jeweils typischen Vereinswesens
befördern. Daher ist davon auszugehen, dass – in Abhängigkeit von diesen institutionellen Rahmenbedingungen – die Zivilgesellschaften der ausgewählten Kommunen spezifische und idiosynkratrische Eigenschaften besitzen (können). Die für den
religiösen Sektor entscheidende Kontextbedingung ist die Frage, welche Stellung
Kirche(n) und Religion im institutionellen Gefüge zugewiesen werden. Zumindest
die rational choice Theorie geht davon aus, dass sich prinzipiell alle Variationen
hinsichtlich Stärke, Lebendigkeit und zivilgesellschaftlicher Bedeutung von Religion auf die Frage des institutionellen Kontexts zurückführen lassen. Um solche
Thesen auch empirisch überprüfen zu können, werden Kontextbedingungen systematisch in die Untersuchung integriert. Es finden sich also einerseits gewisse Minimalbedingungen – Größe, städtische Infrastruktur, Bindung – die alle Städte in ähnlicher Weise erfüllen und die eine Garantie dafür sind, dass sich in diesen lokalen
Umgebungen überhaupt ein vielfältiges Vereinswesen entwickeln kann. Es gibt
andererseits aber sehr unterschiedliche institutionelle Rahmenbedingungen, die –
empirisch erfasst – dazu dienen sollen, Variationen in der Art des Vereinswesen, der
Größe und Bedeutung des religiösen Sektors, sowie dessen Fähigkeit zivilgesellschaftlich und demokratisch relevante Leistungen zu erbringen, zu erklären.
1.2.3 Kommunen, konfessionelle Komposition, Staat und Kirche: zur Fallauswahl
Keine einzelne Stadt ist repräsentativ für ihr jeweiliges Land. So etwas wie eine
deutsche Musterstadt, die exemplarisch deutsche Lebensweisen, sozialstrukturelle
Verhältnisse, Wirtschaftstrukturen oder Mentalitäten repräsentiert, gibt es nicht.
Gerade bezüglich religiöser Indikatoren gibt es keine einzige repräsentative Gemeinde. Dies gilt insbesondere für Nationen wie Deutschland, in denen aus historischen Gründen die Konfessionalität von Region zu Region, ja sogar von Dorf zu
Dorf innerhalb einer Region stark variiert. Die typisch westdeutsche Nachkriegskonstellation, in der sich die Bevölkerung ungefähr gleich zwischen Katholiken und
Protestanten aufteilt, ist ein statistisches Aggregat aus fast ausschließlich katholischen Gemeinden und Regionen im deutschen Süden und Rheinland, sowie fast
ausschließlich protestantischen Regionen im Norden. Zudem finden sich selbst im
dominant katholischen Bayern nicht nur fränkisch protestantische Regionen, sondern die Konfessionsgrenze läuft teilweise quer durch einzelne Gebiete und kann ein
auch heute noch fast komplett katholisches Dorf von einem ebenso komplett protestantischen Nachbarort trennen. In diesem Fall ist das statistische Aggregat auf der
Ebene des ehemaligen Westdeutschlands eine die tatsächlichen Lebensverhältnisses
und sozialen Kontexte gesellschaftlichen und politischen Handelns kaum wieder-
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spiegelnde Größe. Aber auch in Ländern wie Schottland, wo die Religionsgeschichte
weniger regional spezifische Züge hinterließ, ist es unmöglich eine „repräsentative“
Stadt zu finden, welche die Religionsstruktur der Nation perfekt wiedergibt. Die
kleine Minderheit katholischer Schotten ist nicht gleich über das Land verteilt, sondern konzentriert sich auf die Regionen um Glasgow, die im 19. Jahrhundert prosperierten und einen Großteil der irischen Einwanderer anzog. Dies alles gilt erst recht
für föderale Nationen wie die Schweiz, wo die Reformation hochgradig regionalspezifische konfessionelle Muster hinterließ und Staat-Kirchenverhältnisse bis heute
von Kanton zu Kanton stark variieren.
Tabelle 1: Fallauswahl
Staatskirchen Monokonfessionell Gemischt-konfessionell
Ja Aalborg
Aberdeen1
Lausanne1
Nein Sabadell, Chemnitz
(Limbach, Bobritsch)
Mannheim (Vaihingen, Althütte)
Enschede1
Bern1
Anmerkung: 1calvinistisch geprägt
In jedem Fall sind alle Städte und Gemeinden dieser Studien Mikrokosmen, die eine
ganz spezifische religiöse Struktur, ein jeweils ganz spezifisches Monopol oder Mitund Gegeneinander unterschiedlicher Konfessionen repräsentieren. Die Auswahl der
„Fälle“ ist so angelegt, dass die für Europa typischen religiösen Gegebenheiten vollständig abgebildet werden können. So repräsentieren Mannheim (sowie Vaihingen/Enz und Althütte), Enschede, Bern und Lausanne unterschiedliche Varianten
gemischt konfessioneller Verhältnisse (katholisch versus lutherisch im Fall der
westdeutschen Gemeinden, calvinistisch versus katholisch im Fall der niederländischen und Schweizer Städte). Chemnitz (sowie Limbach und Bobritsch) sind aus
historischer Sicht dominant lutherische Gemeinden mit hohem Säkularisierungsgrad.
Davon unterscheidet sich Aalborg mit ebenfalls lutherischer Dominanz und einer
lutherischen Staatskirche. Sabadell schließlich ist typisch für das Modell „katholische Nation“, während Aberdeen calvinistisch (presbyterianisch) geprägt ist und
zudem mit der Church of Scotland eine calvinistische Staatskirche besitzt.
Eine Stadt wie Mannheim kann somit nur sich selbst repräsentieren: eine gemischt konfessionelle Stadt, in der seit Jahrhunderten Katholiken und Protestanten
gemeinsam und auch über Stadtteilgrenzen hinweg gemischt zusammen leben.2 Eine
2 Mannheim war 1607 von seinem reformierten Landesherren sozusagen als „Vorort der protestantischen Union“ gegründet worden (Probst 1997: 301) und – nach der erfolgreichen Belagerung und Eroberung durch Bayern – Teil der nun bayrisch-katholischen rechtsrheinischen
Pfalz. Im Anschluss an den westfälischen Frieden und der Restitution der Kurpfalz erlebte
Mannheim die Wiedereinsetzung des reformierten Glaubens als Staatsreligion, um dann aber
– als Ergebnis des Pfälzischen Erbfolgekrieges (1688-1697) – wiederum katholisch zu werden (Probst 1997: 302-303).
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Stadt natürlich, die außerdem geprägt ist von typisch deutschen Charakterzügen
bezüglich politischen Systems, Wohlfahrtsstaatmodell, Kirche-Staat Verhältnis
usw., die so in Städten außerhalb Westdeutschlands nicht anzutreffen sind. Aberdeen kann daher ebenfalls Schottland nur insoweit repräsentieren, als es – wie
Mannheim oder die anderen Gemeinden dieser Untersuchung – von Gesetzgebungen, Politik- und Wirtschaftsstrukturen sowie einem Staat-Kirche-Verhältnis betroffen ist, die nur schottisch/britischen Ursprungs sind. Der Vergleich ist somit vor
allem ein horizontaler: zwischen europäischen Städten, deren (religiöse) Zivilgesellschaften von institutionellen Arrangements im Verhältnis zwischen Staat und Kirche
beeinflusst werden. Auf dieser Vergleichsebene wird davon ausgegangen, dass sich
z.B. katholische Vereine prinzipiell ähnlich sind, und Unterschiede in ihrer Fähigkeit zur Ausbildung dichter Vereinsnetze, Mitgliedermobilisierung und Generierung
von Sozialkapital auf Unterschiede in den institutionellen Rahmenbedingungen
zurückgeführt werden können. Zudem wird punktuell auch eine vertikale Vergleichsebene eingeführt, nämlich dann, wenn vermutet werden kann, dass kleinstädtische oder gar dörfliche Verhältnisse ganz andere Bedingungen hinsichtlich der
Wirkungsweise religiöser Organisationen hervorbringen. Daher sind für die beiden
Regionen der deutschen Städte Chemnitz und Mannheim auch jeweils eine Kleinstadt und eine Landgemeinde in die Untersuchung einbezogen worden. Eine dritte
Vergleichsdimension, die diese Arbeit durchgängig begleiten wird, bezieht sich auf
eine Analyse der Unterschiede zwischen unterschiedlichen konfessionellen Gruppierungen, sowie dem religiösen Segment mit dem säkularen Segment innerhalb einer
Zivilgesellschaft. Da für diese letzte Vergleichsebene institutionelle Variationen
ausgeblendet werden (konstant gehalten werden), sollten Unterschiede zwischen den
Gruppen durch die Charakteristika der Gruppen selbst erklärt werden können (für
ein ähnliches Design, siehe z.B. Vermeulen 2005: 13, 20).
1.3 Datenerhebung
Da die eigentliche Durchführung der Untersuchung in ein internationales Großprojekt3 eingebettet war, in dem Forscherteams aus vielen Ländern beteiligt waren und
auf mehreren Sitzungen die Erhebungsstrategien gemeinsam erarbeitet, getestet und
gegebenenfalls angepasst wurden, konnte die Datenerhebung in den jeweiligen
Städten zu einem großen Ausmaß parallel (zeitlich und methodisch) durchgeführt
werden. Für alle Teilnehmer wurde ein verbindlicher und in jedem Fall zu erfüllender „Common Core“ an Aufgaben definiert. Das gemeinsame Ziel lautete, einen
Datensatz zu kreieren, der allen Anforderungen international vergleichender empirischer Sozialforschung entspricht.
Die erste dieser „core“ Anforderungen lautete, alle lokal aktiven Vereine und
Gruppen, die in irgendeiner Weise sichtbar sind, zu lokalisieren und Namen und
3 „Citizenship, Involvement, Democracy“ (CID), siehe auch die Projekt-Webseite:
http://www.mzes.uni-mannheim.de/projekte/cid.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Sind protestantische Vereine und Netzwerke ein besserer Nährboden für die Demokratie als katholische Organisationen? Brauchen auch Religionen den Wettbewerb des freien Marktes ohne staatliche Einmischung, um sich kraftvoll und lebendig zu entfalten? Das Buch untersucht die demokratische und sozial integrative Wirkung katholischer, lutherischer, calvinistischer und säkularer Organisationsformen in Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden, Dänemark, Spanien und Schottland. Dargestellt wird die gesellschaftliche und demokratische Rolle von Religion und Kirche seit den Zeiten der Reformation bis heute. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die demokratieförderliche oder aber hemmende Wirkung von Religion und Konfession als Bestandteil europäischer Zivilgesellschaften am Beginn des 21. Jahrhunderts. Auf der Basis einer international vergleichenden Organisationsstudie kontrastiert das Buch ökonomische Theorien der Religion mit dem klassischen Säkularisierungsparadigma, sowie Sozialkapitalansätze mit Organisationstheorien, die behaupten dass die kleine, dezentral organisierte Organisationsform des Protestantismus der großen, zentralistischen und hierarchischen Organisationsstruktur des Katholizismus überlegen sei.