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II. Dogmatische Einordnung des Verhältnisses der beiden Regime
Allein mit der Feststellung, dass es sich bei humanitärem Völkerrecht und Menschenrechten um zwei Regime handelt, die miteinander kollidieren können, ist wenig geholfen. Fraglich ist, ob einem der beiden Regime der Vorrang gebührt, oder ob
im Einzelfall ermittelt werden muss, welche Regeln zur Anwendung kommen. Die
Beantwortung dieser Frage hängt wesentlich davon ab, in welchem Verhältnis die
beiden Regime zueinander stehen.
1. Alternativitätsverhältnis
Ausgehend von den konzeptionellen Unterschieden zwischen Menschenrechten und
humanitärem Völkerrecht propagieren einige Vertreter ein Alternativitätsverhältnis
zwischen beiden Regimen (separatistische Theorie).437 Die besondere Situation des
bewaffneten Konfliktes fordere ein spezielles Recht.438 Dieses sei in den elaborierten
Regeln des humanitären Völkerrechts verankert, das als lex specialis en bloc den
Menschenrechten vorgehe.439 Eine parallele Anwendung beider Rechtsregime müsse
bereits aus dem Grund ausscheiden, dass sie bestimmte Situationen rechtlich unterschiedlich bewerten.440 Das humanitäre Völkerrecht biete nämlich einen vergleichsweise geringeren Schutz.441 Auch die Staatenpraxis bekräftige diese Sichtweise. Der
mangelnde Gebrauch der Derogationsklauseln442 sei ein Beweis dafür, dass die Staaten sich nicht an die Menschenrechte gebunden sehen.443
2. Parallelverhältnis
Der trotz aller Unterschiede bestehende gemeinsame Kern von humanitärem Völkerrecht und Menschenrechten bietet indes Grund für die parallele Anwendung beider
Rechtsregime. Der Umstand, dass Menschenrechtsverträge häufig Derogationsklauseln für Notsituationen wie bewaffnete Konflikte enthalten, ist gerade ein Indiz für
437 Vgl. Draper, Acta Juridica (1979), 193 (203 f.); Feinstein (Anm. 423), S. 254; Dennis, ILSA
J. Int´l & Comp. L. 12 (2006), 459 (472 ff.); Mushkat, GYIL 12 (1978), 150 (156); Dinstein
(Anm. 301), S. 151; Meyrowitz, RDP 88 (1982), 1059 (1095 ff.).
438 Vgl. Dinstein a. a. O., S. 151.
439 Vgl. Feinstein (Anm. 423), S. 244; Dennis (Anm. 437), S. 474; Mushkat (Anm. 437), S. 156.
440 Vgl. Feinstein a. a. O., S. 245.
441 Vgl. Draper, Isr. Y.B. Hum. Rts. 1 (1971), 191 (198). Draper weist allerdings darauf hin,
dass eine Fortentwicklung und Annäherung des humanitären Völkerrechts an die allgemeinen
Menschenrechte geboten sei.
442 Art. 4 IPBürg, Art. 15 EMRK, Art. 27 AMRK. Gem. Art. 2 CAT kann Krieg oder ein sonstiger öffentlicher Notstand nicht als Rechtfertigung für Folter geltend gemacht werden.
443 Vgl. Dennis, Am. J. Int´l L. 99 (2005), 119 (135 f.).
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ihre fortwährende Geltung auch in Kriegszeiten.444 Dieser Schluss drängt sich umso
mehr auf, als einige Menschenrechtsverträge sogar explizit zur Einhaltung des humanitären Völkerrechts ermahnen. Prominentes Beispiel ist das Übereinkommen
über die Rechte des Kindes. Art. 38 bekräftigt die Verpflichtungen nach dem humanitären Völkerrecht, die für den Schutz der Kinder Bedeutung haben. Umgekehrt
nimmt auch das humanitäre Völkerrecht in einigen Bestimmungen Bezug auf die
Menschenrechte. So stellen die Bestimmungen im ersten Zusatzprotokoll ausweislich dessen Art. 72 lediglich eine Ergänzung des Schutzes grundlegender Menschenrechte dar. Eine vergleichbare Aussage trifft auch die Präambel des zweiten Zusatzprotokolls.445 Menschenrechte und humanitäres Völkerrecht sind somit parallel anwendbar. Es muss im Einzelfall ermittelt werden, welchen der beiden Regime im
Falle einer Kollision der Vorrang gebührt.
Rechtsdogmatisch kann das Zusammenspiel der beiden Regime unterschiedlich
begründet werden. Es widerstreiten die Theorie der Konvergenz und die Theorie der
Komplementarität von humanitärem Völkerrecht und Menschenrechten:
a. Konvergenz
Unter Hinweis auf die gegenseitige Beeinflussung von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht bezeichnen einige Autoren das Zusammenspiel der beiden
Regime als Konvergenzverhältnis (integrationistische Theorie).446 Sie sind somit der
Auffassung, dass sich die beiden Regime zunehmend annähern und letztlich zu einer
einheitlichen Rechtsmaterie verschmelzen. Vereinzelt wird bereits heute vertreten,
dass humanitäres Völkerrecht und Menschenrechte ein einheitliches Regime bilden.
So betrachtet Robertson das humanitäre Völkerrecht als Teilmenge der Menschenrechte.447
b. Komplementarität
Tendenzen zur Konvergenz haben in den Augen anderer Autoren zwar nicht zu einer
Verschmelzung der beiden Rechtsregime geführt. Sie ergänzten sich jedoch und
stünden damit im Verhältnis der Komplementarität (komplementaristische Theo-
444 Vgl. Schäfer (Anm. 420), S. 13.
445 Der Wortlaut lautet: „Sowie eingedenk dessen, dass die internationalen Übereinkünfte über
die Menschenrechte der menschlichen Person einen grundlegenden Schutz bieten.“
446 Vgl. Eide, in: FS Pictet (Anm. 422), S. 695; Doswald-Beck / Vité, IRRC 293 (1993), 94 (94
f.); Dugard, IRRC 324 (1993), 445 (445); Teitel, Cornell Int´l L. J. 35 (2001 – 2002), 355
(374); Schindler, Am. U. L. Rev. 31 (1982), 935 (942); Cançado Trindade, IIDH 16 (1992),
39 (40 ff.); Meron (Anm. 413), S. 266 ff.; Schmidt-Radefeldt, HuV 18 (2005), 245 (250 f.).
Zweideutig Calogeropoulos-Stratis, in: FS Pictet, 1984, S. 655 (657), sowie Kamchibekova,
Buff. Hum. Rts. L. Rev. 13 (2007), 87 (108).
447 Vgl. Robertson, in: FS Pictet (Anm. 414), S. 797. Kritisch Schindler a. a. O., S. 943.
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rie).448 So könnten etwa Lücken im humanitären Völkerrecht unter Rekurs auf die
Menschenrechte geschlossen werden.449 Darüber hinaus könnte auf institutionelle
Ressourcen beider Regime zurückgegriffen werden.450 Ein derartiges Komplementärverhältnis von humanitärem Völkerrecht und Menschenrechten hat auch der Menschenrechtsausschuss in General Comment 31 bekräftigt.451 Es ist ebenso in der
Judikatur des International Tribunal for the Former Yugoslavia (ICTY) anerkannt
worden.452
c. Würdigung
Die Unterschiede zwischen Konvergenz- und Komplementaritätsthese sind bei Lichte betrachtet überwiegend terminologischer Natur. Für die Rechtspraxis ist allein
entscheidend, dass beide Regime parallel Anwendung finden können. Ob sie sich
entsprechend der Komplementaritätsthese ergänzen oder, wie von Vertretern der
Konvergenzthese propagiert, gegenseitig annähern, wirkt sich im Ergebnis nicht aus.
Solange es sich um zwei unterschiedliche Regime handelt, können Kollisionen auftreten und es bedarf einer Konkurrenzregel.
Für die Konvergenzthese kann angeführt werden, dass bereits heute bedeutsame
Überschneidungen zwischen Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht existieren. So entspricht der nicht derogierbare Kernbestand der Menschenrechte den
grundlegenden Gewährleistungen des humanitären Völkerrechts.453 Weiter kann
nicht in Abrede gestellt werden, dass Menschenrechte und humanitäres Völkerrecht
einander beeinflussen. Seit der Internationalen Konferenz für Menschenrechte von
Teheran im Jahre 1968 haben die Menschenrechte großen Einfluss auf das humanitäre Völkerrecht genommen. Insbesondere sind sie bei der Schaffung der Zusatzprotokolle von eminenter Bedeutung gewesen.454 Art. 75 des ersten Zusatzprotokolls ist
448 Vgl. Orakhelashvili, Eur. J. Int´l L. 19 (2008), 161 (161 ff.); Calogeropoulos-Stratis, in: FS
Pictet (Anm. 446), S. 661; Rwelamira, Stellenbosch L. Rev. 3 (1992), 329 (346); Quigley,
B.C. Int´l & Comp L. Rev 12 (1989), 1 (27), Ben-Naftali / Shany, 37 Isr. L. Rev. (Anm. 392),
S. 50; Reimann, in: FS Pictet, 1984, S. 771 (772, 777); Gasser, GYIL 45 (2002), 149 (161 f.);
Schäfer (Anm. 420), S. 40 ff.; Benounne, U.C. Davis J. Int´l L. & Pol´y (2004), 171 (197,
228); Abi-Saab, in: Warner (Hrsg.), Human Rights and Humanitarian Law, 1997, S. 107
(123). Abi-Saab weist gleichzeitig auf Tendenzen zur Konvergenz. Vgl. Abi-Saab, in: Warner, a. a. O., S. 110 ff.
449 Vgl. Doswald-Beck, Am. Soc´y Int´l L. Proc. 98 (2004), 353 (357 f.); Gros Espiell, in: FS
Pictet, 1984, S. 699 (706).
450 Vgl. Schäfer (Anm. 420), S. 41.
451 Human Rights Committee, General Comment No. 31 (2004), U.N. Doc.
CCPR/C/21/Rev.1/Add.13 Rn. 11.
452 ICTY, Urt. v. 22. Februar 2001 – Case No. IT-96-23-T & IT-96-23/1-T – Prosecutor v. Dragoljub Kunarac, Radomir Kovac and Zoran Vukovic, Rn. 471. Hier wird deutlich, dass der
ICTY entgegen den Ausführungen in Rn. 467 gerade nicht von einer Verschmelzung beider
Regime ausgeht.
453 Vgl. Calogeropoulos-Stratis, in: FS Pictet (Anm. 446), S. 657.
454 Vgl. Calogeropoulos-Stratis a. a. O., S. 658.
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ebenso wie Art. 6 des zweiten Zusatzprotokolls angelehnt an Gewährleistungen des
Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte. Die Annäherung der
beiden Regime wurde fortgeführt im Übereinkommen über die Rechte des Kindes.455
Das Wechselspiel von humanitärem Völkerrecht und Menschenrechte hat jedoch
nicht dazu geführt, dass beide Regime ihre Eigenständigkeit eingebüßt haben.456
Menschenrechte und humanitäres Völkerrecht bestehen weiterhin nebeneinander. Es
ist nicht zu erwarten, dass in Zukunft nur noch ein vereinheitlichtes Recht zur Anwendung kommen wird.457 Vielmehr werden sich die beiden Regime fortwährend
ergänzen. Lücken im humanitären Völkerrecht können daher unter Rückgriff auf die
Menschenrechte geschlossen werden und umgekehrt. In Fällen, in denen mehrere
Auslegungsmöglichkeiten bestehen, können darüber hinaus Wertungen des jeweils
anderen Regimes berücksichtigt werden. Die besseren Gründe sprechen daher für
die Komplementaritätsthese.
III. Konkurrenzregeln
Mit der Anerkennung der parallelen Anwendung von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht ist das Verhältnis der beiden Regime nicht hinreichend geklärt.
Denn es bleibt die Frage nach der rechtlichen Behandlung von Kollisionsfällen, in
denen Menschenrechte und humanitäres Völkerrecht mithin einen Sachverhalt unterschiedlich bewerten. Zur Lösung derartiger Konflikte sind Konkurrenzregeln
erforderlich.
1. Harmonisierende Auslegung
Eine Möglichkeit, die Unterschiede zwischen humanitärem Völkerrecht und Menschenrechten einzuebnen, bietet die harmonisierende Auslegung.458 So kann das
humanitäre Völkerrecht im Lichte der Menschenrechte ausgelegt werden und umgekehrt. Eine solche Vorgehensweise findet Rückhalt in der Rechtsprechung des IGH.
In dem Gutachten Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons befasste sich
455 Art. 38 Übereinkommen über die Rechte des Kindes.
456 Vgl. Partsch, in: Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Bd. II, 2.
Aufl. (1999), S. 910 (912).
457 Vgl. Schindler, in: FS Kägi (Anm. 417), S. 348, mit dem Hinweis, dass der nüchterne Realismus des humanitären Völkerrechts den hochgeschraubten Forderungen der Menschenrechte überlegen sei.
458 Vgl. Ben-Naftali / Shany (Anm. 392), S. 104 ff., sowie Gillard, in: Coomans / Kamminga
(Anm. 392), S. 36. Vgl. auch den Vorschlag Kollers eines human rights based law of war;
Koller (Anm. 392), S. 263. Vgl. auch Migliazza (Anm. 392), S. 224, zur erweiterten Auslegung von Art. 43 HLKO.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Für den Zeitraum nach der Beendigung bewaffneter Konflikte existieren bislang nur wenige völkerrechtliche Regeln. Zu den ungelösten Problemen des ius post bellum gehört die Frage, ob externe Akteure zum Wohle der Bevölkerung regimeändernde Maßnahmen in Post-Konflikt-Staaten ergreifen dürfen.
Im vorliegenden Band wird untersucht, inwieweit die Konstitutionalisierung des Völkerrechts zur Herausbildung von Vorgaben für die Organisation von Staaten geführt hat. Am Beispiel der jüngsten Transformationsprozesse im Irak und im Kosovo werden die Kompetenzen einzelner Staaten und der Vereinten Nationen zur zwangsweisen Implementierung dieser Vorgaben einer kritischen Analyse unterzogen.