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ten einer Besatzungsmacht die Anerkennung versagen. Zwar wird von einigen
Stimmen in der Literatur angeführt, dies dürfe nicht willkürlich geschehen, die
rechtmäßigen Akte der Besatzungsmacht seien zu respektieren.320 Dies vermag jedoch nur insoweit zu überzeugen, als die Besatzungsmacht zwingende Vorgaben des
Völkerrechts umgesetzt hat. Im Übrigen besteht lediglich in faktischer Hinsicht eine
Bindung, da rein praktisch bestimmte Einwirkungen auf die Gesellschaftsstrukturen
nur schwer aus der Welt zu schaffen sind.
Auch wenn die Kompetenz aus Art. 43 HLKO nur in Ausnahmefällen zur Geltung kommt, ist sie inhaltlich nicht beschränkt. Insbesondere kann eine Besatzungsmacht unter sehr engen Voraussetzungen zum Erlass von Gesetzen oder zur Änderung von Institutionen befugt sein.321 Die sogenannte Fauchille-Doktrin, derzufolge
eine Reform von Institutionen durch eine Besatzungsmacht stets unzulässig ist,322
vermag nicht zu überzeugen. Hiergegen spricht bereits Art. 47 HLKO, wonach geschützten Personen durch eine Veränderung von Institutionen nicht die in der Konvention gewährten Rechte entzogen werden dürfen. Implizit wird damit eine Befugnis der Besatzungsmacht zur Reform von Institutionen anerkannt.323
II. Art. 64 IV. Genfer Konvention
Die Haager Landkriegsordnung wurde fortentwickelt durch die Genfer Konvention
zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten aus dem Jahre 1949 (im Folgenden:
IV. Genfer Konvention). Diese enthält ebenfalls Regelungen, die den rechtlichen
Handlungsspielraum einer Besatzungsmacht konturieren. Gem. Art. 154 IV. Genfer
Konvention ergänzt sie die Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung. Von
Bedeutung für die rechtliche Stellung einer Besatzungsmacht ist Art. 64 IV. Genfer
Konvention. Dieser lautet:
„Das Strafrecht des besetzten Gebietes bleibt in Kraft, soweit es nicht durch die Besatzungsmacht endgültig oder vorübergehend außer Kraft gesetzt oder suspendiert werden darf, wenn
es eine Gefahr für die Sicherheit dieser Macht oder ein Hindernis bei der Anwendung des vorliegenden Abkommens darstellt. Vorbehaltlich dieser Ausnahme und der Notwendigkeit, eine
wirksame Justizverwaltung zu gewährleisten, setzen die Gerichte des besetzten Gebietes ihre
Tätigkeit hinsichtlich aller durch die erwähnten Rechtsvorschriften erfassten strafbaren Handlungen fort.
320 Vgl. Morgenstern, Brit. Y.B. Int´l L. 27 (1951), 291 (298). Vgl. auch McNair/Watts, The
legal effects of war, 1966, S. 322 f., denen zufolge eine gewohnheitsrechtliche Pflicht zur
Anerkennung von rechtmäßigen Akten der Besatzungsmacht besteht. Zustimmend Gathi, U.
Pa. J. Int´l Econ. L. 25 (2004), 491 (546).
321 Vgl. Sassoli (Anm. 275), S. 672.
322 Vgl. Sassoli a. a. O., S. 671. Es ist allerdings fraglich, ob diese Doktrin in ihrer Rigidität der
Ansicht von Fauchille entspricht. Denn bei Fauchille (Anm. 297), S. 228, heißt es:
L´occupant „ne doit pas bouleverser les institutions du pays“. Fauchilles Aussage bezieht
sich somit allein auf besonders intensive Eingriffe, die das institutionelle Gefüge im besetzten
Staat erschüttern.
323 Vgl. Newton, Cornell Int´l L. J. 38 (2005), 863 (875).
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Jedoch kann die Besatzungsmacht die Bevölkerung des besetzten Gebietes Bestimmungen unterwerfen, die ihr unerlässlich erscheinen zur Erfüllung der ihr durch das vorliegende Abkommen auferlegten Verpflichtungen, zur Aufrechterhaltung einer ordentlichen Verwaltung des
Gebietes und zur Gewährleistung der Sicherheit sowohl der Besatzungsmacht wie auch der
Mitglieder und des Eigentums der Besatzungsstreitkräfte oder –verwaltung sowie der von der
Besatzungsmacht benutzten Anlagen und Verbindungslinien.“
Art. 64 IV. Genfer Konvention weist deutliche Parallelen zu Art. 43 HLKO auf.
Auch diese Vorschrift ist darauf gerichtet, zum einen die Kontinuität im besetzten
Staat zu sichern, zum anderen der Besatzungsmacht einen Handlungsspielraum zu
eröffnen. Die Regelung ist jedoch weitaus detaillierter. Während Absatz 1 sich lediglich auf Strafgesetze bezieht, trifft Absatz 2 allgemeine Aussagen über die Kompetenzen einer Besatzungsmacht.
1. Kompetenz zur Suspension / Außerkraftsetzung von Strafgesetzen
Art. 64 Abs. 1 IV. Genfer Konvention enthält zunächst den Grundsatz, dass das
Strafrecht des besetzten Gebietes in Kraft bleibt. Diese Bestimmung zielt auf die
Kontinuität des geltenden Rechts ab. Sie ähnelt der negativen Pflicht in Art. 43
HLKO. Der Umstand, dass in Art. 64 IV. Genfer Konvention lediglich Strafgesetze
erwähnt werden, ist historisch bedingt.324 Er erklärt sich vor dem Hintergrund, dass
in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in großem Umfang Strafgesetze durch die
Besatzungsmächte geändert wurden. Die Vertragsväter der Genfer Konvention wollten mit der Regelung nicht von dem Grundsatz abweichen, dass die im besetzten
Staat geltende Rechtsordnung zu respektieren ist.
Eine Ausnahme vom gebotenen Respekt der Strafgesetze sieht Art. 64 IV. Genfer
Konvention für den Fall vor, dass eine Gefahr für die Sicherheit der Besatzungsmacht oder ein Hindernis bei der Anwendung des Abkommens abgewendet werden
soll. Unter diesen Umständen dürfen Strafgesetze suspendiert oder außer Kraft gesetzt werden.
2. Legislativbefugnis
Art. 64 Abs. 2 IV. Genfer Konvention gewährt der Besatzungsmacht explizit Legislativbefugnisse. Sie kann Bestimmungen erlassen, die unerlässlich erscheinen zur
Erfüllung der ihr durch das Abkommen auferlegten Verpflichtungen, zur Aufrechterhaltung einer ordentlichen Verwaltung des Gebietes und zur Gewährleistung ihrer
Sicherheit. Art. 64 Abs. 2 IV. Genfer Konvention kann strukturell in drei Elemente
aufgespaltet werden: der Besatzungsmacht wird durch die Gewähr von Legislativbefugnissen ein Mittel an die Hand gegeben. Dieses Mittel darf zur Verwirklichung
324 Vgl. Pictet, La Convention de Genève Relative à la Protection des Personnes Civiles en
Temps de Guerre, 1956, S. 360; Gasser, in: Fleck (Anm. 293), S. 255.
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eines der enumerierten Zwecke eingesetzt werden. Schließlich werden mit dem
Erfordernis der Unerlässlichkeit Vorgaben für das Verhältnis von Mittel und Zweck
gemacht.
a. Mittel
In Art. 64 Abs. 2 IV. Genfer Konvention ist nicht lediglich von Strafgesetzen die
Rede. Vielmehr heißt es, die Besatzungsmacht dürfe die Bevölkerung des besetzten
Gebietes „Bestimmungen“ unterwerfen. Nach dem bloßen Wortlaut fallen hierunter
auch andere Gesetze.325
Fraglich ist, ob aufgrund des systematischen Bezuges zu Absatz 1 lediglich eine
Kompetenz zur Schaffung von Strafgesetzen gemeint ist. Hierfür spricht, dass in den
folgenden Artikeln 65 und 66 IV. Genfer Konvention lediglich Regelungen für
Strafgesetze niedergelegt sind.326 Bei näherer Betrachtung erweist sich jedoch, dass
Art. 64 Abs. 2 unabhängig von Art. 64 Abs. 1 IV. Genfer Konvention gelesen werden muss. Der Erlass von Gesetzen ist in Art. 64 Abs. 2 IV. Genfer Konvention
abschließend geregelt. Hier sind drei Ziele niedergelegt, zu deren Verwirklichung
die Besatzungsmacht Gesetze erlassen kann. Insbesondere ist in Art. 64 Abs. 2 IV.
Genfer Konvention geregelt, dass die Besatzungsmacht auch zur Aufrechterhaltung
einer ordentlichen Verwaltung Bestimmungen erlassen kann. Dieses Ziel ist nicht
schon in Art. 64 Abs. 1 IV. Genfer Konvention genannt und bietet somit keinen
Grund, Strafgesetze außer Kraft zu setzen oder zu suspendieren. Müsste eine Besatzungsmacht beim Erlass von Bestimmungen im Sinne von Art. 64 Abs. 2 IV. Genfer
Konvention auch das Gebot aus Absatz 1 beachten, so käme es zu folgendem Wertungswiderspruch, den Sassoli zutreffend hervorgehoben hat327: Beim Erlass eines
Gesetzes zur Aufrechterhaltung der ordentlichen Verwaltung werden vorher bestehende Gesetze aufgrund des Lex posterior-Grundsatzes außer Kraft gesetzt. Dieses
Ergebnis würde dem Gebot aus Absatz 1 zuwiderlaufen. Die Kompetenz der Besatzungsmacht hinge somit von dem zufälligen Umstand ab, ob für die jeweilige Regelungsmaterie vorher bereits Strafgesetze existierten. Dies vermag nicht zu überzeugen. Es erscheint daher naheliegend, dass die Kompetenz nach Art. 64 Abs. 2 ein
von der Pflicht nach Art. 64 Abs. 1 IV. Genfer Konvention unabhängiges Schicksal
führt.
Schließlich stützen auch teleologische Gründe dieses Ergebnis. Der Besatzungsmacht wird mit Art. 64 Abs. 2 IV. Genfer Konvention ein Mittel an die Hand gegeben, einen der enumerierten Zwecke zu verwirklichen. Für die Realisierung dieser
Zwecke erweisen sich Strafgesetze jedoch nicht stets als effektiv. Insbesondere für
die Aufrechterhaltung der öffentlichen Verwaltung erscheinen einfache Gesetze als
geeigneteres Mittel.
325 Vgl. auch Boon (Anm. 313), S. 302.
326 Vgl. auch Dinstein (Anm. 301), S. 114.
327 Vgl. Sassoli (Anm. 275), S. 670.
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b. Zweck
Art. 64 IV. Genfer Konvention nennt drei verschiedene legitime Zwecke, zu deren
Verwirklichung Bestimmungen erlassen werden dürfen. Gesetzgeberische Maßnahmen dürfen zunächst ergriffen werden, um Verpflichtungen aus der Genfer Konvention nachzukommen. Die Konvention statuiert umfassende Pflichten, um das Wohl
der Bevölkerung zu sichern. Sie reichen von der medizinischen Versorgung der
Bevölkerung (Art. 51) zur Schaffung von Arbeitsplätzen (Art. 52).328 Die Gesetzgebungsbefugnisse erscheinen prima facie somit als denkbar weit.329 Bei genauerer
Betrachtung erweist sich jedoch, dass die Garantien des Genfer Rechts nur besonders gravierenden Rechtsverletzungen Einhalt gebieten. Art. 64 IV. Genfer Konvention gewährt der Besatzungsmacht damit keine carte blanche.
Als weiteres legitimes Ziel nennt Art. 64 IV. Genfer Konvention die Aufrechterhaltung einer ordentlichen Verwaltung. Dieser Begriff ist in der Genfer Konvention
nicht definiert. Sein Gehalt erschließt sich bei einer systematisch-teleologischen
Betrachtung. So ist zu berücksichtigen, dass das Genfer Recht der Besatzungsmacht
zahlreiche Verpflichtungen auferlegt. Die Erfüllung dieser Pflichten setzt einen
funktionierenden Verwaltungsapparat voraus.330 Fehlt ein solcher, so ist eine Besatzungsmacht berechtigt, das erforderliche Mindestmaß an administrativen Strukturen
zu etablieren.331
Schließlich dürfen Gesetze zur Gewährleistung der Sicherheit sowohl der Besatzungsmacht wie auch der Mitglieder und des Eigentums der Besatzungsstreitkräfte
oder – verwaltung sowie der von der Besatzungsmacht benutzten Anlagen und Verbindungslinien erlassen werden. Somit trägt das Genfer Recht ähnlich wie Art. 43
HLKO den sicherheitspolitischen Interessen der Besatzungsmacht Rechnung.
c. Zweck – Mittel – Relation
Gesetze dürfen gem. Art. 64 Abs. 2 IV. Genfer Konvention erlassen werden, sofern
dies unerlässlich ist, um eines der obig beschriebenen Ziele zu erreichen. Der Begriff „unerlässlich“ ist ebenso wie der Terminus „zwingendes Hindernis“ in Art. 43
HLKO schwer zu definieren. Die Auslegung entscheidet über die Reichweite der
Legislativbefugnisse einer Besatzungsmacht. Bereits bei der Ausarbeitung von Art.
64 IV. Genfer Konvention herrschte diesbezüglich Uneinigkeit. Den Materialien ist
zu entnehmen, dass einige Entwürfe der Besatzungsmacht weitgehende Legislativbefugnisse zugestanden, indem auf das Kriterium der Unerlässlichkeit verzichtet
wurde. So heißt es im amerikanischen Entwurf:
328 Für weitere Beispiele vgl. Benvenisti (Anm. 288), S. 104.
329 Vgl. Pictet (Anm. 324), S. 362.
330 Vgl. Thürer / MacLaren, in: FS Delbrück, 2005, S. 753 (764).
331 Vgl. Heintschel von Heinegg, Harv. J. L. & Pub. Pol´y 27 (2003 – 2004), 843 (860).
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„Until changed by the Occupying Power the penal laws of the occupied country shall remain
in force and the tribunals thereof shall continue to function in respect of all offences covered
by the said laws.“332
Derartig weitgehende Kompetenzen wurden von den Staatenvertretern indes kritisiert333; der Vorschlag wurde verworfen. Art. 64 IV. Genfer Konvention sollte ebenso wie Art. 43 HLKO eine Schranke setzen, die Missbräuchen durch die Besatzungsmacht entgegenwirkt. Angesichts dessen muss die Vorschrift eng ausgelegt
werden.
3. Zwischenergebnis
Im Vergleich zur Regelung in Art. 43 HLKO zeichnet sich in Art. 64 IV. Genfer
Konvention die Tendenz zu einer Erweiterung der Befugnisse einer Besatzungsmacht ab.334 Dies schlägt sich unter anderem im Wortlaut von Art. 64 IV. Genfer
Konvention nieder, der anders als Art. 43 HLKO nicht als Verbot gefasst ist. Während der Aspekt der Kontinuität und damit verbunden der Schutz der staatlichen
Souveränität das Haager Recht kennzeichnen, verfolgt die Genfer Konvention gegenüber transformativen Maßnahmen einen geringfügig liberaleren Ansatz.335
Schutzobjekt ist nicht länger der Staat als solches. Vielmehr wird auch dem Wohl
der Bevölkerung Aufmerksamkeit geschenkt.336 Art. 43 HLKO ist im Lichte dieser
Entwicklung auszulegen.337 Dessen ungeachtet ist nicht zu verkennen, dass auch das
Genfer Recht auf den Schutz der Kontinuität zielt und transformativen Maßnahmen
deutliche Schranken setzt.338
332 Final Record of the Diplomatic Conference of Geneva of 1949, Bd. III, S. 139, zum äquivalenten Art 55.
333 Nachweis bei Adams (Anm. 292), S. 588.
334 Vgl. McCarthy (Anm. 276), S. 62; Sassoli (Anm. 275), S. 670.
335 Vgl. Yoo (Anm. 286), S. 18.
336 Vgl. McCarthy (Anm. 276), S. 50; Benvenisti (Anm. 288), S. 105; Dens., IDF L. Rev. 1
(2003), 19 (28); Tadlock (Anm. 281), S. 236. Pellet, in: Playfair (Anm. 298), S. 195; Imseis,
Harv. Int´l L. J. 44 (2004), 65 (91).
337 Auch wenn Art. 64 IV. Genfer Konvention somit große Bedeutung zukommt, wird im Folgenden allein Art. 43 HLKO als die Kernbestimmung des Besatzungsrechts Erwähnung finden.
338 Nach Ansicht von Murphy enthält Art. 64 gegenüber Art. 43 HLKO in der Substanz keine
Änderungen. Dieser strikten Ansicht kann aus den oben genannten Gründen nicht gefolgt
werden. Vgl. M. Murphy, Conn. J. Int´l L. 19 (2004), 445 (458).
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III. Moderne Auslegung des humanitären Völkerrechts
1. Bedarf für eine moderne Auslegung
Seit der Schaffung des Haager und Genfer Rechts haben verschiedene Entwicklungen eingesetzt, die Anlass geben, das oben skizzierte Regime des Besatzungsrechts
in Frage zu stellen. Die Entwicklungen haben sich in tatsächlicher Hinsicht in ver-
änderten Rahmenbedingungen niedergeschlagen. In der internationalen Ordnung,
wie sie sich gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts präsentierte, koexistierten souveräne Staaten nebeneinander. Wurde das Staatengefüge durch einen
Krieg erschüttert, so war es Bestreben des Haager Rechts, schnellstmöglich dem aus
dem aus dem Amt verdrängten Souverän den Weg für seine Rückkehr zu ebnen.339
Dies erweist sich in der modernen Welt als nicht mehr zeitgemäß. Wie eingangs
bereits erwähnt, prägt staatliches Scheitern eine Vielzahl krisengeschüttelter Regionen.340 Die Länge der Anwesenheit einer Besatzungsmacht im besetzten Staat ist
daher oftmals ungleich größer als noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts.341 In rechtlicher Hinsicht hat sich der Kreis der dem humanitären Völkerrecht zugrunde liegenden Parameter erweitert. Neben dem Grundsatz der Souveränität bilden ein elaboriertes Menschenrechtssystem sowie das Selbstbestimmungsrecht der Völker den
normativen Rahmen, innerhalb dessen sich das Handeln einer Besatzungsmacht
vollzieht. Wie gesehen, treffen sie verbindliche Vorgaben für die Organisation eines
Staates.
Im Lichte dieser Entwicklungen betrachtet erweisen sich die Regeln des humanitären Völkerrechts über die Rechtsstellung einer Besatzungsmacht zwar nicht als
obsolet. Mehr denn je besteht der Bedarf, das Hegemonialstreben einiger Großmächte zu bändigen. Zwei Grenzsituationen lassen jedoch Rufe nach einer modifizierten
Auslegung des humanitären Völkerrechts laut werden: Zum einen die Situation, dass
im besetzten Staat staatliche Strukturen zerfallen.342 Hier droht der unmittelbare
Ausbruch eines Bürgerkrieges mit einhergehenden Menschenrechtsverletzungen,
wenn nicht unmittelbar reagiert wird. Zum anderen die Situation, dass das bestehende Regime ein Unrechtsregime ist, dessen Strukturen in eklatantem Widerspruch zu
völkerrechtlich zwingenden Vorgaben stehen.343 Hier erscheint es befremdlich, eine
Besatzungsmacht zu verpflichten, im Gehäuse eines Unrechtsstaates zu agieren.344
Angesichts dieser Grenzsituationen drängt sich die Frage auf, ob im Falle einer
339 Vgl. McGurk, Va. J. Int´l L. 45 (2004 – 2005), 451 (458); Goodman (Anm. 289), S. 1591.
340 Vgl. Harris, Berkeley J. Int´l L. 24 (2006), 1 (13).
341 Vgl. Goodman (Anm. 289), S. 1592; Gasser, in: FS Fleck, 2004, S. 139 (152).
342 Vgl. auch Thürer / MacLaren, in: FS Delbrück (Anm. 330), S. 764, die zutreffend darauf
hinweisen, dass das humanitäre Völkerrecht einen funktionierenden Staatsapparat voraussetzt.
343 Vgl. Zahawi, Cal. L. Rev. 95 (2007), 2295 (2335), die Genozid und ethnische Säuberungen
als eine derartige Grenzsituation kennzeichnet.
344 Vgl. Cohen (Anm. 290), S. 500. Vgl. auch McGurk (Anm. 339), S. 459.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Für den Zeitraum nach der Beendigung bewaffneter Konflikte existieren bislang nur wenige völkerrechtliche Regeln. Zu den ungelösten Problemen des ius post bellum gehört die Frage, ob externe Akteure zum Wohle der Bevölkerung regimeändernde Maßnahmen in Post-Konflikt-Staaten ergreifen dürfen.
Im vorliegenden Band wird untersucht, inwieweit die Konstitutionalisierung des Völkerrechts zur Herausbildung von Vorgaben für die Organisation von Staaten geführt hat. Am Beispiel der jüngsten Transformationsprozesse im Irak und im Kosovo werden die Kompetenzen einzelner Staaten und der Vereinten Nationen zur zwangsweisen Implementierung dieser Vorgaben einer kritischen Analyse unterzogen.