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ben für den Umfang der Mitwirkungsrechte festgelegt werden, die dem Volk einzuräumen sind. Es kann lediglich in einer negativen Umschreibung die Aussage getroffen werden, dass bei massiver Missachtung des Volkswillens, wie sie etwa unter
dem Apartheidsystem erfolgte, der demokratische Mindeststandard jedenfalls nicht
mehr erfüllt wird.144
Mit der Anerkennung eines demokratischen Mindeststandards geht eine Einschränkung zweier völkerrechtlicher Prinzipien einher. Zum einen wird die innere
Souveränität zurückgedrängt. Mit der Zunahme von rechtlichen Bindungen verlieren
die Staaten einen Teil ihrer Autonomie; der Fokus des Interesses wird auf die Autonomie ihrer Bürger gerichtet. Zum anderen werden auch der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts Grenzen gesetzt. Dies mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, handelt es sich bei dem Selbstbestimmungsrecht doch um eine Grundlage
des demokratischen Mindeststandards. Die Unentziehbarkeit des Selbstbestimmungsrechts sowie sein kontinuierlicher Charakter haben jedoch zur Folge, dass ein
Volk sich nicht endgültig seiner Selbstbestimmung berauben kann.145 Somit determiniert der Modus der Ausübung dieses Rechtes seinen Inhalt.
II. Justizsystem
Das Völkerrecht stellt auch umfassende Anforderungen an die Ausgestaltung des
Justizsystems einzelner Staaten. So enthalten insbesondere die modernen Menschenrechtskataloge institutionell-organisatorische und verfahrensrechtliche Vorgaben,
deren Einhaltung universal verpflichtend ist. Exemplarisch können folgende Gewährleistungselemente angeführt werden, die rudimentäre Ausprägungen von
Rechtsstaatlichkeit sind:146
1. Institutionell-organisatorische Gewährleistungselemente
Zunächst sind Staaten dazu angehalten, überhaupt Rechtsschutzinstanzen – typischer
Weise Gerichte – einzurichten. Unter dem IPBürg ergibt sich dies aus zwei Bestimmungen: Zum einen enthält Art. 2 IPBürg das Recht auf wirksamen Rechtsschutz.
Dieses akzessorische Recht kommt dann zur Anwendung, wenn eines der im Pakt
gewährleisteten Rechte verletzt worden ist. Es gewährt Zugang zu einer Rechtsschutzinstanz. Art. 2 Abs. 3 lit.b IPBürg konkretisiert dieses Recht dahingehend,
dass Staaten möglichst eine gerichtliche Instanz zur Überprüfung von Menschen-
144 Vgl. Kolodner (Anm. 82), S.163.
145 Dieses Phänomen erinnert an die aus dem deutschen Verfassungsrecht bekannte Ewigkeitsgarantie in Art. 79 GG.
146 Vgl. Nowak (Anm. 65), S. 60 f.
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rechtsverletzungen errichten sollen.147 Wenngleich gerichtlicher Rechtsschutz unter
Art. 2 IPBürg somit Priorität genießt, ist er nicht zwingend.148
Neben Art. 2 IPBürg ist zum anderen Art. 14 IPBürg von Bedeutung. Hiernach
hat jeder Anspruch darauf, dass über eine gegen ihn erhobene strafrechtliche Anklage durch ein zuständiges, unabhängiges, unparteiisches und auf Gesetz beruhendes
Gericht verhandelt wird. Art. 14 IPBürg verbürgt somit das Recht auf ein gerichtliches Verfahren. Wird einem Individuum der Zugang zum Gericht verweigert, so
stellt dieser denial of justice eine eigenständige Menschenrechtsverletzung dar.149
Mit dem Kriterium der Unabhängigkeit der Gerichte wird zum Ausdruck gebracht, dass eine Verschränkung der Gewalten unzulässig ist. Gerichte müssen frei
von Beeinflussung durch die legislative und exekutive Gewalt sein. Der Menschenrechtsausschuss hat dies in General Comment No. 32 jüngst bestätigt.150
Es ist hervorzuheben, dass Staaten gemäß Art. 14 IPBürg dazu angehalten sind,
Gerichte mit institutionellen und finanziellen Mittel auszustatten, um die Einhaltung
der Verfahrensgarantien nach Art. 14 Abs. 2 bis 7 IPBürg sicherzustellen.151 Im
Ergebnis sind sie damit verpflichtet, ein elaboriertes Rechtssystem zu errichten. Art.
14 IPBürg stellt gleichzeitig klar, dass außerordentliche Gerichte unzulässig sind.
Die temporäre Schaffung eines Gerichts außerhalb der geltenden Rechtsordnung zur
Ahndung bestimmter Verbrechen ist mit dieser Vorgabe unvereinbar.152
Neben dem IPBürg verlangen auch weitere Konventionen, dass Staaten Gerichte
schaffen. Zum Teil wird dies schlichtweg implizit vorausgesetzt, wenn geregelt
wird, dass Opfer von Menschenrechtsverletzungen den innerstaatlichen Rechtsweg
ausschöpfen müssen, bevor sie sich an eine internationale Instanz wenden können.153
Andere Konventionen enthalten ausdrückliche Regeln.154 Angesichts der weiten
Verbreitung justizieller Gewährleistungen liegt es nahe, dass diese inzwischen auch
gewohnheitsrechtliche Geltung beanspruchen können.
Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Vereinten Nationen in verschiedenen
Prinzipien universelle Vorgaben für die Ausgestaltung des Justizwesens getroffen
haben. Erwähnung verdienen zum einen die Principles on the Independence of the
Judiciary, in denen grundlegende Anforderungen an die Unabhängigkeit der Justiz
niedergelegt sind.155 Zum anderen ist in den Basic Principles on the Right to a Re-
147 Vgl. Nowak a. a. O., S. 58 ff.
148 Vgl. hierzu allgemein Kälin / Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, 2005, S. 180.
149 Vgl. Shelton, Remedies in International Human Rights Law, 2. Aufl. (2005), S. 8.
150 Vgl. Human Rights Committee, General Comment No. 32, Art. 14: Right to equality before
courts and tribunals and to a fair trial, CCPR/C/GC/32, 23. August 2007, Rn. 18.
151 Vgl. Nowak (Anm. 102), S. 238.
152 Vgl. Bassiouni, Cornell Int´l L. J. 38 (2005), 327 (364).
153 Vgl. Kälin / Künzli (Anm. 148), S. 179.
154 Vgl. nur Art. 5, 6, 13 EMRK.
155 Basic Principles on the Independence of the Judiciary, adopted by the Seventh United Nations Congress on the Prevention of Crime and Treatment of Offenders held at Milan from 26
August to 6 September 1985 and endorsed by General Assembly Resolutions 40/32 of 29
November 1985 and 40/146 of 13 December 1985.
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medy ein Recht auf wirksame Beschwerde im Falle schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen geregelt.156
2. Verfahrensrechtliche Gewährleistungselemente
Menschenrechtliche Konventionen enthalten auch zahlreiche Vorgaben für das gerichtliche Verfahren. So enthält Art. 14 IPBürg Verfahrensgarantien für den Strafund Zivilprozess. Neben dem Recht auf Gleichheit vor dem Gericht sowie dem
Recht auf ein faires und öffentliches gerichtliches Verfahren findet sich hier ein
Katalog strafprozessualer Mindestgarantien. Dieser umfasst wichtige Gewährleistungen wie die Unschuldsvermutung, das Recht auf Verteidigung oder das Prinzip
ne bis in idem. Im Zusammenhang mit dem Strafverfahren sind zwei weitere Bestimmungen relevant: Art. 9 IPBürg verbietet willkürliche Haft und unterwirft Freiheitsentziehen rechtlichen Schranken. Regelungen für den Strafvollzug finden sich
in Art. 10 IPBürg.
Es ist hervorzuheben, dass die verfahrensrechtlichen Garantien kein Unikum des
IPBürg sind. Vielmehr finden sich vergleichbare Bestimmungen ebenso in anderen
Menschenrechtskonventionen.157 Auch in Bezug auf die verfahrensrechtlichen Gewährleistungselemente kann ferner davon ausgegangen werden, dass die grundlegenden Garantien im Völkergewohnheitsrecht Verankerung gefunden haben.
Die völkerrechtlichen Vorgaben garantieren ein Minimum an Verfahrensgerechtigkeit. Ihre weitere Bedeutung erschließt sich insbesondere aus systemtheoretischer
Perspektive: Verfahrensrechtliche Gewährleistungen bewirken eine Institutionalisierung sozialer Konflikte.158 Sie schaffen die Voraussetzung für die Akzeptanz einer
gerichtlichen Entscheidung durch die Herrschaftsunterworfenen, haben somit eine
legitimierende Funktion. Dies dient dem Erhalt des sozialen Systems.
3. Fazit
Die Ausgestaltung des Justizsystems durch einzelne Staaten wird völkerrechtlich
determiniert. Es sind überwiegend menschenrechtliche Bestimmungen, die einen
Kernbestand von institutionell-organisatorischen und verfahrensrechtlichen Grundprinzipien enthalten. Mit dem Erfordernis unabhängiger Gerichte finden sich dabei
Ansätze eines liberalen, auf dem Prinzip der Gewaltenteilung aufbauenden Staats-
156 Basic Principles and Guidelines on the Right to a Remedy and Reparation for Victims of
Gross Violations of International Human Rights Law and Serious Violations of International
Humanitarian Law, adopted and proclaimed by General Assembly Resolution 60/147 of 16
December 2005.
157 Vgl. nur Art. 5, 6 EMRK.
158 Vgl. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 2. Aufl. (1989), S. 100, sowie Zippelius, in: FS
Larenz, 1973, S. 293 (299).
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verständnisses.159 Dies erlaubt es, in Bezug auf das Justizwesen von einem rechtsstaatlichen Minimalkonsens zu sprechen.160
III. Verwaltung
Die Organisation der Verwaltung wird, verglichen mit den Vorgaben für die Ausgestaltung der Justiz, in weitaus geringerem Umfang völkerrechtlich determiniert.
Es wäre verfehlt, konkrete Richtlinien für den Aufbau der Behörden, die administrativen Handlungsformen oder das Verwaltungsverfahren zu erwarten. Gerade für
Post-Konflikt-Situationen findet sich jedoch eine wichtige Vorgabe, die die Besetzung staatlicher Positionen mit Fachpersonal betrifft. Ausgangspunkt ist folgendes
Dilemma: Auf der einen Seite gebieten menschenrechtliche Vorgaben die Ahndung
begangenen Unrechts. Die Besetzung staatlicher Stellen mit Personen, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben, erscheint vor diesem Hintergrund nicht
tragbar. Auf der anderen Seite mangelt es häufig an qualifizierten Fachkräften, so
dass ein faktischer Zwang besteht, auch solche Personen zu beschäftigen, die in ein
Unrechtsregime involviert waren.161
Rechtliche Parameter, die diesen Konflikt zwischen der Integrität des Personals
und den begrenzten Ressourcen determinieren, sind zum einen die Pflicht zur Ahndung begangenen Unrechts, zum anderen das Institut der Amnestie als Grenze hierzu.
1. Pflicht zur Ahndung begangenen Unrechts
Menschenrechtsverträge beschränken sich nicht darauf, die Verletzung von Menschenrechten zu verbieten. Hat eine Menschenrechtsverletzung stattgefunden, so
kann ein Staat auch zur Aufarbeitung dieses Unrechts angehalten sein. Diese Verpflichtung ist Ausfluss der Pflicht zur effektiven Gewährleistung der Menschenrechte.162 Etwaige Maßnahmen können zum einen in der Leistung von Entschädigungen,
der Durchführung unabhängiger Untersuchungen oder der Errichtung von Wahrheitskommissionen bestehen.163 Diese Maßnahmen zeichnen sich dadurch aus, dass
159 Vgl. Nowak (Anm. 102), S. 237.
160 Zum Begriff des Rechtsstaates vgl. nur R. Hofmann, in: R. Hofmann / Marko / Merli / Wiederin (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit in Europa, 1996, S. 3 (3 f.).
161 Vgl. Froissart, in: FS Fleck, 2004, S. 99 (116).
162 Vgl. Andreu – Guzmán, in: de Greiff / Mayer – Rieckh (Hrsg.), Justice as Prevention: Vetting
Public Employees in Transitional Societies, 2007, S. 449 (450). Vgl. auch Mattarollo, Rev.
québécoise de droit int´l 11 (1998), 81 (86), der allerdings zuzutreffender Weise den Begriff
duty to respect verwendet.
163 Vgl. Seibert-Fohr, Mich. St. J. Int´l L 13 (2005), 179 (189).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Für den Zeitraum nach der Beendigung bewaffneter Konflikte existieren bislang nur wenige völkerrechtliche Regeln. Zu den ungelösten Problemen des ius post bellum gehört die Frage, ob externe Akteure zum Wohle der Bevölkerung regimeändernde Maßnahmen in Post-Konflikt-Staaten ergreifen dürfen.
Im vorliegenden Band wird untersucht, inwieweit die Konstitutionalisierung des Völkerrechts zur Herausbildung von Vorgaben für die Organisation von Staaten geführt hat. Am Beispiel der jüngsten Transformationsprozesse im Irak und im Kosovo werden die Kompetenzen einzelner Staaten und der Vereinten Nationen zur zwangsweisen Implementierung dieser Vorgaben einer kritischen Analyse unterzogen.