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grenzüberschreitende Handelsströme die Möglichkeit, komparative Vorteile auszukosten. Insoweit besteht ein positiver Anreiz zur Integration.
Die internationale Kooperation erweitert Handlungsoptionen und damit einhergehend Herrschaftsmöglichkeiten. Gleichzeitig verlieren die Staaten einen Teil ihrer
unantastbaren Eigenständigkeit. Denn die in Folge der Kooperation entstehenden
Reziprozitätsverhältnisse ermöglichen es, ihnen Zugeständnisse abzuverlangen. So
kann etwa die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen an die Erfüllung
materiellrechtlicher Vorgaben oder die Unterwerfung unter bestimmte Streitbeilegungsmechanismen geknüpft werden.37
Vertreter eines rechtssoziologischen Ansatzes weisen überdies darauf hin, dass
Staaten sich in eine globale kulturelle Ordnung einfügen, deren prägenden Einflüssen sie sich nicht entziehen können.38
2. Innere Souveränität
Neben der progressiven Kooperation der Staaten hat der seit Ende des Zweiten
Weltkrieges aufkeimende Menschenrechtsschutz grundlegend Einfluss auf den Begriff der Souveränität genommen.39 Wesentlicher Gedanke des Menschenrechtsschutzes ist es, das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern rechtlichen Bindungen zu
unterwerfen. Betroffen ist somit die innere Souveränität: Dem Individuum als solchen soll ein unantastbarer Freiheitsraum gewährt werden. In ähnlicher Weise wird
die innere Souveränität durch das völkerrechtliche Selbstbestimmungsrecht begrenzt. Anders als bei den Menschenrechten steht hier nicht der Autonomieanspruch
eines Individuums, sondern der eines Kollektivs zur Debatte.40
III. Das moderne Verständnis von Souveränität
Die Impulse im Innen- und Außenverhältnis haben eine Änderung des Begriffes
Souveränität bedingt. Sie haben dazu beigetragen, dass der Autonomie von Staaten
37 Vgl. hierzu Brand, Hastings Int´l & Comp. L. Rev. 25 (2001 – 2002), 279 (289).
38 Vgl. Goodman / Jinks, Stan. L. Rev. 55 (2002 – 2003), 1749 (1780 f.).
39 Vgl. Stacy (Anm. 35), S. 2044; Henkin, Fordham L. Rev. 68 (1999), 1 (3 f.).
40 Es ist umstritten, ob das Selbstbestimmungsrecht der Völker ein Menschenrecht ist. Hiergegen sprechen die strukturellen Unterschiede: Rechtsträger der Menschenrechte sind einzelne
Individuen, während das Selbstbestimmungsrecht einem Kollektiv zusteht. Selbstbestimmungsrecht und Menschenrechte können sogar in Konflikt geraten. Vgl. Doehring, Das
Selbstbestimmungsrecht der Völker, 1974, S. 26. Vgl. auch Gusy, AVR 30 (1992), 385
(396). A.A.: McCorquodale, in: Sellers, The New World Order, Sovereignty, Human Rights
and the Self-Determination of Peoples, 1996, S. 9 (11). Der Streit ist überwiegend terminologischer Natur. Jedenfalls ist das Selbstbestimmungsrecht auch in Menschenrechtsverträgen
verankert.
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engere Grenzen gesetzt werden. Für die Zwecke der vorliegenden Arbeit sind dabei
insbesondere die Schranken im Innenverhältnis von Bedeutung.
Insoweit ist zu konstatieren, dass es sich bei dem modernen Souveränitätsbegriff
– zumindest auch – um ein positives Konzept handelt. Hinter dem souveränen Staat
steht das Volk, das selbstbestimmt eigene Angelegenheiten regeln möchte; Individuen beanspruchen Freiheitsräume. Die Sicherung dieser Autonomieansprüche ist
ultimativer Zweck der Souveränität.41 Im Begriff der Souveränität manifestiert sich
unter dieser Prämisse das kantische Verständnis von Recht als ein Instrument, Freiheitssphären miteinander in Einklang zu bringen.42 Ideengeschichtlich finden sich
vergleichbare Ansätze bereits bei Grotius43 und Locke44.
Allein die Feststellung, dass die Souveränität zweckgebunden ist, lässt die Konturen des modernen Souveränitätsbegriffes im Unklaren. Seine konstitutiven Elemente
werden auch in der Literatur intensiv diskutiert. Grob betrachtet können zwei Strömungen voneinander unterschieden werden, die von folgenden Topoi geprägt werden:
1. Normativität
Ein Ansatz besteht darin, die normativen Bindungen in den Vordergrund zu rücken.
Diese Haltung kommt insbesondere in dem Bericht der International Commission on
Intervention and State Sovereignty zum Ausdruck.45 Hier wird die Souveränität
unter dem Schlagwort responsibility to protect als Pflicht definiert: Inbegriff der
Souveränität sei die Verantwortung eines Staates gegenüber den eigenen Bürgern
und der internationalen Gemeinschaft. Die systematische Verletzung von Menschenrechten begründet nach Maßgabe dieser Ansicht eine Verletzung der responsibility
41 Vgl. Reisman, Am. J. Int´l L. 84 (1990), 866 (872). Vgl. auch Bryde, Der Staat 42 (2003), 61
(64), der darauf hinweist, dass die Staaten nicht mehr oberster Bezugspunkt des Völkerrechts
sind. Weitergehend Sarooshi, Mich. J. Int´l L. 25 (2003 – 2004), 1107 (1115), demzufolge
eine hoheitliche Betätigung nur dann als souverän betrachtet werden kann, wenn sie im Einklang mit diesen Zwecken steht. Dies erscheint zu weitgehend. Die Missachtung rechtlicher
Bindungen nimmt Handlungen nicht ihren souveränen Charakter.
42 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, hrsg. v. Weischedel, 14. Aufl. (2005), S. 337.
43 Vgl. Grotius, De Jure Belli ac Pacis, Übers. v. Schätzel, 1950, S. 408.
44 Vgl. Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, hrsg. v. Euchner, 13. Aufl. (2002), S.
293 f.
45 Vgl. Evans / Sahnoun u.a., The Responsibility to Protect, 2001, S. 11 ff. Vgl. hierzu auch
Report of the High Level Panel on Threats, Challenges and Change, 2. Dezember 2004, U.N.
Doc. A/59/565; 2005 World Summit Outcome, 24. Oktober 2005, U.N. Doc. A/RES/60/1;
Stahn, Am. J. Int´l L. 101 (2007), 99 (99 ff.); Bannon, Yale L. J. 115 (2006), 1157 (1157 ff.);
G. Day / Freeman, Global Governance 11 (2005), 139 (139 ff.); Evans, Wis. Int´l L. J. 24
(2006), 703 (703 ff.); Evans / Sahnoun, Foreign Aff. 81 (2002), 99 (99 ff.); Hamilton, Harv.
Hum. Rts. J. 19 (2006), 289 (289 ff.); Joyner, Va. J. Int´l L. 47 (2007), 693 (693 ff.); Ku, Am.
Soc´y Int´l L. Proc. 98 (2004), 77 (77 ff.); Welsh / Thielking / Macfarlane, Int´l J. 57 (2001 –
2002), 489 (489 ff.); Aronofsky, ILSA J. Int´l & Comp. L. 13 (2007), 317 (317 ff.); Breau, J.
Conflict & Security L. 11 (2006), 429 (429 ff.).
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to protect. Der Gesellschaftsvertrag zwischen Herrscher und Beherrschten, in den
auch die internationale Gemeinschaft einbezogen sei, werde gebrochen.46 Als Konsequenz sei es Staaten verwehrt, externen Interventionen das Schutzschild der Souveränität entgegenzuhalten.47 Vielmehr könne die internationale Gemeinschaft zur
Intervention berechtigt und verpflichtet sein. Ihr Engagement könne dabei unterschiedliche Facetten annehmen: Es reiche von der Prävention über die Reaktion bis
hin zum Wiederaufbau.
Dieser gewandelte Souveränitätsbegriff richtet sich somit an zwei Adressaten.
Zum einen wendet er sich an den Staat, der Verantwortung gegenüber seinen Bürgern tragen soll. Zum anderen ebnet er der internationalen Gemeinschaft den Weg
zur Intervention, wenn diese Verantwortung in schwerwiegendem Maße verletzt
wird.
2. Faktizität
Ungeachtet der rechtlichen Bindungen heben Vertreter einer Gegenansicht das faktische Element der Kapazität als konstitutives Merkmal der Souveränität hervor.48 Die
Souveränität bestimme sich maßgeblich nach den Herrschaftsmöglichkeiten, die
einem Staat zur Verfügung stehen. Ein Staat, der nicht dazu in der Lage sei, die
Rechte seiner Bürger hinreichend zu sichern, sei weniger souverän als andere.
Souveränität wird damit zu einem Rechtsbegriff mit graduellen Abstufungen.49
Als Beispiel für nur „quasi-souveräne“ Staaten führt Jackson die Postkolonialstaaten
an.50 Mangels umfassender Herrschaftsmöglichkeiten hätten diese einen niedrigeren
Rang auf der Skala der Souveränitätsabstufungen eingenommen. Eine vergleichbare
Terminologie verwendet auch Krasner. Kontrolle und Autorität prägen nach seiner
Sichtweise den Begriff der Souveränität.51 Eine Einschränkung dieser beiden Elemente habe zur Folge, dass nur noch ein semi-souveräner Staat gegeben sei. Interventionen könnten in einem solchen Fall stabilisierende Wirkungen zeitigen.52
46 Vgl. Stacy (Anm. 35), S. 2036.
47 Vgl. Stacy (Anm. 35), S. 2030; Cohan, Fla. J. Int´l L. 18 (2006), 907 (942 ff.); Joyner (Anm.
45), S. 703 ff.; Ku (Anm. 45), S. 81 ff.; Hamilton (Anm. 45), S. 289 ff.
48 Vgl. R. Jackson (Anm. 33), S. 21; Krasner, Cornell J. Int´l L. 20 (1997), 641 (654).
49 Im Lichte des Grundsatzes der souveränen Gleichheit betrachtet erweist sich dies als problematisch. Vgl. hierzu Steinberger, in: Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International
Law, Bd. IV, 2000, S. 500 (515).
50 Vgl. R. Jackson (Anm. 33), S. 21.
51 Vgl. Krasner (Anm. 48), S. 654.
52 Vgl. Krasner a. a. O., S. 652.
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3. Würdigung
Indem die obigen Ansätze entweder den normativen oder den faktischen Aspekt der
Souveränität in den Vordergrund stellen, laufen sie Gefahr, die Souveränität auf
dieses Merkmal zu reduzieren. Tatsächlich definiert sich der Rechtsbegriff Souveränität durch beide Elemente.
Kennzeichen ist zum einen das faktische Element der einzigen und einheitlichen
Herrschaftsgewalt als eine Form der koordinierten Macht. Das Merkmal der Koordination grenzt die Herrschaftsgewalt von Arten sonstiger Machtausübung ab.53 Da
es jeglicher Art von Koordination immanent ist, dass sie auf ein Ziel gerichtet ist,
schafft dieses Merkmal gleichzeitig die Verbindung zum normativen Element der
Souveränität. Die Attribute der Einzigkeit und Einheitlichkeit stellen sicher, dass
konkurrierende Herrschaftsansprüche verdrängt werden. Auf diese Weise wird die
Schlagkraft der Herrschaftsgewalt zur Erreichung ihres Ziels erhöht.54
Herrschaftsgewalt zeichnet sich in normativer Hinsicht durch ihre rechtliche Bindung aus.55 Sie ist nicht ein Selbstzweck, sondern dient der Verwirklichung anderer
Ziele. Das tradierte Bild vom Leviathan, legibus solutus, entspricht somit nicht mehr
dem modernen Souveränitätsbegriff. Vielmehr hat das Völkerrecht, allen voran die
Menschenrechte, den domaine réservé der Staaten eingeschränkt. Das Individuum
genießt nicht nur ontologisch, sondern auch normativ Vorrang vor dem Staat.56
Auch wenn eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Doktrin responsibility to
protect den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde, sei gleichwohl angemerkt, dass der Wandel des Souveränitätsbegriffes als solcher nicht zu einer Abkehr
vom Grundsatz der Nichtintervention geführt hat. Die formale Behandlung aller
Staaten als gleich stellt ein Grundprinzip der internationalen Ordnung dar.57 De jure
überdauert die Souveränität einen Zustand eingeschränkter Kapazität.58 Es liegt im
Interesse aller Mitglieder der internationalen Gemeinschaft, eine solche Ordnung
souveräner, interdependenter Staaten aufrechtzuerhalten. Zutreffend hat daher die
International Commission on Intervention and State Sovereignty darauf hingewiesen, dass Interventionen in anderen Staaten auch künftig besonderer Rechtfertigung
bedürfen.59
53 Vgl. Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 513.
54 Vgl. Schliesky a. a. O., S. 513; Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. (1966), S. 849.
55 Vgl. Schliesky a. a. O., S. 139. In den Worten von Derrida: „Denn will man der Souveränität
Sinn verleihen, sie rechtfertigen, eine Begründung für sie finden, muß man [...] sie Regeln,
einem Recht, einem allgemeinem Gesetz, Begriffen unterwerfen.“ Vgl. Derrida (Anm. 13), S.
142. Vgl. auch Hart, The concept of law, 1. Aufl. (1961), S. 216.
56 Vgl. hierzu Simpson (Anm. 12), S. 80 ff., als Vertreter der liberalen, anti-pluralistischen
Schule. Hierbei handelt es sich um einen Ansatz, demzufolge der Status eines Staates von der
Einhaltung internationaler Normen wie insbesondere der Menschenrechte abhängt.
57 Vgl. Chandler, Empire in Denial, 2006, S. 34 f.
58 Vgl. Steinberg, Stan. J. Int´l L. 40 (2004), 329 (340). A.A.: Schermers, in: Kreijen, State,
Sovereignty and International Governance, 2002, S. 185 (192). Zur Kritik vgl. unten S. 183.
59 Vgl. Evans / Sahnoun u.a. (Anm. 45), S. 47.
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B. Konkrete Betrachtung
Die obige Erkenntnis, dass das Völkerrecht der staatlichen Autonomie Grenzen
setzt, kann präzisiert werden. Im Folgenden soll ein Überblick darüber gegeben
werden, in wie weit das Völkerrecht die Ausgestaltung des politischen Systems, des
Justizwesens, der Verwaltung sowie der Wirtschaftsordnung von Staaten determiniert.
I. Politisches System
Das klassische Völkerrecht nahm verschiedenen politischen Systemen gegenüber
grundsätzlich eine neutrale Haltung ein.60 So wurde noch in der Nicaragua-
Entscheidung des IGH die Aussage getroffen, das Völkerrecht sei indifferent gegen-
über der inneren Struktur eines Staates und dessen tragender Ideologie.61 Eine Bewertung der Staatsform erfolgte traditionell lediglich unter dem Gesichtspunkt der
Friedfertigkeit.62 Es zeichnet sich jedoch eine Tendenz zur Betonung demokratischer
Strukturen ab. Diese Entwicklung kann auf menschenrechtliche Vorgaben sowie auf
das Selbstbestimmungsrecht gestützt werden.
1. Menschenrechtliche Vorgaben
Es besteht in zweifacher Hinsicht ein Zusammenhang zwischen menschenrechtlichen Bestimmungen und der demokratischen Organisationsstruktur von Staaten. Ein
unmittelbarer Zusammenhang wird durch einzelne menschenrechtliche Garantien
hergestellt, die eine demokratische Organisation von Staaten gebieten. Mittelbar
besteht ein Zusammenhang zwischen Menschenrechten und Demokratie insoweit,
als diese Staatsform sich für die Sicherung sämtlicher Menschenrechte bewährt hat.
a. Unmittelbare Vorgaben
In menschenrechtlichen Konventionen finden sich Garantien, die in engem Zusammenhang mit demokratischen Systemen stehen.63 An prominenter Stelle ranken die
Rechte auf politische Meinungsbildung und –kundgebung. Aus dem Internationalen
Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBürg) zählen hierzu die Gedanken-
60 Vgl. Heintze, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, 5. Aufl. (2004), S. 389 (429).
61 Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v. United States of
America), Merits, I.C.J. Reports 1986, S. 14 (107 f.).
62 Vgl. Heintze, Selbstbestimmungsrecht und Minderheitenrechte im Völkerrecht, 1994, S. 94.
Prominentes Beispiel ist das faschistische Regime der Nationalsozialisten.
63 Vgl. Salmon, in: Tomuschat (Hrsg.), Modern Law of Self-Determination, 1993, S. 253 (267).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Für den Zeitraum nach der Beendigung bewaffneter Konflikte existieren bislang nur wenige völkerrechtliche Regeln. Zu den ungelösten Problemen des ius post bellum gehört die Frage, ob externe Akteure zum Wohle der Bevölkerung regimeändernde Maßnahmen in Post-Konflikt-Staaten ergreifen dürfen.
Im vorliegenden Band wird untersucht, inwieweit die Konstitutionalisierung des Völkerrechts zur Herausbildung von Vorgaben für die Organisation von Staaten geführt hat. Am Beispiel der jüngsten Transformationsprozesse im Irak und im Kosovo werden die Kompetenzen einzelner Staaten und der Vereinten Nationen zur zwangsweisen Implementierung dieser Vorgaben einer kritischen Analyse unterzogen.