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I. Sicht der Politikwissenschaft
Aus der Sicht der Politikwissenschaft ist das Problem vorwiegend empirischer Natur. Die Organisation eines Staates ist häufig Ausdruck eines tradierten Wertesystems, das Produkt kultureller und sozialer Anschauungen.14 So erfordert eine Demokratie eine bestimmte Ordnungsstruktur und Verfasstheit der Gesellschaft, ihre Bürger müssen geistig-bildungsmäßige Voraussetzungen erfüllen.15 Externe Interventionen können diese Voraussetzungen nicht ex tempore schaffen. Es droht die
Entstehung hybrider Regime, die sich durch Kriegsanfälligkeit und Gewaltbereitschaft auszeichnen.16 Politikwissenschaftler beschäftigen sich aus diesem Grund mit
der Frage, in welchem Umfang staatliche Strukturen de facto transformiert werden
können.
II. Sicht der Philosophie
Aus der Sicht der Philosophie ist die Postkonfliktphase vorwiegend an moralischen
Gerechtigkeitspostulaten zu messen. Anhänger der Lehre vom gerechten Krieg
widmen zunehmend dem Ausgang von Kriegen besondere Aufmerksamkeit.17 Einer
ihrer prominentesten Vertreter, Michael Walzer, nennt die beiden Aspekte der
„Rechtmäßigkeit“ und der „Fähigkeit, einen Schlussstrich zu ziehen“ als Kriterien
zur Beurteilung eines Kriegsendes.18 Eine Besatzung, die der ansässigen Bevölkerung Vorteile gewähre und politische Selbstbestimmung ermögliche, könne als gerecht betrachtet werden.19 Vergleichbare Ansätze finden sich auch bei John Rawls.
Dieser betrachtet die Menschenrechte als Maßstab zur Beurteilung von Interventionen durch sogenannte wohlgeordnete und achtbare Völker in Schurkenstaaten.20 Die
moralische Bewertung humanitärer Besatzungen erfolgt somit teilweise unter Rückgriff auf rechtliche Wertungen.
14 Vgl. Oeter, Die Friedens-Warte 80 (2005), 41 (46).
15 Vgl. Böckenförde, in: Isensee / Kirchhoff (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 3. Aufl. (2004), S. 429 (470 ff.).
16 Vgl. Merkel, Demokratie durch Krieg, abrufbar unter: http://www.boell.de/alt/downloads
/demokratiefoerderung/merkel_demokratie_krieg.pdf, (Stand: 04. April 2008), S. 3.
17 Für einen Überblick vgl. DiMeglio, Mil. L. Rev. 186 (2005), 116 (116 ff.). Allgemein zur
Lehre vom gerechten Krieg Ziolkowski, Gerechtigkeitspostulate als Rechtfertigung von Kriegen, 2008, S. 37 ff.
18 Vgl. Walzer, Erklärte Kriege – Kriegserklärungen, 2003, S. 48.
19 Vgl. Walzer, Just and Unjust Occupations, abrufbar unter: http://www.dissentmagazine.org/
article/?article=400, (Stand: 04. April 2008).
20 Vgl. Rawls, Das Recht der Völker, 2003, S. 98.
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III. Sicht des Völkerrechts
Aus der Sicht des Völkerrechts betrifft das Dilemma humanitärer Besatzungen
schließlich einen Konflikt rechtlich geschützter Autonomieansprüche. Es widerstreiten die Autonomieansprüche von Individuen, Völkern und Staaten. Die Autonomie
der Individuen wird dabei primär durch die Menschenrechte konturiert. Völkern
wird ein kollektiver Autonomieanspruch zugestanden; sie können sich auf ihr
Selbstbestimmungsrecht berufen. Schließlich wird auch Staaten durch die Souveränität ein rechtlich geschützter Freiraum gewährt.
C. Gang der Darstellung
Die vorliegende Arbeit behandelt weder die empirischen Erfolgsaussichten, noch die
moralische Bewertung humanitärer Besatzungen. Vielmehr soll der völkerrechtliche
Rahmen zur Beurteilung humanitärer Besatzungen ausgebreitet werden. Dies geschieht in drei Schritten:
Im ersten Kapitel wird untersucht, in wie fern das Völkerrecht der Autonomie von
Staaten zu Gunsten der Autonomie von Individuen und Völkern Grenzen setzt. Dabei wird zunächst in einer abstrakten Betrachtung dargelegt, dass sich das Verständnis von Souveränität gewandelt hat. In der folgenden konkreten Betrachtung wird
exemplarisch erörtert, welche völkerrechtlich zwingenden Strukturvorgaben für die
Organisation von Staaten existieren. Besonderes Augenmerk wird dabei auf Vorgaben für die Ausgestaltung des politischen Systems, des Wirtschafts- und Justizsystems sowie für die Verwaltung von Staaten gerichtet. Der vorliegenden Arbeit liegt
insoweit die These zugrunde, dass die Autonomie der Staaten in diesen vier Bereichen zunehmend durch das Völkerrecht eingeschränkt wird.
Dies wirft die Folgefrage auf, ob ein Kompetenztitel für die Vornahme transformativer Maßnahmen in Umsetzung dieser Vorgaben besteht. Eine Auseinandersetzung mit dieser Frage erfolgt im zweiten und dritten Kapitel der Arbeit. Dabei wird
zunächst im zweiten Kapitel auf die Kompetenzen im Rahmen einer humanitären
Besatzung durch einzelne Staaten eingegangen. Die gewonnenen Erkenntnisse werden am Beispiel der Transformation des Irak verdeutlicht. Gegenstand des dritten
Kapitels sind humanitäre Besatzungen unter der Schirmherrschaft der Vereinten
Nationen. Als Beispiel aus der Staatenpraxis wird hier die Transformation des Kosovo durch die United Nations Interim Administration Mission in Kosovo (UNMIK)
näher beleuchtet.
Im Schlussteil werden die Pflichten skizziert, die das ius post bellum als Korrelat
der Rechte statuiert. Ziel dieses Ausblicks ist es, die gewonnenen Erkenntnisse abzurunden und die Aufmerksamkeit auf weitere Herausforderungen zu lenken, die
sich in Post-Konflikt-Situationen stellen. Die Arbeit endet mit systematischen Ausführungen zum Verhältnis von ius ad bellum und ius post bellum.
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References
Zusammenfassung
Für den Zeitraum nach der Beendigung bewaffneter Konflikte existieren bislang nur wenige völkerrechtliche Regeln. Zu den ungelösten Problemen des ius post bellum gehört die Frage, ob externe Akteure zum Wohle der Bevölkerung regimeändernde Maßnahmen in Post-Konflikt-Staaten ergreifen dürfen.
Im vorliegenden Band wird untersucht, inwieweit die Konstitutionalisierung des Völkerrechts zur Herausbildung von Vorgaben für die Organisation von Staaten geführt hat. Am Beispiel der jüngsten Transformationsprozesse im Irak und im Kosovo werden die Kompetenzen einzelner Staaten und der Vereinten Nationen zur zwangsweisen Implementierung dieser Vorgaben einer kritischen Analyse unterzogen.