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worden. Bis heute ist ungeklärt, ob ein ius ad bellum aus humanitären Gründen
anzuerkennen ist.4
Für die Zwecke der vorliegenden Arbeit soll der Begriff der humanitären Besatzung ebenfalls Operationen mit humanitärer Zielsetzung beschreiben.5 Im Gegensatz
zur humanitären Intervention geht es hier jedoch um friedenssicherndes Engagement
in der Nachkonfliktphase. Der Begriff „Besatzung“ ist dabei nicht im technischen
Sinne, sondern weit zu verstehen. Er beschreibt jegliche Form von Herrschaftsaus-
übung in einem anderen Staat unter Vornahme transformativer Maßnahmen. Das
Attribut „humanitär“ bringt zum Ausdruck, dass diese Besatzungen darauf gerichtet
sind, die Menschenrechte zu sichern und den Frieden zu konsolidieren.
Humanitäre Besatzungen erfolgen typischerweise in mehreren Phasen. In einem
ersten Schritt wird ein Verwaltungsapparat errichtet, der es dem externen Akteur
erlaubt, Einfluss auf das Geschehen im betreffenden Staat zu nehmen. Hieran anschließend folgt der operative Teil, in dem der externe Akteur auf die Strukturen im
jeweiligen Staat einwirkt: Es werden Vorgaben für das politische System oder die
künftige Wirtschaftsordnung gemacht; Justiz und Verwaltung erfahren weitreichende Reformen. In einem letzten Schritt findet der kontrollierte Rückzug des externen
Akteurs statt.
Zwischen der humanitären Besatzung und der gewaltsamen humanitären Intervention bestehen bedeutsame Unterschiede. Anders als bei der gewaltsamen humanitären Intervention geht es hier nicht primär darum, Verletzungen der Menschenrechte in ihrer negativen Dimension zu unterbinden. Vielmehr stehen überwiegend
völkerrechtliche Strukturvorgaben, die zu einem Tun herausfordern, zur Debatte.
Überdies zielen gewaltsame humanitäre Interventionen darauf ab, gegenwärtige
Menschenrechtsverletzungen zu unterbinden. Der Fokus humanitärer Besatzungen
richtet sich demgegenüber auf die nachhaltige Sicherung völkerrechtlicher Vorgaben
in Zukunft.6
II. Das ius post bellum
Auch hinter dem Begriff „ius post bellum“ verbirgt sich kein völkerrechtlich klar
umrissenes Konzept. Abstrakt betrachtet umschreibt das ius post bellum das rechtliche Regime der Nachkonfliktphase. Dieses wird insbesondere durch die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht geprägt.
Inhaltlich bietet das ius post bellum einen völkerrechtlichen Rahmen für die Herausforderungen, die sich im Anschluss an einen Konflikt für die betreffenden Akteure stellen. Es strebt die Herausbildung einer andauernden, friedlichen Ordnung an.
4 Zur humanitären Intervention vgl. nur Zygojannis, Die Staatengemeinschaft und das Kosovo,
2003, S. 17 ff., sowie Wellhausen, Humanitäre Intervention, 2002, S. 25 ff.
5 Inzwischen wird dieser Begriff auch in der jüngst erschienen Monographie von Fox, Humanitarian Occupation, 2008, S. 4, in ähnlicher Weise verwendet.
6 Vgl. Reisman, Am. J. Int´l L. 98 (2004), 516 (517).
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Damit unterscheidet es sich vom ius in bello, das primär7 die Verursachung von Leid
im engen Zeitrahmen gewaltsamer Auseinandersetzungen zu unterbinden sucht.
Diese Besonderheit des ius post bellum ist durch seinen Kontext bedingt: Das ius
post bellum kommt zur Anwendung, wenn kriegerische Auseinandersetzungen ein
Ende gefunden haben. Zwischen dem Intervenienten und dem Post-Konflikt-Staat
besteht fortan typischerweise ein Machtgefälle, das es überhaupt erst ermöglicht, auf
die Strukturen im besetzten Staat einzuwirken.
Ein weiterer bedeutsamer Unterschied zum ius in bello wird durch die Struktur
und Wirkungsweise der beiden Regime begründet. Den Pflichten des ius in bello
kann häufig schon dadurch nachgekommen werden, dass eine bestimmte Form der
Kriegsführung unterlassen wird. Das ius in bello hat somit primär limitierende Wirkung. Demgegenüber fordert das ius post bellum auch zu einem Tun heraus. Es
verlangt dem Verpflichteten, der entsprechende Kapazitäten aufzuweisen hat, umfassende Aktivitäten ab. Dies ist insbesondere durch die Menschenrechte bedingt,
die in Post-Konflikt-Situationen einen großen Anwendungsbereich haben. Das ius
post bellum ist damit in gewisser Hinsicht eingriffsintensiver als das ius in bello.
Wie im Rahmen der vorliegenden Arbeit zu zeigen sein wird, hängt die Berechtigung zur Vornahme derartiger Eingriffe davon ab, ob der betreffende Akteur aus
eigener Initiative oder auf Grundlage eines Mandates des UN-Sicherheitsrates tätig
wird.
Mit dem betroffenen Akteur ist eine weitere Besonderheit des ius post bellum angesprochen. Das ius post bellum zeichnet sich insoweit zum einen dadurch aus, dass
es nicht nur an Akteure adressiert ist, die am vorherigen Konflikt aktiv beteiligt
waren. Entscheidend ist allein die Intervention in der Nachkonfliktphase.8 Zum
anderen sieht es ein unterschiedliches Rechte- und Pflichtenprogramm vor, abhängig
davon, ob das Engagement eines Staates oder der Vereinten Nationen zur Debatte
steht.
Die Konsequenzen, die mit einer Rückbesinnung auf ein dreigeteiltes Kriegsrecht
verbunden sind – denn wie Carsten Stahn dargelegt hat, finden sich geistesgeschichtliche Grundlagen bereits in der Zeit von Grotius und Vattel9 –, sollen im
Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht abschließend behandelt werden. Sie werden
nur insoweit angesprochen, als es für das Verständnis humanitärer Besatzungen
erforderlich ist.
7 Ausnahmen betreffen zum Beispiel den völkerrechtlichen Umweltschutz im Krieg. Insoweit
werden nachhaltig die natürlichen Lebensgrundlagen geschützt. Vgl. zum Umweltschutz im
Krieg Hobe / Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, 8. Aufl. (2004), S. 538 f., mit weiteren Nachweisen.
8 Vgl. Stahn, Am. U. Int´l L. Rev. 23 (2008), 311 (345).
9 Vgl. Stahn a. a. O., S. 313 ff.
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B. Das Dilemma der humanitären Besatzung
Humanitäre Besatzungen werfen in politischer, philosophischer und völkerrechtlicher Hinsicht Probleme auf. Ausgangspunkt des Dilemmas ist nach allen drei Disziplinen eine Krisenerscheinung souveräner Staatlichkeit. Das Staatsversagen kann
dabei zwei Ausprägungen haben:
Ein faktisches Element steht im Vordergrund bei Staaten, die ausreichender Herrschaftsmacht zur Aufrechterhaltung der normativen und institutionellen Ordnung
entbehren. Ein solches Machtvakuum prägt eine zunehmende Zahl von failed und
failing states.10 Das staatliche Scheitern wird forciert durch Konflikte, in denen
herrschende Eliten aus ihrer Position vertrieben werden oder das Vernichtungspotential moderner Waffen die staatliche Infrastruktur zerstört. Einhergehend mit der
Erosion des Staates erfolgt eine graduelle Verschlechterung der Lebensbedingungen
der Bevölkerung. Gleichzeitig verschiebt sich das Kräfteverhältnis zu den weiteren
Staaten der internationalen Gemeinschaft. Paradoxer Weise stellen failed states
gerade wegen ihrer Schwächeposition eine Bedrohung für die Sicherheit der internationalen Gemeinschaft dar.11
Ein normatives Element steht im Vordergrund bei Staaten, deren innere Organisation nicht den völkerrechtlich zwingenden Strukturvorgaben entspricht. Kennzeichen derartiger „Unrechtsstaaten“ ist eine qualifizierte Verletzung des Rechts.12 Ein
Beispiel sind totalitäre Regime, in denen fundamentale Menschenrechte in eklatanter
Weise missachtet werden. Es ist hervorzuheben, dass sich hinter der Fassade des
„Unrechtsstaates“ gleichzeitig ein politisch aufgeladener Begriff verbirgt, der zur
Rechtfertigung hegemonialer Herrschaftsansprüche instrumentalisiert wird.13
Das Versagen von Staaten führt zu einem Zustand, der gemessen an universal
konsentierten Standards nicht tolerabel erscheint. Die Instabilität machtloser Staaten
lässt ebenso wie schwere Missachtungen fundamentaler rechtlicher Vorgaben Rufe
nach Interventionen laut werden. Gleichzeitig steht außer Frage, dass die Vornahme
transformativer Maßnahmen durch einen externen Akteur in Post-Konflikt-Staaten
äußerst kritisch zu betrachten ist. In der Politikwissenschaft, der Philosophie und
dem Völkerrecht finden sich insoweit unterschiedliche Ansätze:
10 Zu den Wesensmerkmalen von failed states vgl. Geiß, „Failed States“, 2005, S. 44 ff. Vgl.
auch Kreijen, State Failure, Sovereignty and Effectiveness, 2004, S. 96.
11 Vgl. hierzu Ehrenreich Brooks, U. Chi. L. Rev. 72 (2005), 1159 (1162).
12 Vgl. Mögelin, Die Transformation von Unrechtsstaaten in demokratische Rechtsstaaten,
2003, S. 62, der allerdings auch die Verletzung überpositiver Rechtssätze genügen lässt.
Kennzeichen des Unrechtsstaates ist nach Mögelin die Begehung strukturellen Unrechts, d.h.
die systematische Begehung von Unrecht. Vgl. Mögelin a. a. O., S. 69. Vgl. auch Simpson,
Great Powers and Outlaw States, 2004, S. 5.
13 Vgl. hierzu die umfassende philosophisch-politische Darstellung bei Derrida, Schurken,
2006, S. 15 ff.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Für den Zeitraum nach der Beendigung bewaffneter Konflikte existieren bislang nur wenige völkerrechtliche Regeln. Zu den ungelösten Problemen des ius post bellum gehört die Frage, ob externe Akteure zum Wohle der Bevölkerung regimeändernde Maßnahmen in Post-Konflikt-Staaten ergreifen dürfen.
Im vorliegenden Band wird untersucht, inwieweit die Konstitutionalisierung des Völkerrechts zur Herausbildung von Vorgaben für die Organisation von Staaten geführt hat. Am Beispiel der jüngsten Transformationsprozesse im Irak und im Kosovo werden die Kompetenzen einzelner Staaten und der Vereinten Nationen zur zwangsweisen Implementierung dieser Vorgaben einer kritischen Analyse unterzogen.