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Einleitung
Das Kriegsrecht ist nach tradierter Auffassung ein Regime zur Unterbindung und
Eingrenzung von Gewalt.1 Es untergliedert sich in das ius ad bellum und das ius in
bello. Das ius ad bellum setzt bei der Frage des „Ob“ an, indem es den Ausbruch
von Gewalttätigkeiten zu verhindern sucht. Demgegenüber schränkt das ius in bello
auf einer nachgelagerten Stufe das „Wie“ und damit die Modalitäten der Gewaltaus-
übung ein.
Ein Regime, das allein darauf gerichtet ist, der Anwendung von Gewalt Schranken zu setzen, ist den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht mehr gewachsen. Das jüngste Engagement der Staatengemeinschaft im Kosovo und im Irak zeigt,
welch mannigfaltige Aufgaben in Post-Konflikt-Situationen zu bewältigen sind.
Angesichts dessen setzt sich zunehmend die Einsicht durch, das Kriegsrecht durch
das ius post bellum als einen völkerrechtlichen Rahmen für das Ende von Konflikten
zu ergänzen.2
Eines der Hauptprobleme des ius post bellum betrifft die Frage, ob ein externer
Akteur Vorgaben für die Organisation eines Post-Konflikt-Staates treffen kann.
Erweist sich der Panzer der Souveränität als zunehmend durchdringbar, wenn das
Wohl der Bevölkerung die Vornahme transformativer, regimeändernder Maßnahmen gebietet? Diese Frage trifft den Kern eines Dilemmas, das unter dem Titel „Die
humanitäre Besatzung“ den Gegenstand der vorliegenden Arbeit bildet.
A. Begriffsbestimmung
I. Die humanitäre Besatzung
Der Begriff der humanitären Besatzung ist angelehnt an das Institut der humanitären
Intervention. Nach dem vorherrschenden Begriffsverständnis beschreibt die humanitäre Intervention den unter Anwendung von Gewalt erfolgenden Eingriff in das
Hoheitsgebiet eines anderen Staates mit dem Ziel, dort stattfindende schwere Menschenrechtsverletzungen zu unterbinden.3 Die Diskussion um die Zulässigkeit derartiger humanitärer Interventionen ist insbesondere durch die von der NATO gegen
die Bundesrepublik Jugoslawien gerichtete Operation „Allied Force“ neu entfacht
1 Vgl. nur Bothe, in: Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 4. Aufl. (2007), S. 637 (642).
2 Vgl. hierzu unten S. 22 ff.
3 Vgl. Fischer, in: Ipsen, Völkerrecht, 5. Aufl. (2004), S. 1083.
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worden. Bis heute ist ungeklärt, ob ein ius ad bellum aus humanitären Gründen
anzuerkennen ist.4
Für die Zwecke der vorliegenden Arbeit soll der Begriff der humanitären Besatzung ebenfalls Operationen mit humanitärer Zielsetzung beschreiben.5 Im Gegensatz
zur humanitären Intervention geht es hier jedoch um friedenssicherndes Engagement
in der Nachkonfliktphase. Der Begriff „Besatzung“ ist dabei nicht im technischen
Sinne, sondern weit zu verstehen. Er beschreibt jegliche Form von Herrschaftsaus-
übung in einem anderen Staat unter Vornahme transformativer Maßnahmen. Das
Attribut „humanitär“ bringt zum Ausdruck, dass diese Besatzungen darauf gerichtet
sind, die Menschenrechte zu sichern und den Frieden zu konsolidieren.
Humanitäre Besatzungen erfolgen typischerweise in mehreren Phasen. In einem
ersten Schritt wird ein Verwaltungsapparat errichtet, der es dem externen Akteur
erlaubt, Einfluss auf das Geschehen im betreffenden Staat zu nehmen. Hieran anschließend folgt der operative Teil, in dem der externe Akteur auf die Strukturen im
jeweiligen Staat einwirkt: Es werden Vorgaben für das politische System oder die
künftige Wirtschaftsordnung gemacht; Justiz und Verwaltung erfahren weitreichende Reformen. In einem letzten Schritt findet der kontrollierte Rückzug des externen
Akteurs statt.
Zwischen der humanitären Besatzung und der gewaltsamen humanitären Intervention bestehen bedeutsame Unterschiede. Anders als bei der gewaltsamen humanitären Intervention geht es hier nicht primär darum, Verletzungen der Menschenrechte in ihrer negativen Dimension zu unterbinden. Vielmehr stehen überwiegend
völkerrechtliche Strukturvorgaben, die zu einem Tun herausfordern, zur Debatte.
Überdies zielen gewaltsame humanitäre Interventionen darauf ab, gegenwärtige
Menschenrechtsverletzungen zu unterbinden. Der Fokus humanitärer Besatzungen
richtet sich demgegenüber auf die nachhaltige Sicherung völkerrechtlicher Vorgaben
in Zukunft.6
II. Das ius post bellum
Auch hinter dem Begriff „ius post bellum“ verbirgt sich kein völkerrechtlich klar
umrissenes Konzept. Abstrakt betrachtet umschreibt das ius post bellum das rechtliche Regime der Nachkonfliktphase. Dieses wird insbesondere durch die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht geprägt.
Inhaltlich bietet das ius post bellum einen völkerrechtlichen Rahmen für die Herausforderungen, die sich im Anschluss an einen Konflikt für die betreffenden Akteure stellen. Es strebt die Herausbildung einer andauernden, friedlichen Ordnung an.
4 Zur humanitären Intervention vgl. nur Zygojannis, Die Staatengemeinschaft und das Kosovo,
2003, S. 17 ff., sowie Wellhausen, Humanitäre Intervention, 2002, S. 25 ff.
5 Inzwischen wird dieser Begriff auch in der jüngst erschienen Monographie von Fox, Humanitarian Occupation, 2008, S. 4, in ähnlicher Weise verwendet.
6 Vgl. Reisman, Am. J. Int´l L. 98 (2004), 516 (517).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Für den Zeitraum nach der Beendigung bewaffneter Konflikte existieren bislang nur wenige völkerrechtliche Regeln. Zu den ungelösten Problemen des ius post bellum gehört die Frage, ob externe Akteure zum Wohle der Bevölkerung regimeändernde Maßnahmen in Post-Konflikt-Staaten ergreifen dürfen.
Im vorliegenden Band wird untersucht, inwieweit die Konstitutionalisierung des Völkerrechts zur Herausbildung von Vorgaben für die Organisation von Staaten geführt hat. Am Beispiel der jüngsten Transformationsprozesse im Irak und im Kosovo werden die Kompetenzen einzelner Staaten und der Vereinten Nationen zur zwangsweisen Implementierung dieser Vorgaben einer kritischen Analyse unterzogen.