129
Hinzu kommt, dass dort, wo das Bundesverfassungsgericht sich logischnotwendig Gedanken zur demokratischen Legitimation der gemeinsamen Selbstverwaltung machen musste, kaum eine Regelungserstreckung gerade auf die Versicherten zur Debatte stand. Eine Ausnahme verkörpert indes das Festbetrags-Urteil
des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Dezember 2002. Dort hat
der Senat konstatiert, bei der Vielzahl der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung, die das für sie einheitlich geltende SGB V für ihre jeweiligen Versicherten
umzusetzen hätten, bedürfe es gemeinsamer Entscheidungsträger, damit die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung über die Kassen- und Landesgrenzen hinaus gewahrt
werden könne; soweit der ärztliche Sachverstand für derartige Entscheidungen von
besonderer Bedeutung sei, seien Aufgaben der Rechtsanwendungsvereinheitlichung
auch den Bundesausschüssen übertragen worden585. Da sich Festbeträge über § 35
SGB V unmittelbar gestaltend auf die Leistungsansprüche der Versicherten auswirken, hat der Senat richtigerweise auch Grundrechte der Versicherten in seine Prüfung integriert586. Jedoch wird der Bundesausschuss im Rahmen der Festsetzung von
Festbeträgen nur vorentscheidend tätig587, was wiederum eine signifikante Abweichung zur hier gegebenen Problemlage bedeutet.
2. Zum legitimatorischen Einfluss von § 91 Abs. 9 SGB V
§ 91 Abs. 9 SGB V (in der Fassung des GKV-Modernisierungsgesetzes vom
14. November 2003588) ordnet mit Wirkung ab 1. Januar 2004 an, dass die Beschlüsse des Bundesausschusses über neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden
auch für die Versicherten unmittelbar verbindlich sind589. Bis dato beruhte die Annahme der unmittelbaren Wirkung auch für die Versicherten auf den "September-
Urteilen" des Bundessozialgerichts. Auch wenn sich aus der Begründung zum Fraktionsentwurf des GKV-Modernisierungsgesetzes nicht entnehmen lässt, ob diese
Rechtsänderung konstitutive oder nur deklaratorische Funktion haben sollte, so
drängt sich doch der Schluss auf, dass der Gesetzgeber in der Verbindlichkeit auch
Normsetzung durch Mehrheitsbeschluss anordne. Von daher führt es nicht weiter, dass das
Bundessozialgericht in der gleichen Entscheidung feststellt, das Bundesverfassungsgericht
habe bisher in keiner der zahlreichen Entscheidungen, die sich mit der Anwendung vereinbarter Normen des Vertragsarztrechts befassen würden, Zweifel an der Zulässigkeit vertraglicher
Rechtsetzung auch nur angedeutet (BSG Breith. 2005, S. 817 <840>); vgl. auch Sodan, Normsetzungsverträge im Sozialversicherungsrecht, NZS 1998, S. 305 <306>; Wimmer, Grenzen
der Regelungsbefugnis in der vertragsärztlichen Selbstverwaltung, NZS 1999, S. 113 <119>;
für weniger relevant hält diesen Unterschied Hänlein, Rechtsquellen, S. 469 f..
585 BVerfGE 106, 275 <305 f.>
586 BVerfGE 106, 275 <304 f.>
587 Vgl. BVerfGE 106, 275 <305>
588 BGBl I S. 2190
589 Vgl. die Kritik an dieser Regelung von Schimmelpfeng-Schütte, Die Entscheidungsbefugnisse
des Gemeinsamen Bundesausschusses, NZS 2006, S. 567
130
für die Versicherten kein legitimatorisch-verfassungsrechtliches Problem (mehr)
sieht.
Dieser Befund entbindet jedoch nicht per se von der Notwendigkeit einer demokratischen Legitimation des Bundesausschusses. Sähe man das anders, würde man
das Verfassungsrecht zur Disposition des „einfachen“ Gesetzgebers stellen. Das
Gebot demokratischer Legitimation aller Ausübung von Staatsgewalt besitzt Verfassungsrang. Verfassungsrechtliche Vorgaben vermag der „einfache“ Gesetzgeber
aber grundsätzlich nicht zu modifizieren (vgl. Art. 79 Abs. 1 GG); denn es gibt keine Verfassungsänderung ohne Verfassungstextänderung590. Materiell-rechtliche
Modifikationen durch den einfachen Gesetzgeber erscheinen nur dann unbedenklich,
wenn diese im Verfassungsrecht selbst angelegt sind, so dass es allenfalls zu einer
Konkretisierung oder Supplementierung des Verfassungsrechts kommt, nicht aber
zu einer inhaltlichen Änderung. An einem entsprechenden verfassungsrechtlichen
Titel fehlt es hier aber. Daraus folgt somit, dass § 91 Abs. 9 SGB V keinesfalls die
Wirkung haben kann, das Gebot demokratischer Legitimation für den Bundesausschuss auch nur partiell zu suspendieren.
Wählt man als argumentativen Ausgangspunkt, dass der Deutsche Bundestag in
idealtypischer, weil unmittelbarer Weise über eine demokratische Legitimation verfügt, mag man zu der Überlegung gelangen, mit der Anordnung in § 91 Abs. 9
SGB V sei dem Gebot demokratischer Legitimation Genüge getan. Denn der Gesetzgeber könnte dadurch die Beschlüsse des Bundesausschusses in gewisser Weise
rezipiert haben. Zwar wird wohl niemand behaupten wollen, § 91 Abs. 9 SGB V
würde die Beschlüsse auf die Ebene des formellen Gesetzes heben. Immerhin aber
wäre es nicht so abwegig zu folgern, der Deutsche Bundestag habe die Entscheidungstätigkeit des Bundesausschusses in seinen Willen aufgenommen worden oder
wenigstens in allgemeiner Form gebilligt. Daraus wiederum mag mancher einen
Legitimationsschub ableiten. Einer solchen Haltung könnte aber nicht gefolgt werden. Sie befände sich in großer Nähe zu Kluths Modell der kollektiven personellen
Legitimation; denn hier wie dort würde aus einer punktuellen, zugegebenermaßen
positiven Willensäußerung des Parlaments - auf der einen Seite der Gründungsakt,
auf der anderen Seite die Anordnung der unmittelbaren Wirkung der Beschlüsse eine Art Blankoermächtigung für den Bundesausschuss abgeleitet591. Demokratische
Legitimation bedarf aber der ständigen Aktualisierung, Konkretisierung und Individualisierung. Die konkrete Ausübung von Staatsgewalt bedarf eines permanenten
Zurechnungszusammenhangs zum Legitimationssubjekt. Demokratische Legitimation weist zwar auch eine institutionelle Komponente auf, was Kluth in den Vordergrund rückt. Institutionelle Legitimität vermag aber keine fortwirkende Unbedenklichkeitsbescheinigung zu verleihen. Demokratische Legitimation bezieht sich vielmehr unverzichtbar auch - und zwar in erster Linie - auf die permanente Funktionalität einer Staatsgewalt ausübenden Einrichtung. Festzuhalten bleibt somit, dass
590 Hain in: von Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Art. 79 Abs. 1 RdNr. 6
m.w.N.
591 Wobei Kluth zugegebenermaßen nur die personelle Anbindung substituiert.
131
§ 91 Abs. 9 SGB V das Problem der demokratischen Legitimation des Bundesausschusses keineswegs erledigt hat. Die optimale demokratische Legitimation des
Deutschen Bundestages vermag nicht, den Bundesausschuss so weit zu durchdringen, dass seine Funktionalität davon erfasst würde; das würde den Zurechnungszusammenhang zum Staatsvolk zu sehr auflösen und dem Bundesausschuss unangemessene Eigendynamik zubilligen. Die Funktionalität des Bundesausschusses bedarf
vielmehr einer „eigenen“ demokratischen Legitimation592.
3. Zur Frage einer personellen demokratischen Legitimation des Bundesausschusses
Die Mitglieder des Bundesausschusses haben ihr Amt nicht im Wege einer Wahl
durch das Volk oder das Parlament oder durch einen seinerseits legitimierten Amtsträger oder mit dessen Zustimmung erhalten593. Das zeigt die folgende Darstellung594: Der Bundesausschuss ist regelmäßig mit 21 Mitgliedern besetzt. Neun Vertretern der Ärzte stehen neun Kassenvertreter gegenüber. Hinzu kommen zwei weitere unparteiische Mitglieder und ein unparteiischer Vorsitzender595. Die betroffenen
Ärzte wählen ihre Vertreter in die Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung (§ 80 Abs. 1 Satz 1 SGB V), die ihrerseits Vertreter in die Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung wählt (§ 80 Abs. 1 Satz 3
SGB V) und diese wiederum nach Maßgabe ihrer Satzung ihre Vertreter in den
Bundesausschuss596. In der Regel sind es die Mitglieder des Vorstandes, die in den
Ausschuss entsandt werden597. Die Versicherten wählen im Rahmen der Sozialversi-
592 Richtig ist daher, wenn Schimmelpfeng-Schütte in einem aktuellen Beitrag, der das neue Recht
zugrunde legt (Die Entscheidungsbefugnisse des Gemeinsamen Bundesausschusses, NZS
2006, S. 567 ff.), die demokratische Legitimation des Bundesausschusses unvermindert problematisiert (ebenso dies. in: Schnapp/Wigge, Handbuch des Vertragsarztrechts, § 7 RdNr. 50).
593 Vgl. BVerfGE 107, 59 <88>; vgl. dazu auch BVerfGE 83, 130 <149> (Entscheidung zur
Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften), wo das Bundesverfassungsgericht die personelle demokratische Legitimation angenommen hat, weil die weiteren Beisitzer durch den
Minister als Mitglied einer dem Parlament verantwortlichen Regierung ernannt werden.
Dadurch unterscheidet sich der Bundesausschuss gravierend von der Bundesprüfstelle nach
dem Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften; vgl. BVerfG NJW 1991,
S. 1471 <1474>: Die Beisitzer aus den in § 9 Abs. 2 GjS genannten Bereichen handelten bei
ihrer Tätigkeit nicht als Private, sondern als Träger eines Amtes, das ihnen mit der Ernennung
durch den Bundesminister übertragen worden sei. Die Ernennung durch den Minister als Mitglied einer dem Parlament verantwortlichen Regierung vermittle ihnen zugleich die demokratische Legitimation.
594 Vgl. Hebeler, Verfassungsrechtliche Probleme „besonderer“ Rechtssetzungsformen funktionaler Selbstverwaltung, DÖV 2002, S. 936 <941>; Seeringer, Gemeinsamer Bundesausschuss, S. 33 ff.
595 Hänlein, Rechtsquellen, S. 460
596 Vgl. BSGE 82, 41 <47>
597 Hänlein, Rechtsquellen, S. 460: Oldiges, Kurfürst, König, Kaiser gar?, Gesundheit und Gesellschaft 11/1998, S. 28 <31>
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Der Gemeinsame Bundesausschuss gestaltet wesentlich den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung. Seine demokratische Legitimation wurde in der Vergangenheit intensiv und kontrovers diskutiert.
Der Autor hat die aktuelle Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur demokratischen Legitimation eingehend ausgewertet und daraus ein neues, praxisgerechtes Legitimationsmodell für den Gemeinsamen Bundesausschuss nach dem SGB V entwickelt. Die bei dieser Betrachtung berücksichtigten, zahlreichen rechtlichen Parameter sind differenziert, objektivierbar und generalisierbar herausgearbeitet. Nicht zuletzt deshalb erweist sich die Arbeit auch für andere Verwaltungsformen außerhalb der klassischen, ministerial gesteuerten Verwaltung als aufschlussreich. Für diese „unkonventionellen“ Verwaltungstypen darf an der in ununterbrochenen Legitimationsketten verhafteten Dogmatik nicht mehr festgehalten werden. Die flexiblen verfassungsrechtlichen Vorgaben lassen es vielmehr zu, pragmatische Erwägungen in angemessener Weise zu berücksichtigen, wobei der Autor auf seine Erfahrungen als Sozialrichter zurückgreifen konnte.