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und Weise der Zurechnung von Staatsgewalt zum Volk, sondern fordert diese ein.
Dem muss das bundesdeutsche Staats- und Verwaltungsorganisationsrecht Rechnung tragen. Denn es stellt - auch das ergibt sich bereits aus den obigen Ausführungen - vorwiegend ein organisations- und verfahrensrechtliches Problem dar, für den
notwendigen Zurechnungszusammenhang zu sorgen159.
Ganz ähnlich wie die staatsrechtliche Literatur beurteilt das Bundesverfassungsgericht den grundgesetzlich vorgegebenen Zurechnungszusammenhang zwischen
Volk und staatlichen Organen. Nach seiner Rechtsprechung fordert das in Art. 20
Abs. 2 GG verankerte demokratische Prinzip, dass alle Staatsgewalt vom Volke
ausgeht und von diesem in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe
der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt
wird; diese bedürfen hierfür einer Legitimation, die sich auf die Gesamtheit der
Bürger als Staatsvolk zurückführen lässt160.
II. Konkretisierung des Zurechnungszusammenhangs zwischen dem Volkswillen und
der Ausübung von Staatsgewalt
Wie eng, dicht oder unmittelbar aber muss der oben beschriebene Zurechnungszusammenhang sein? Wer darauf eine Antwort zu finden hofft, sucht in Art. 20 Abs. 2
GG vergebens161. Die Art des Legitimationsstrangs wird von Art. 20 GG nicht vorgegeben162.
1. Konkretisierung des Gebots demokratischer Legitimation durch das
Bundesverfassungsgericht
Die verfassungsrechtlich notwendige demokratische Legitimation erfordert eine
ununterbrochene Legitimationskette vom Volk zu den mit staatlichen Aufgaben
betrauten Organen und Amtswaltern163. Es darf als gesichert gelten, dass dieser Legitimationszusammenhang durch das Zusammenwirken verschiedener Komponenten kreiert wird. Das Erfordernis demokratischer Legitimation berührt vielfältige
Facetten staatlicher Aufgabenwahrnehmung: Dadurch wird einerseits die Tatsache,
dass eine bestimmte Person ein Amt wahrnimmt, normativ infiltriert, andererseits
159 Vgl. Engelbert, Konfliktmittlung und Demokratieprinzip, S. 91; Wahl, Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht, S. 403, unterstreicht, das Demokratieprinzip stelle sich als formales
Verfassungsprinzip dar.
160 BVerfGE 107, 59 <86 f.> m.w.N. zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
161 Vgl. Plantholz, Funktionelle Selbstverwaltung, S. 95
162 Cremer, Das Demokratieprinzip auf nationaler und europäischer Ebene, EuR 1995, S. 21
<23>
163 Vgl. BVerfGE 47, 253 <275>; 52, 95 <130>; 83, 60 <72 f.>; 93, 37 <66>; 107, 59 <87>; vgl.
auch Papenfuß, Autonomie, S. 148
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auch die Art und Weise, wie sie dieses im Rahmen des Rechts wahrnimmt164. Für
die Beurteilung, ob ein hinreichender Gehalt an demokratischer Legitimation erreicht wird, haben die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und in
der Literatur unterschiedenen Formen der institutionellen, funktionellen165, sachlichinhaltlichen166 und der personellen167 Legitimation nicht je für sich Bedeutung, sondern nur in ihrem Zusammenwirken. Der notwendige Zurechnungszusammenhang
zwischen Staatsvolk und Ausübung von Staatsgewalt lässt sich auf verschiedene
Weise, nicht nur in einer bestimmten Form, herstellen168. Aus verfassungsrechtlicher
Sicht entscheidend ist nicht die Form der demokratischen Legitimation, sondern
deren Effektivität; notwendig ist ein bestimmtes Legitimationsniveau169. Die Aus-
übung von Staatsgewalt ist dann demokratisch legitimiert, wenn sich die Bestellung
164 Vgl. Oebbecke, Weisungsfreie Räume, S. 76
165 Vgl. dazu Kessler-Jensch, Die Richtlinien im SGB XI, S. 156; Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 168 ff.; Böckenförde/Grawert, Sonderverordnungen zur Regelung besonderer Gewaltverhältnisse, AöR 95 (1970), S. 1 <26 f.>; von Arnim, Gemeindliche
Selbstverwaltung und Demokratie, AöR 113 (1988), S. 1 <6>; Boerner, Normenverträge im
Gesundheitswesen, S. 204; Waechter, Geminderte demokratische Legitimation, S. 33 f.; Wahl,
Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht, S. 402; Seeringer, Gemeinsamer Bundesausschuss, S. 164
166 Vgl. Hänlein, Rechtsquellen, S. 27; Jestaedt, Kondominialverwaltung, S. 270; Castendiek,
Normsetzungsvertrag, S. 95 f.; Waechter, Geminderte demokratische Legitimation, S. 35 f.;
Unruh, Demokratie und "Mitbestimmung" in der funktionalen Selbstverwaltung - am Beispiel
der Emschergenossenschaft, VerwArch 92 (2001), S. 531 <536>; Wahl, Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht, S. 401 f.; Ehlers, Staatsgewalt in Ketten, S. 125 <127>; Neumann,
Normenvertrag, Rechtsverordnung oder Allgemeinverbindlicherklärung, S. 26; Seeringer,
Gemeinsamer Bundesausschuss, S. 166; von Arnim, Gemeindliche Selbstverwaltung und Demokratie, AöR 113 (1988), S. 1 <7>; Butzer/Kaltenborn, Demokratische Legitimation, S. 333
<340>; Boerner, Normenverträge im Gesundheitswesen, S. 204
167 Vgl. Hänlein, Rechtsquellen, S. 26 f.; Jestaedt, Kondominialverwaltung, S. 267; Castendiek,
Normsetzungsvertrag, S. 94; Wahl, Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht, S. 402 f.;
Waechter, Geminderte demokratische Legitimation, S. 34 f.; Ehlers, Staatsgewalt in Ketten,
S. 125 <127>; Neumann, Normenvertrag, Rechtsverordnung oder Allgemeinverbindlicherklärung, S. 26 f.; von Arnim, Gemeindliche Selbstverwaltung und Demokratie, AöR 113 (1988),
S. 1 <6 f.>. Die Berufung der Amtswalter muss individuell erfolgen (vgl. Papenfuß, Autonomie, S. 148); eine „generelle“ Berufung, etwa im Wege der Thron- oder Nachfolgeordnung,
ist unzulässig (vgl. Böckenförde, Richterwahl, S. 74; Jestaedt, Kondominialverwaltung,
S. 269).
168 BVerfGE 89, 155 <182>
169 Vgl. BVerfGE 83, 60 <72>; 89, 155 <182>; 93, 37 <66 f.>; 107, 59 <87>; vgl. Castendiek,
Normsetzungsvertrag, S. 98; Butzer/Kaltenborn, Demokratische Legitimation, S. 333 <342>,
bezeichnen das (materielle) Legitimationsniveau als „Legitimationsergebnis“.
Zum Verhältnis von personeller und sachlich-inhaltlicher demokratischer Legitimation vgl.
Böckenförde, Richterwahl, S. 79 f.; Boerner, Normenverträge im Gesundheitswesen, S. 204,
207; Bieback, Mitwirkung, S. 44 f.; Jestaedt, Kondominialverwaltung, S. 284, 286; Hänlein,
Rechtsquellen, S. 27, 62; Castendiek, Normsetzungsvertrag, S. 96 ff.; Axer, Normsetzung,
S. 295; Seeringer, Gemeinsamer Bundesausschuss, S. 166 f.; Emde, Funktionale Selbstverwaltung, S. 46; Windels-Pietzsch, Friedenswahlen in der Sozialversicherung, VSSR 2003,
S. 215 <223>; Butzer/Kaltenborn, Demokratische Legitimation, S. 333 <342>; Schäfer, Mitbestimmung in kommunalen Eigengesellschaften, S. 46.
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der Amtsträger - personelle Legitimation vermittelnd - auf das Staatsvolk zurückführen lässt170 und das Handeln der Amtsträger selbst eine ausreichende sachlichinhaltliche Legitimation erfährt, d.h. die Amtsträger im Auftrag und nach Weisung
der Regierung handeln und die Regierung damit in die Lage versetzen, die Sachverantwortung gegenüber Volk und Parlament zu übernehmen171. Trotz der Kritik, die
an dieser Konstruktion der ununterbrochenen172 Legitimationskette geäußert wurde173, hat das Bundesverfassungsgericht bis heute an seiner Rechtsprechung - zumindest vom Grundsatz her - festgehalten174.
2. Legitimationsobjekt: Die Ausübung von Staatsgewalt
Das Prinzip der demokratischen Legitimation der Staatsgewalt175 erstreckt sich nicht
nur auf bestimmte, sondern auf alle Arten der Ausübung von Staatsgewalt176. Ihm
unterliegt jede staatliche Betätigung, die rechtserhebliche Folgen zeitigt177. Auch
staatliche Verwaltungstätigkeit - die sich unbestrittenermaßen nicht im bloßen Gesetzesvollzug erschöpft178 - bedarf damit einer demokratischen Legitimation. Als
170 Papenfuß, Autonomie, S. 148
171 Vgl. BVerfGE 93, 37 <67 f.>; 107, 59 <87 f.>; Böckenförde, Richterwahl, S. 73, verlangt in
diesem Zusammenhang eine ununterbrochene demokratische Legitimationskette für die mit
der Ausübung staatlicher Befugnisse betrauten Amtswalter.
172 Böckenförde, Richterwahl, S. 74, sieht in der Ununterbrochenheit eine wichtige Voraussetzung für demokratische Legitimation; es dürfe kein Dazwischentreten eines nicht oder nicht
hinreichend legitimierten Organs geben.
173 So z.B. Bryde, Bundesrepublikanische Volksdemokratie, S. 305 <315>
174 Vgl. dazu Böckenförde, Richterwahl, S. 74: Die demokratische Legitimationskette brauche
nicht unmittelbar auf das Volk zurückführen; mittelbare wie unmittelbare Berufung durch das
Volk seien gleichermaßen zulässig, wenngleich die unmittelbare Berufung eine höhere demokratische Dignität und damit Legitimation zu weit tragenden politischen Entscheidungen im
Namen des Volkes begründe. In die gleiche Richtung Oebbecke, Weisungsfreie Räume, S. 91.
175 Oebbecke, Weisungsfreie Räume, S. 78, weist darauf hin, dass das Grundgesetz den Begriff
der Staatsgewalt nur in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG verwendet; vgl. Schnapp, Friedenswahlen,
S. 807 <812>; Jestaedt, Kondominialverwaltung, S. 225 ff.; Kluth, Verfassungsrechtlicher
Status, S. 355.
176 Böckenförde, Richterwahl, S. 71; ders. in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts,
Band I, § 24 RdNr. 14; Neumann, Normenvertrag, Rechtsverordnung oder Allgemeinverbindlicherklärung, S. 25; Oebbecke, Weisungsfreie Räume, S. 79; Menzel, Partizipation Privater,
S. 22 f.; Britz, Mitwirkung Privater, S. 418 <428>
177 Kessler-Jensch, Die Richtlinien im SGB XI, S. 155; Böckenförde in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band I, § 24 RdNr. 12 f.; Emde, Funktionale Selbstverwaltung,
S. 214 f.
178 Vgl. Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 189; es dürfte aber etwas zu
gewagt sein, Aufgaben, die sich im bloßen Gesetzesvollzug erschöpfen, prinzipiell vom Legitimationserfordernis auszuklammern (so möglicherweise Brohm, Strukturen der Wirtschaftsverwaltung, S. 247); in gleicher Weise äußert sich E. Klein (Ministerialfreier Raum, S. 148),
wonach die demokratische Legitimation nur dort von Belang sei, wo Gestaltungsfreiheit bestehe. Auf die überzeugenden Ausführungen Oebbeckes (Weisungsfreie Räume, S. 80 f.) darf
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References
Zusammenfassung
Der Gemeinsame Bundesausschuss gestaltet wesentlich den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung. Seine demokratische Legitimation wurde in der Vergangenheit intensiv und kontrovers diskutiert.
Der Autor hat die aktuelle Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur demokratischen Legitimation eingehend ausgewertet und daraus ein neues, praxisgerechtes Legitimationsmodell für den Gemeinsamen Bundesausschuss nach dem SGB V entwickelt. Die bei dieser Betrachtung berücksichtigten, zahlreichen rechtlichen Parameter sind differenziert, objektivierbar und generalisierbar herausgearbeitet. Nicht zuletzt deshalb erweist sich die Arbeit auch für andere Verwaltungsformen außerhalb der klassischen, ministerial gesteuerten Verwaltung als aufschlussreich. Für diese „unkonventionellen“ Verwaltungstypen darf an der in ununterbrochenen Legitimationsketten verhafteten Dogmatik nicht mehr festgehalten werden. Die flexiblen verfassungsrechtlichen Vorgaben lassen es vielmehr zu, pragmatische Erwägungen in angemessener Weise zu berücksichtigen, wobei der Autor auf seine Erfahrungen als Sozialrichter zurückgreifen konnte.