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Kriterien bedarf63. In einer späteren Entscheidung allerdings hat das Bundessozialgericht - durchaus im Sinn von Handhabbarkeit und Praxisgerechtigkeit - eine stärkere Orientierung am EBM proklamiert64.
II. Adressierung der Regelungen über neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden auch an die Versicherten
Die besondere Brisanz, die die Richtlinien des Bundesausschusses bezüglich des
Erfordernisses der demokratischen Legitimation von Staatsgewalt in sich tragen, ist
erst durch die Erstreckung der unmittelbaren Regelungswirkung von Richtlinien
auch auf die Versicherten entstanden. Das Bundessozialgericht nimmt seit dem so
genannten Methadon-Urteil65 in mittlerweile ständiger Rechtsprechung an, die
Richtlinien würden unmittelbare Rechtswirkung auch im Verhältnis zu den Versicherten entfalten. In den September-Urteilen wird davon ausgegangen, das gelte
auch für § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V in Verbindung mit den NUB-/BUB-
Richtlinien66. Für das ab dem 1. Januar 2004 geltende Recht erübrigt es sich zu fragen, woraus dies denn hergeleitet werden könnte. Denn § 91 Abs. 9 SGB V in der
seitdem geltenden Fassung ordnet die Verbindlichkeit der Beschlüsse des Bundesausschusses auch für die Versicherten ausdrücklich an. Klärungsbedarf besteht jedoch für die Zeit davor. Die folgenden Ausführungen beziehen sich somit nur auf
die Rechtslage bis einschließlich 31. Dezember 2003.
Ob die Annahme einer unmittelbaren Wirkung auch für und gegen die Versicherten gemessen am „einfachen“ Gesetzesrecht zulässig erscheint, ist von weichenstellender Bedeutung für die weitere Prüfung. Denn die verfassungsrechtliche Beurteilung der Entscheidungen des Bundesausschusses über neue Untersuchungs- oder
Behandlungsmethoden hängt ganz wesentlich davon ab, welcher Personenkreis unmittelbar regelungsunterworfen ist. Aus dem Demokratieprinzip folgen ganz unterschiedliche Vorgaben für die Richtliniengebung je nach dem, ob ihnen auch im Verhältnis zu Versicherten unmittelbare Regelungswirkung zukommt oder nur im Verhältnis zu den Vertragsärzten. Die spezielle verfassungsrechtliche - auf die
demokratische Legitimation bezogene - Problematik, die mit einer unmittelbaren
Wirkung im Verhältnis zu den Versicherten verbunden wäre, würde sich von vornherein nicht stellen, wenn sich ergäbe, dass die vom Bundessozialgericht angenom-
63 Ebda.; BSGE 81, 73 <76>
64 BSG SozR 3-2500 § 13 SGB V, S. 80
65 BSGE 78, 70
66 BSGE 81, 54 <59 ff.>; 81, 73 <76 ff.>; a.A. Ossenbühl, Richtlinien im Vertragsarztrecht,
NZS 1997, S. 497 <499>: Ossenbühl geht zwar ebenso wie das Bundessozialgericht von einer
"Symmetrie" zwischen Vertragsarztrecht und Leistungsrecht aus; die Verpflichtungen von
Arzt und Krankenkasse müssten sich mit dem Leistungsanspruch des Versicherten inhaltlich
und umfangmäßig decken. Diese sachnotwendige Wechselbezüglichkeit mache aber nicht eine Verbindlichkeitsanordnung von Richtlinien überflüssig. Diese Auffassung betrifft aber lediglich die Richtlinien des Bundesausschusses, nicht auch § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V.
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mene Einbeziehung der Versicherten mangels entsprechender Adressierung des einschlägigen Rechts nicht möglich wäre. Dann bliebe im Verhältnis zu den Versicherten nur eine wie auch immer geartete mittelbare Wirkung. Das wiederum würde sich
gravierend auf die anzulegenden verfassungsrechtlichen Maßstäbe und Anforderungen auswirken. Sollte sich also herauskristallisieren, dass eine unmittelbare Wirkung
bereits aufgrund einfachen Rechts keinesfalls in Betracht kommt, so hätte es damit
sein Bewenden.
1. Zur Maßgeblichkeit von § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V
Die Prüfung, ob die regelnde Tätigkeit des Bundesausschusses unmittelbar für und
gegen die Versicherten wirken kann, muss zwangsläufig an § 135 Abs. 1 Satz 1
SGB V ansetzen. Diese Norm statuiert das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt, das letzten Endes durch die Entscheidungen des Bundesausschusses ausgefüllt wird67. Eine
unmittelbare Wirkung dieser Entscheidungen wäre ohne weiteres zu bejahen, wenn
gerade dieses Verbot mit Erlaubnisvorbehalt unmittelbar für die Leistungsansprüche
der Versicherten gelten würde68. Käme man tatsächlich zum Ergebnis, § 135 Abs. 1
Satz 1 SGB V würde unmittelbar auch für die Versicherten wirken, so wäre damit
noch nicht hinreichend geklärt, wie die funktionale Einheit zwischen Leistungs- und
Leistungserbringungsrecht en detail funktioniert. Denn erläuterungsbedürftig ist, wie
das Leistungsrecht auf diesen „Übergriff“ aus dem Leistungserbringungsrecht reagiert, also ob und auf welche Weise § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V mit seiner Wirkung
auch für die Versicherten mit den gesetzlichen Vorgaben des Leistungsrechts synchronisiert und harmonisiert werden kann. Dass es hierzu einiger Überlegungen
bedarf, ergibt sich allein daraus, dass das gesetzliche Leistungsrecht bei streng formaler Betrachtung den Eindruck erweckt, (gegenüber Regelungen des Leistungserbringungsrechts) abschließend sein zu wollen; immerhin existiert - wohlgemerkt
im bis zum 31. Dezember 2003 geltenden Recht - kein expliziter genereller Vorbehalt, wonach das Leistungsrecht durch das Leistungserbringungsrecht ausgestaltet
oder gar modifiziert werden kann69.
67 So zutreffend Steck, "Strittige" Behandlungsmethoden, S. 144, 147
68 Unzulässig wäre aber das argumentum e contrario: Käme man zum Schluss, § 135 Abs. 1
Satz 1 SGB V würde ausschließlich unmittelbar für die Leistungserbringer gelten, stünde damit noch nicht automatisch fest, dass dies auch für die Entscheidungen des Bundesausschusses gilt.
69 Vgl. dazu Hinz, Verfassungsrecht und Leistungsrecht in der gesetzlichen Krankenversicherung, ZfS 2006, S. 141 <145>
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2. Die § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V beigelegte Geltungsanordnung
Fragt man nach der Adressierung der Regelungen zu neuen Untersuchungs- und
Behandlungsmethoden, geht es darum, ob den Regelungen eine Geltungsanordnung
inhärent ist, die die Versicherten einbezieht. Es liegt also das typische Problem der
Abgrenzung des Innen- vom Außenrecht vor. Die klassische Außenrechtsnorm ist
nach ihrem materiellen Regelungsgehalt darauf gerichtet, Rechte und Pflichten selbständiger Rechtspersönlichkeiten zu gestalten; sie wird üblicherweise durch die Kriterien Regelungsgegenstand, Regelungsdauer, aber auch - und darauf kommt es hier
an - Regelungsadressaten charakterisiert70.
Die Geltungsanordnung - das gilt es festzuhalten - gehört zum Regelungsgehalt
einer Norm genauso wie die inhaltliche Regelung selbst. Sie muss infolge dessen
anhand der konkret zu untersuchenden Rechtsnormen ermittelt werden. Die rechtliche Prüfung darf insoweit nicht an den NUB-/BUB-Richtlinien ansetzen. Die Adressierung des Reglements ist vielmehr in § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V festgelegt. Das
erhellt der Bedeutungsgehalt dieser Vorschrift: Sie legt - darin ist dem Bundessozialgericht uneingeschränkt beizupflichten - ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt fest.
Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden dürfen nur dann zu Lasten der
gesetzlichen Krankenversicherung erbracht und abgerechnet werden, wenn der Bundesausschuss in den NUB-/BUB-Richtlinien "Empfehlungen" abgegeben hat, was so
viel bedeutet wie eine Zulassung erteilt hat. Die Festlegungen in den NUB-/BUB-
Richtlinien selbst nehmen nur eine ausfüllende Funktion wahr. § 135 Abs. 1 Satz 1
SGB V wird lediglich vollzogen, indem für jede einzelne Methode eine Konkretisierung anhand der (wenn auch weit gesteckten) gesetzlichen Vorgaben erfolgt. Die
eigentliche abstrakt-generelle Regelung aber findet sich in § 135 Abs. 1 Satz 1
SGB V selbst: Die Methode, die nicht vom Bundesausschuss anerkannt ist, darf
nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung erbracht werden. Diese
Rechtsfolge ist bereits im Gesetz fixiert. Insoweit ähnelt die rechtliche Konstellation
frappierend den ordnungsrechtlichen Verboten mit Erlaubnisvorbehalt. Wenn aber
bereits § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V den eigentlichen Regelungsausspruch "vorwegnimmt", muss die Adressierung der Regelungen zu neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden aus dieser Norm deduziert werden71.
Große indizielle Bedeutung kommt dabei naturgemäß der systematischen Einbettung, dem "Standort" der Norm zu: § 135 Abs. 1 Satz 1 befindet sich im Vierten
Kapitel des SGB V, das überschrieben ist mit "Beziehungen der Krankenkassen zu
den Leistungserbringern". Das mag zunächst zu dem Schluss verleiten, die Regelung
richte sich ausschließlich an die Vertragsärzte. Für diese ist ein abstrakt-generelles
Verbot normiert, neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden zu Lasten der
gesetzlichen Krankenversicherung zu erbringen, so lange nicht eine Anerkennung
durch den Bundesausschuss vorliegt.
70 Hill, Rechtsdogmatische Probleme der Gesetzgebung, Jura 1986, S. 286 <287>
71 Vgl. Steck, "Strittige" Behandlungsmethoden, S. 144, 147
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Der Gemeinsame Bundesausschuss gestaltet wesentlich den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung. Seine demokratische Legitimation wurde in der Vergangenheit intensiv und kontrovers diskutiert.
Der Autor hat die aktuelle Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur demokratischen Legitimation eingehend ausgewertet und daraus ein neues, praxisgerechtes Legitimationsmodell für den Gemeinsamen Bundesausschuss nach dem SGB V entwickelt. Die bei dieser Betrachtung berücksichtigten, zahlreichen rechtlichen Parameter sind differenziert, objektivierbar und generalisierbar herausgearbeitet. Nicht zuletzt deshalb erweist sich die Arbeit auch für andere Verwaltungsformen außerhalb der klassischen, ministerial gesteuerten Verwaltung als aufschlussreich. Für diese „unkonventionellen“ Verwaltungstypen darf an der in ununterbrochenen Legitimationsketten verhafteten Dogmatik nicht mehr festgehalten werden. Die flexiblen verfassungsrechtlichen Vorgaben lassen es vielmehr zu, pragmatische Erwägungen in angemessener Weise zu berücksichtigen, wobei der Autor auf seine Erfahrungen als Sozialrichter zurückgreifen konnte.