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definiert das Bundessozialgericht die „Behandlungsmethode“ als medizinisches
Vorgehen, dem ein eigenes theoretisch-wissenschaftliches Konzept zu Grunde liegt,
das es von anderen Therapieverfahren unterscheidet und seine systematische Anwendung in der Behandlung bestimmter Krankheiten rechtfertigen soll57. Damit ist
nicht unbedingt die einzelne Maßnahme oder Verrichtung gemeint, wie man sie im
EBM auffindet58. Vom Arzt veranlasste Leistungen wie der Einsatz eines Arzneimittels oder Heilmittels sind Bestandteil der einheitlichen, unter der Verantwortung des
Arztes stehenden Behandlung, deren Zweckmäßigkeit als Ganzes beurteilt werden
muss59. Zulassungsbedürftig ist also nicht der einzelne Behandlungsschritt, sondern
der Therapieansatz als solcher.
3. Zur Frage der „neuen“ Untersuchungs- oder Behandlungsmethode
Das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt gilt für die Anwendung neuer Untersuchungsund Behandlungsmethoden. Auch das Tatbestandsmerkmal der Neuheit einer Methode birgt erhebliches Problempotential in sich60. Das Bundessozialgericht hat sich
dazu ausführlich in der Entscheidung geäußert, die Gegenstand des Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005 - 1 BvR 347/98 gewesen ist:
Nach dem Normzweck müsse danach unterschieden werden, ob eine Methode schon
bisher zur vertragsärztlichen Versorgung gehört habe. Es komme nicht darauf an,
wann das betreffende Verfahren entwickelt und erstmals eingesetzt worden sei. Das
Tatbestandsmerkmal „neu“ treffe vielmehr eine Abgrenzung zu denjenigen medizinischen Maßnahmen, deren Qualität aufgrund der tatsächlichen Anwendung in der
vertragsärztlichen Versorgung bereits feststehe oder unterstellt werde61. Sodann hat
das Bundessozialgericht auf die Praxis des Bundesausschusses verwiesen, der als
„neu“ ansehe, was noch nicht als abrechnungsfähige Leistung im EBM enthalten
oder zwar dort aufgeführt sei, dessen Indikation aber eine wesentliche Änderung
oder Erweiterung erfahren habe62. Letztendlich lässt das Bundessozialgericht aber
offen, ob die Neuheit allein anhand des EBM zu beurteilen ist oder ob es weiterer
57 BSG SozR 3-2500 § 92 SGB V Nr. 12, S. 69; BSG Breith. 2006, S. 893 <896>; vgl. Engelhard, Rechtsschutz, S. 132 <133>
58 Vgl. BSGE 86, 54 <58>; kritisch Schwerdtfeger, Keine Kassenzulassung für innovative Arzneimitteltherapien nach § 135I1 SGB V, SGb 2000, S. 154 <155 f., 158 f.>
59 Vgl. BSGE 86, 54 <58 f.>
60 Vgl. dazu Steck, "Strittige" Behandlungsmethoden, S. 166 ff.; Spoerr, Medizinischer Fortschritt unter Verbot mit Erlaubnisvorbehalt?, NJW 1999, S. 1773; Zuck, Homöopathie und
Verfassungsrecht, S. 104; Engelhard, Rechtsschutz, S. 132 <133>; Hinz, Verfassungsrecht
und Leistungsrecht in der gesetzlichen Krankenversicherung, ZfS 2006, S. 141 <143 f.>
61 BSGE 81, 54 <57>; 81, 73 <75>
62 BSGE 81, 54 <58>; 81, 73 <75 f.>; BSG Breith. 2006, S. 893 <896 f.>; BSG, Urteil vom
26. September 2006 - B 1 KR 3/06 R, RdNr. 17 des JURIS-Ausdrucks; generell sieht das
Bundessozialgericht die Notwendigkeit, bei dem Tatbestandsmerkmal „neu“ im Interesse der
Rechtssicherheit vorzugsweise an formale Kriterien anzuknüpfen (vgl. BSG SozR 3-2500
§ 138 SGB V Nr. 2, S. 26).
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Kriterien bedarf63. In einer späteren Entscheidung allerdings hat das Bundessozialgericht - durchaus im Sinn von Handhabbarkeit und Praxisgerechtigkeit - eine stärkere Orientierung am EBM proklamiert64.
II. Adressierung der Regelungen über neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden auch an die Versicherten
Die besondere Brisanz, die die Richtlinien des Bundesausschusses bezüglich des
Erfordernisses der demokratischen Legitimation von Staatsgewalt in sich tragen, ist
erst durch die Erstreckung der unmittelbaren Regelungswirkung von Richtlinien
auch auf die Versicherten entstanden. Das Bundessozialgericht nimmt seit dem so
genannten Methadon-Urteil65 in mittlerweile ständiger Rechtsprechung an, die
Richtlinien würden unmittelbare Rechtswirkung auch im Verhältnis zu den Versicherten entfalten. In den September-Urteilen wird davon ausgegangen, das gelte
auch für § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V in Verbindung mit den NUB-/BUB-
Richtlinien66. Für das ab dem 1. Januar 2004 geltende Recht erübrigt es sich zu fragen, woraus dies denn hergeleitet werden könnte. Denn § 91 Abs. 9 SGB V in der
seitdem geltenden Fassung ordnet die Verbindlichkeit der Beschlüsse des Bundesausschusses auch für die Versicherten ausdrücklich an. Klärungsbedarf besteht jedoch für die Zeit davor. Die folgenden Ausführungen beziehen sich somit nur auf
die Rechtslage bis einschließlich 31. Dezember 2003.
Ob die Annahme einer unmittelbaren Wirkung auch für und gegen die Versicherten gemessen am „einfachen“ Gesetzesrecht zulässig erscheint, ist von weichenstellender Bedeutung für die weitere Prüfung. Denn die verfassungsrechtliche Beurteilung der Entscheidungen des Bundesausschusses über neue Untersuchungs- oder
Behandlungsmethoden hängt ganz wesentlich davon ab, welcher Personenkreis unmittelbar regelungsunterworfen ist. Aus dem Demokratieprinzip folgen ganz unterschiedliche Vorgaben für die Richtliniengebung je nach dem, ob ihnen auch im Verhältnis zu Versicherten unmittelbare Regelungswirkung zukommt oder nur im Verhältnis zu den Vertragsärzten. Die spezielle verfassungsrechtliche - auf die
demokratische Legitimation bezogene - Problematik, die mit einer unmittelbaren
Wirkung im Verhältnis zu den Versicherten verbunden wäre, würde sich von vornherein nicht stellen, wenn sich ergäbe, dass die vom Bundessozialgericht angenom-
63 Ebda.; BSGE 81, 73 <76>
64 BSG SozR 3-2500 § 13 SGB V, S. 80
65 BSGE 78, 70
66 BSGE 81, 54 <59 ff.>; 81, 73 <76 ff.>; a.A. Ossenbühl, Richtlinien im Vertragsarztrecht,
NZS 1997, S. 497 <499>: Ossenbühl geht zwar ebenso wie das Bundessozialgericht von einer
"Symmetrie" zwischen Vertragsarztrecht und Leistungsrecht aus; die Verpflichtungen von
Arzt und Krankenkasse müssten sich mit dem Leistungsanspruch des Versicherten inhaltlich
und umfangmäßig decken. Diese sachnotwendige Wechselbezüglichkeit mache aber nicht eine Verbindlichkeitsanordnung von Richtlinien überflüssig. Diese Auffassung betrifft aber lediglich die Richtlinien des Bundesausschusses, nicht auch § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V.
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References
Zusammenfassung
Der Gemeinsame Bundesausschuss gestaltet wesentlich den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung. Seine demokratische Legitimation wurde in der Vergangenheit intensiv und kontrovers diskutiert.
Der Autor hat die aktuelle Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur demokratischen Legitimation eingehend ausgewertet und daraus ein neues, praxisgerechtes Legitimationsmodell für den Gemeinsamen Bundesausschuss nach dem SGB V entwickelt. Die bei dieser Betrachtung berücksichtigten, zahlreichen rechtlichen Parameter sind differenziert, objektivierbar und generalisierbar herausgearbeitet. Nicht zuletzt deshalb erweist sich die Arbeit auch für andere Verwaltungsformen außerhalb der klassischen, ministerial gesteuerten Verwaltung als aufschlussreich. Für diese „unkonventionellen“ Verwaltungstypen darf an der in ununterbrochenen Legitimationsketten verhafteten Dogmatik nicht mehr festgehalten werden. Die flexiblen verfassungsrechtlichen Vorgaben lassen es vielmehr zu, pragmatische Erwägungen in angemessener Weise zu berücksichtigen, wobei der Autor auf seine Erfahrungen als Sozialrichter zurückgreifen konnte.