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Teil 1: Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden
I. Zum Anwendungsbereich von § 135 Abs. 1 SGB V
Bevor sich die Arbeit der verfassungsrechtlichen Problematik nähern kann, erscheint
es unabdingbar, die Kernvorschrift des § 135 Abs. 1 SGB V zunächst einfachrechtlich zu beleuchten. Zunächst sei noch einmal unterstrichen, dass § 135 Abs. 1
Satz 1 SGB V - unabhängig davon, an wen es sich richtet - ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt statuiert55. Im Übrigen muss insbesondere herausgearbeitet und festgehalten werden, für welches medizinische Segment sie überhaupt einschlägig ist.
1. Der medizinisch-sektorale Anwendungsbereich
Nach dem Wortlaut der Norm bezieht sich deren Anwendungsbereich auf neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen und vertragszahn-
ärztlichen Versorgung. Im Rahmen dieser Arbeit soll die vertragszahnärztliche Versorgung außer Betracht bleiben.
2. Die „Methode“
Regelungsobjekt des § 135 Abs. 1 SGB V sind neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden. Für ihre Anwendung - aus dem Blickwinkel des Leistungserbringers - oder aber auch für ihre Leistungsentgegennahme - dieses Mal aus Sicht des
Leistungsempfängers, des Versicherten - wird ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt
aufgestellt.
Das Bundessozialgericht grenzt die „Methode“ von der „ärztlichen Leistung“ im
Sinn des § 87 SGB V ab. So sieht es in einer Behandlungsmethode die auf einem
bestimmten theoretisch-wissenschaftlichen Konzept fußende Vorgehensweise bei
der Behandlung einer Krankheit. Darunter ist das therapeutische Vorgehen als Ganzes unter Einschluss aller nach dem jeweiligen methodischen Ansatz zur Erreichung
des Behandlungsziels erforderlichen Einzelschritte zu verstehen56. An anderer Stelle
55 BSGE 81, 54 <59>; 81, 73 <76>; BSG Breith. 2006, S. 893 <898 f.>; BSG, Urteil vom 26.
September 2006 - B 1 KR 3/06 R, RdNr. 24 des JURIS-Ausdrucks; BSG, Urteil vom 7. November 2006 - B 1 KR 24/06 R, RdNr. 18 des Umdrucks; Spoerr, Medizinischer Fortschritt
unter Verbot mit Erlaubnisvorbehalt?, NJW 1999, S. 1773; Zuck, Homöopathie und Verfassungsrecht, S. 104; Engelhard, Rechtsschutz, S. 132; Hinz, Verfassungsrecht und Leistungsrecht in der gesetzlichen Krankenversicherung, ZfS 2006, S. 141 <144>
56 BSGE 86, 54 <58>
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definiert das Bundessozialgericht die „Behandlungsmethode“ als medizinisches
Vorgehen, dem ein eigenes theoretisch-wissenschaftliches Konzept zu Grunde liegt,
das es von anderen Therapieverfahren unterscheidet und seine systematische Anwendung in der Behandlung bestimmter Krankheiten rechtfertigen soll57. Damit ist
nicht unbedingt die einzelne Maßnahme oder Verrichtung gemeint, wie man sie im
EBM auffindet58. Vom Arzt veranlasste Leistungen wie der Einsatz eines Arzneimittels oder Heilmittels sind Bestandteil der einheitlichen, unter der Verantwortung des
Arztes stehenden Behandlung, deren Zweckmäßigkeit als Ganzes beurteilt werden
muss59. Zulassungsbedürftig ist also nicht der einzelne Behandlungsschritt, sondern
der Therapieansatz als solcher.
3. Zur Frage der „neuen“ Untersuchungs- oder Behandlungsmethode
Das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt gilt für die Anwendung neuer Untersuchungsund Behandlungsmethoden. Auch das Tatbestandsmerkmal der Neuheit einer Methode birgt erhebliches Problempotential in sich60. Das Bundessozialgericht hat sich
dazu ausführlich in der Entscheidung geäußert, die Gegenstand des Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005 - 1 BvR 347/98 gewesen ist:
Nach dem Normzweck müsse danach unterschieden werden, ob eine Methode schon
bisher zur vertragsärztlichen Versorgung gehört habe. Es komme nicht darauf an,
wann das betreffende Verfahren entwickelt und erstmals eingesetzt worden sei. Das
Tatbestandsmerkmal „neu“ treffe vielmehr eine Abgrenzung zu denjenigen medizinischen Maßnahmen, deren Qualität aufgrund der tatsächlichen Anwendung in der
vertragsärztlichen Versorgung bereits feststehe oder unterstellt werde61. Sodann hat
das Bundessozialgericht auf die Praxis des Bundesausschusses verwiesen, der als
„neu“ ansehe, was noch nicht als abrechnungsfähige Leistung im EBM enthalten
oder zwar dort aufgeführt sei, dessen Indikation aber eine wesentliche Änderung
oder Erweiterung erfahren habe62. Letztendlich lässt das Bundessozialgericht aber
offen, ob die Neuheit allein anhand des EBM zu beurteilen ist oder ob es weiterer
57 BSG SozR 3-2500 § 92 SGB V Nr. 12, S. 69; BSG Breith. 2006, S. 893 <896>; vgl. Engelhard, Rechtsschutz, S. 132 <133>
58 Vgl. BSGE 86, 54 <58>; kritisch Schwerdtfeger, Keine Kassenzulassung für innovative Arzneimitteltherapien nach § 135I1 SGB V, SGb 2000, S. 154 <155 f., 158 f.>
59 Vgl. BSGE 86, 54 <58 f.>
60 Vgl. dazu Steck, "Strittige" Behandlungsmethoden, S. 166 ff.; Spoerr, Medizinischer Fortschritt unter Verbot mit Erlaubnisvorbehalt?, NJW 1999, S. 1773; Zuck, Homöopathie und
Verfassungsrecht, S. 104; Engelhard, Rechtsschutz, S. 132 <133>; Hinz, Verfassungsrecht
und Leistungsrecht in der gesetzlichen Krankenversicherung, ZfS 2006, S. 141 <143 f.>
61 BSGE 81, 54 <57>; 81, 73 <75>
62 BSGE 81, 54 <58>; 81, 73 <75 f.>; BSG Breith. 2006, S. 893 <896 f.>; BSG, Urteil vom
26. September 2006 - B 1 KR 3/06 R, RdNr. 17 des JURIS-Ausdrucks; generell sieht das
Bundessozialgericht die Notwendigkeit, bei dem Tatbestandsmerkmal „neu“ im Interesse der
Rechtssicherheit vorzugsweise an formale Kriterien anzuknüpfen (vgl. BSG SozR 3-2500
§ 138 SGB V Nr. 2, S. 26).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Der Gemeinsame Bundesausschuss gestaltet wesentlich den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung. Seine demokratische Legitimation wurde in der Vergangenheit intensiv und kontrovers diskutiert.
Der Autor hat die aktuelle Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur demokratischen Legitimation eingehend ausgewertet und daraus ein neues, praxisgerechtes Legitimationsmodell für den Gemeinsamen Bundesausschuss nach dem SGB V entwickelt. Die bei dieser Betrachtung berücksichtigten, zahlreichen rechtlichen Parameter sind differenziert, objektivierbar und generalisierbar herausgearbeitet. Nicht zuletzt deshalb erweist sich die Arbeit auch für andere Verwaltungsformen außerhalb der klassischen, ministerial gesteuerten Verwaltung als aufschlussreich. Für diese „unkonventionellen“ Verwaltungstypen darf an der in ununterbrochenen Legitimationsketten verhafteten Dogmatik nicht mehr festgehalten werden. Die flexiblen verfassungsrechtlichen Vorgaben lassen es vielmehr zu, pragmatische Erwägungen in angemessener Weise zu berücksichtigen, wobei der Autor auf seine Erfahrungen als Sozialrichter zurückgreifen konnte.