Dritter Teil. Die Rechtslage nach der Reform
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weiterhin nicht nur dazu, eine mißbräuchliche Inanspruchnahme der staatlichen
Rechtspflegeorgane zu vermeiden; sie soll vielmehr vor allem auch einer Ausforschung der von der Vorlagepflicht betroffenen Beteiligten entgegenwirken. Es
reicht deshalb grundsätzlich nicht aus, wenn eine Partei lediglich in plausibler Weise
das vorträgt, was sie über einen streitgegenständlichen Vorgang weiß und wissen
kann, um beim Prozeßgegner oder Dritten automatisch eine Pflicht zur Preisgabe
sämtlichen Wissens oder gar zur Vorlage jeglicher in ihrem Zugriffsbereich befindlicher Beweisgegenstände auszulösen. Auch soweit der Gesetzgeber eine Entkoppelung der Vorlagepflichten vom materiellen Recht vorgenommen hat, entsteht die
Vorlagepflicht doch erst dann, wenn der Sachvortrag der risikobelasteten Partei
konkret genug ist, um dem Gericht eine Überprüfung der Entscheidungserheblichkeit der behaupteten Tatsachen sowie der Geeignetheit des Vorlagegegenstandes
für die Beweisführung zu ermöglichen.
Einige Befürworter der Lehre Stürners bescheinigen der Reform insoweit, allenfalls Elemente einer prozessualen Aufklärungspflicht1262 mit sich gebracht zu haben, während andere Vertreter aus der Wissenschaft die Neuregelungen in den
§§ 142, 144 ZPO n.F. durchaus als "Etappenziel"1263 würdigen. Der entscheidende
Schritt auf dem Weg zu einer verbesserten Sachverhaltsaufklärung auf prozessualer
Grundlage dürfte zunächst wohl auch weniger die gesetzliche Umsetzung einer in
der Lehre entwickelten Dogmatik, sondern vielmehr die endgültige Entkoppelung
der Vorlagepflichten vom materiellen Recht sein. Solange diese für den Urkundenbeweis nach wie vor nicht zu konstatieren ist, kann von einer allgemeinen prozessualen Aufklärungspflicht der Prozeßparteien jedenfalls nicht die Rede sein. In der
Praxis wird die risikobelastete Partei zunächst auch weiterhin auf die mannigfaltigen
Hilfestellungen der Rechtsprechung, insbesondere auf die großzügige Handhabung
materiell-rechtlicher Informations- und Einsichtsansprüche angewiesen bleiben, um
an die für eine erfolgreiche Prozeßführung erforderlichen Informationen zu gelangen.
C. Die Annäherung an die Rechtslage der europäischen Nachbarstaaten
Für den Reformbedarf im Hinblick auf das System der Informationsbeschaffung
im Zivilprozeß wurde in den letzten Jahren vermehrt mit einer vermeintlichen
Rückständigkeit des deutschen Prozeßrechts im Vergleich zu benachbarten
Rechtsordnungen argumentiert. Die Angleichung des deutschen Zivilprozesses an
denjenigen der europäischen Nachbarländer gehörte auch explizit zu den mit der
Reform verbundenen Zielen. Den Gesetzesmaterialien ist zwar zu entnehmen, daß
sich diese Intention in erster Linie auf das Herzstück der Reform, die Umgestaltung
des Rechtmittelrechts bezog. Dennoch geht auch mit den hier untersuchten Neuregelungen eine Annäherung an die internationalen Standards bei der Informations-
1262 Wagner, JZ 2007, 706 (706); ähnlich auch Roth, ZZP 113 (2000), 503 (503 f.), der in den §§ 142,
144 ZPO n.F. "Spurenelemente" verbesserter Aufklärungsmöglichkeiten erkennt, die in Richtung
einer allgemeinen prozessualen Aufklärungspflicht gehen.
1263 So z.B. Stadler, WuB 2007, 881 (882).
§ 8 Bewertung und Schlußbetrachtung
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beschaffung einher. Besonders die Heranziehung Dritter über eine bloße Zeugenaussage hinaus war bereits vor dem Jahr 2001 international die Regel, wie der Vergleich mit den Prozeßordnungen Englands, Frankreichs und Österreichs offenbart
hat. Auch mit der hierzulande häufig kritisierten Stärkung der richterlichen Prozeßleitungsbefugnisse lag der Reformgesetzgeber im international zu beobachtenden
Trend.
Ebenso auffällig wie die Annäherungstendenzen ist jedoch auch der wesentliche
Aspekt, der das deutsche System der Informationsbeschaffung von demjenigen in
unseren Nachbarländern nach wie vor unterscheidet. In keinem der drei genannten
Länder existiert heute noch eine Koppelung der Vorlagepflichten der Prozeßparteien an das materielle Recht. Dennoch bleiben die Interessen der vorlagepflichtigen
Prozeßpartei in anderen Prozeßordnungen nicht unberücksichtigt. Ihr Schutz wird
grundsätzlich auf zweierlei Weise gewährleistet. Den berüchtigten Beweisfischzügen in den Unterlagen des Prozeßgegners, deren Intention vor allem darin besteht,
erstmals das für die konkrete Formulierung eines Anspruches notwendige Tatsachenmaterial zu ermitteln, wird durch eine vorgeschaltete Erheblichkeitsprüfung
durch das Gericht entgegengewirkt. In den Prozeß eingeführt werden demnach nur
solche Gegenstände und Dokumente, auf die es für die Entscheidung des konkreten Rechtstreits ankommt. Darüber hinaus wird den Zurückhaltungsinteressen des
Beweisgegners durch entsprechende Weigerungsrechte Rechnung getragen.
Beide Beschränkungen sind dem deutschen Recht bereits heute nicht fremd.
Beim Augenschein werden die berechtigten Interessen des Beweisgegners über das
in § 371 Abs. 3 ZPO n.F. enthaltene Zumutbarkeitskriterium berücksichtigt und
eine Sanktion ausgeschlossen, soweit der Beweisgegner triftige Gründe für seine
Weigerung glaubhaft machen kann. Ferner stellt insbesondere das Substantiierungserfordernis ein wirksames Instrument dar, einer Ausforschung der vorlagepflichtigen Partei entgegenzuwirken, weil ihre Inanspruchnahme erst nach einer Erheblichkeitsprüfung durch das Gericht ermöglicht wird. Solange der Beweisführer
nicht in der Lage ist, seine Tatsachenbehauptung im erforderlichen Maß zu substantiieren und die vorzulegenden Beweisgegenstände hinreichend genau zu bezeichnen, kann dem Beweisgegner die Vorlage nicht aufgegeben werden. Die Heranziehung des Beweisgegners abseits materiell-rechtlicher Verpflichtungen auf der
Grundlage eines schlüssigen und ausreichend konkretisierten Parteivortrages hat
mit Ausforschung dagegen nichts zu tun. Die Vorlage eines Beweisgegenstandes
mag sich im Einzelfall als unzumutbar erweisen, weil die Interessen des Beweisgegners an einer Zurückhaltung besonders schwer wiegen; ein fehlender materiellrechtlicher Anspruch alleine rechtfertigt die Unzumutbarkeit der Mitwirkung an der
Sachverhaltsaufklärung im internationalen Vergleich allerdings heute nicht mehr.
Soweit die materielle Rechtslage für die Frage der Zumutbarkeit überhaupt eine
Rolle spielt, sollte sie vielmehr in umgekehrter Weise fruchtbar gemacht werden:
Wer seinem Prozeßgegner nach materiellem Recht zur Herausgabe eines Gegenstandes verpflichtet ist, kann sich einer prozessualen Vorlagepflicht regelmäßig
nicht mit dem Verweis auf Unzumutbarkeit entziehen.
Selbst wenn sich der Gesetzgeber in Zukunft dazu durchringen würde, die Vorlagepflicht der Prozeßparteien für Urkunden, elektronische Dokumente und sons-
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tige Unterlagen von den materiell-rechtlichen Beziehungen der Parteien zu lösen,
hätte dies mit einer Einführung amerikanischer Verhältnisse in den deutschen
Zivilprozeß wenig zu tun. Das entscheidende Merkmal des US-amerikanischen
discovery-Verfahrens liegt gerade darin, daß die Parteien dort abseits jeglicher
Erheblichkeitsprüfung zur Vorlage von Dokumenten und sonstigen Beweismitteln
angehalten werden. Nicht die Entkoppelung der Vorlagepflichten vom materiellen
Recht läßt die discovery US-amerikanischen Vorbilds hierzulande zu Recht als
Schreckgespenst erscheinen, sondern die Tatsache, daß es den Parteien ermöglicht
wird, in den Unterlagen des Gegners erst diejenigen Informationen zu suchen und
zu finden, die geeignet erscheinen, ihm gegenüber Ansprüche geltend zu machen.
Die Befugnis des Gerichts, sich von den Parteien in ihrem Besitz befindliche Unterlagen vorlegen zu lassen, entbindet die Parteien nach der ZPO dagegen weder
von ihrer Darlegungs- und Substantiierungslast noch vom Erfordernis eines schlüssigen Tatsachenvortrages. Soweit die Vorlageanordnung der Feststellung streitiger
Tatsachenbehauptungen dient, hat sie dieselben Anforderungen an den Sachvortrag
zur Voraussetzung wie eine Beweiserhebung auf Parteiinitiative. Sofern mit einer
Erweiterung der Vorlagepflichten für Urkunden daher die Befürchtung im Raum
steht, daß damit eine Ausforschung des Anordnungsadressaten einhergehen könnte, ist es entscheidend, an den Substantiierungserfordernissen des Parteivortrages
festzuhalten. Die Abkoppelung der Vorlagepflicht für Urkunden vom materiellen
Recht birgt für sich betrachtet dagegen wenig Mißbrauchsgefahren, denen es entgegenzuwirken gälte.
D. Ausblick
Ob man für die zukünftige legislative Entwicklung eine Vorlagepflicht des Beweisgegners für Urkunden auch abseits des Bestehens materiell-rechtlicher Ansprüche
fordert, ist in erster Linie eine rechtspolitische Frage. Aus rechtswissenschaftlicher
sowie anwendungspraktischer Sicht erscheint jedenfalls eine zeitnahe und klare
Positionierung des Gesetzgebers in dieser Frage wünschenswert. Es scheint fast so,
als habe der Reformgesetzgeber sich in letzter Konsequenz nicht recht entscheiden
wollen, ob der Beweisgegner beim Urkundenbeweis künftig abseits der restriktiven
Regeln der §§ 422 423 ZPO zur Mitwirkung herangezogen werden soll und als
habe er die Beantwortung dieser Frage in einer Art Testlauf zunächst den Gerichten überlassen wollen. Daß dies mit der gewählten Regelungstechnik rechtsstaatlichen Grundsätzen zuwiderläuft, mag während des Gesetzgebungsverfahrens nicht
Gegenstand der Erörterungen gewesen sein. Um so mehr ist der Reformgesetzgeber allerdings nunmehr aufgefordert, Farbe zu bekennen.
Eine klare Entscheidung für die Beibehaltung der restriktiven Regeln beim Urkundenbeweis könnte sich in einem neuen § 142 Abs. 1 S. 3 ZPO n.F. manifestieren, der anordnet, daß der Beweisgegner nur unter den Voraussetzungen der
§§ 422, 423 ZPO zur Vorlage einer Urkunde verpflichtet werden kann.
Sollte sich der Gesetzgeber allerdings zukünftig dafür entscheiden, den im Jahr
2001 eingeschlagenen Weg weiterzugehen, müßten die §§ 422, 423 sowie § 424
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Die Modifikation der Vorlagepflichten für Urkunden und Augenscheinsgegenstände im Rahmen der Reform des Zivilprozessrechts im Jahr 2002 hat die Frage aufgeworfen, ob das Discovery-Verfahren nach US-amerikanischem Vorbild Einzug in den deutschen Zivilprozess gehalten hat.
Die Untersuchung zeigt auf, unter welchen Voraussetzungen die Prozessparteien und prozessfremde Dritte aufgrund der novellierten §§ 142 und 144 ZPO zur Vorlage der in ihrem Besitz befindlichen Gegenstände verpflichtet werden können. Die neuen Vorschriften werden auf der Grundlage des überkommenen Systems der Informationsbeschaffung im deutschen Zivilprozess, der bisherigen Novellierungstendenzen sowie vor dem Hintergrund internationaler Entwicklungen eingehend untersucht, um Inhalt, Reichweite und Grenzen der Mitwirkungspflichten zu bestimmen.