Dritter Teil. Die Rechtslage nach der Reform
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gem. § 387 Abs. 3 ZPO i.V.m. § 561 Abs. 1 Nr. 1 ZPO anfechten wie der Dritte1258.
III. Rechtsbehelfe gegen einen Ordnungsmittelbeschluß
Gegen die Beschlüsse des Gerichts, gegenüber dem Dritten wegen seiner grundlosen oder unberechtigten Weigerung die dadurch entstandenen Kosten aufzuerlegen
(§ 390 Abs. 1 Satz 1 ZPO), ein Ordnungsgeld zu verhängen (§ 390 Abs. 1 Satz 2
ZPO) oder ersatzweise Ordnungshaft (390 Abs. 1 Satz 2 ZPO) bzw. gar Erzwingungshaft (§ 390 Abs. 2 ZPO) anzuordnen, steht dem Dritten als Rechtsmittel die
sofortige Beschwerde gem. § 567 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zu1259. Das Beschwerderecht
ergibt sich in diesem Fall aus der ausdrücklichen Regelung in § 390 Abs. 3 ZPO.
Gegen die Entscheidung des Beschwerdegerichts kann die Rechtsbeschwerde gem.
§ 574 Abs. 1 Nr. 2 ZPO statthaft sein, soweit sie vom Beschwerdegericht zugelassen wird.
§ 8 Bewertung und Schlußbetrachtung
A. Erweiterung der Mitwirkungspflichten bei der Sachverhaltsaufklärung
Inwieweit wurden die prozessualen Möglichkeiten für die Sachverhaltsaufklärung
im Zivilprozeß durch die Reform 2001 erweitert? So oder ähnlich formuliert dürfte
die in Zusammenhang mit der Modifikation der §§ 142, 144 ZPO n.F. wohl am
häufigsten aufgeworfene Frage lauten. Der Blick auf die Rechtslage vor der Reform
sowie auf die Entwicklung der Novellengesetzgebung haben gezeigt, daß sich das
deutsche Zivilprozeßrecht seit jeher schwer damit getan hat, die Prozeßparteien
allzu freigiebig bei der Beschaffung derjenigen Informationen zu unterstützen, die
sie für eine erfolgreiche Prozeßführung benötigen. Das Prozeßrecht wurde hierzulande lange als reines "Komplementärrecht" verstanden. Informationen, die die
Prozeßparteien nach materiellem Recht nicht beanspruchen konnten, sollten ihnen
nicht allein deshalb zugänglich werden, weil sie ihre Rechte in einem Zivilprozeß
geltend machen. Dennoch haben Rechtsprechung und Schrifttum in der Vergangenheit in zunehmendem Maße erkannt, vor welchen Problemen die Prozeßparteien in der Praxis bei der Durchsetzung ihrer privaten Rechte stehen, wenn sich die
notwendigen Informationen, Belege und Anschauungsobjekte in den Händen des
Prozeßgegners oder Dritter befinden. Der Gesetzgeber sah sich deshalb bereits seit
geraumer Zeit hohen Erwartungen ausgesetzt, die Möglichkeiten der Informationsbeschaffung im Zivilprozeß zu erweitern, ohne dabei die hierzulande herrschenden
Prozeßtraditionen zu verwerfen. Mit der Reform im Jahr 2001 hat er sich dieser
1258 Baumbach-Hartmann, 65. Aufl., § 387, Rn. 6.
1259 Vgl. hierzu die Entscheidungen BGH NJW 2007, 155 (156); LG Saarbrücken, VersR 2003, 234
(234 f.); OLG Köln, OLGR 2004, 337 ff., abrufbar unter Juris; LG Köln, NZI 2004, 671, 671 f.;
LSG Thüringen, SGb 2005, 41, 41.
§ 8 Bewertung und Schlußbetrachtung
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Aufgabe gestellt und neue Wege der Informationsbeschaffung eröffnet, die jedoch
- wie die Untersuchung aufgezeigt hat - jedenfalls die Prozeßparteien nicht wesentlich weitergehend in die Pflicht nehmen als bisher.
I. Die neue prozessuale Mitwirkungspflicht Dritter
Die weitreichendste und gleichzeitig bestgelungene1260 reformbedingte Erweiterung
der prozessualen Aufklärungsmöglichkeiten ist in der neugeschaffenen prozessualen Mitwirkungspflicht Dritter zu sehen. Die Erweiterung der staatsbürgerlichen
Pflicht, in einem fremden Prozeß nicht nur als Zeuge zur Verfügung zu stehen,
sondern auch Urkunden und Augenscheinsgegenstände vorzulegen, kann ohne
weiteres als Durchbruch in Sachen Informationsbeschaffung im Zivilprozeß bezeichnet werden. Die Einführung der Vorlagepflichten Dritter erweitert die Aufklärungsmöglichkeiten im Zivilprozeß erheblich und eröffnet den Parteien bisher
unzugänglich gebliebene Informationsquellen.
Warum es Dritten per se unzumutbar sein sollte, einen Gegenstand oder eine
Urkunde vorzulegen, auf die die Prozeßparteien keinen Anspruch haben, sie aber
gleichzeitig persönlich als Zeuge zur Verfügung stehen müssen, was die Parteien
außerhalb eines Prozesses freilich ebensowenig verlangen können, hat sich bei
Lichte betrachtet nie recht erschlossen. Die bisher gepflegte Zurückhaltung bei der
weitergehenden Verpflichtung des Dritten war allenfalls damit zu erklären, daß der
Dritte mit einer Vorlagepflicht in wesentlich höherem Maße belastet werden könnte als mit einer Zeugenaussage. Genau für solche Fälle hat der Reformgesetzgeber
die Zumutbarkeitsschranke geschaffen. Mit dem Verzicht auf die Vorgabe klarer
Leitlinien zur Ausfüllung dieses Tatbestandsmerkmals wurde die Reichweitenbestimmung der neuen Mitwirkungspflicht zwar in ihren Konturen Rechtsprechung
und Wissenschaft überlassen. Dies erscheint jedoch bei genauerem Hinsehen wenig
problematisch, weil die Grenzen der neuen Vorlagepflichten für Dritte in allererster
Linie durch die in Bezug genommenen Zeugnisverweigerungsrechte abgesteckt
werden und für die Anwendung des Zumutbarkeitskriteriums darüber hinaus wenig
Raum bleibt1261. Dieser, mit der Existenz des Zumutbarkeitskriteriums verbleibende Spielraum ermöglicht es dem Gericht, außergewöhnliche Belastungen des Dritten, die mit der Vorlagesituation einhergehen, im Einzelfall zu berücksichtigen. Da
mit der Handhabung von Vorlagepflichten gegenüber Dritten im deutschen Prozeßrecht bisher keine Erfahrungen existierten, erscheint es sachgerecht, den Gerichten die Möglichkeit einer Interessenabwägung für den Einzelfall zu eröffnen.
Dies wird indes nicht dazu führen, daß die Gerichte in jedem Fall zu prüfen haben,
ob dem Dritten die Vorlage zumutbar ist. Soweit dem Dritten kein Zeugnisverwei-
1260 So als einer der wenigen Vertreter in der Literatur auch Wagner, JZ 2007, 516 (516).
1261 Selbherr, NJW 2004, Beilage zu Heft 27, 5 (6) sieht im Zumutbarkeitskriterium dagegen den
Hauptgrund dafür, daß die neuen Anordnungsmöglichkeiten gem. §§ 142, 144 ZPO n.F. "in der
Praxis offenbar keine Rolle" spielen. Befremdlich ist insoweit auch die Kritik von Schmude,
BRAK-Mitt. 2005, 155 (157), der meint, für eine Vorlageanordnung verbleibe in der Praxis "so
gut wie kein Anwendungsraum".
Dritter Teil. Die Rechtslage nach der Reform
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gerungsrecht zustünde, wenn er über den Inhalt der Urkunde als Zeuge auszusagen
hätte, bleibt für eine Vorlageverweigerung aus Gründen der Unzumutbarkeit lediglich in solchen Konstellationen Raum, in denen die spezifische Härte für Dritten
gerade in der über die bloße Aussagepflicht hinausgehenden Mitwirkungsverpflichtung liegt.
Besondere Relevanz gewinnt die neue Vorlagepflicht Dritter in ihrer Kombination mit einem Beweisantritt der Prozeßparteien. Für die Konstellation des Drittbesitzes hat der Gesetzgeber damit die Verknüpfung der Mitwirkungspflichten Dritter
mit der materiellen Rechtslage im Hinblick auf den Beweisgegenstand aufgegeben
und eine rein prozessuale Mitwirkungspflicht geschaffen. Die neue Vorlagepflicht
erweitert damit nicht nur im Sinne der Reformintention die Möglichkeiten des
Gerichts, eine umfassende Prüfung des streitgegenständlichen Sachverhaltes bereits
in der ersten Instanz vorzunehmen; sie eröffnet es darüber hinaus auch den Parteien, sich auf eigene Initiative Informationsquellen zu erschließen, die ihnen bisher
abseits materiell-rechtlicher Ansprüche nicht zur Verfügung standen. Daß der
herkömmliche Weg des Beweisantritts über den Antrag auf Fristsetzung und anschließende eigenverantwortliche Beibringung des Beweisgegenstandes durch den
Beweisführer nach wie vor erhalten bleibt, ist ebenfalls positiv zu beurteilen, selbst
wenn dieser Form des Beweisantritts in der Praxis kaum noch Bedeutung zukommen dürfte. Sein eigenständiger Anwendungsbereich ist dadurch gerechtfertigt, daß
die neuen Vorlagepflichten gegenüber dem Dritten letztlich nicht erzwingbar sind.
Im Einzelfall kann für die Aussetzung des Prozesses zum Zwecke der Führung
eines separaten Herausgabeprozesses gegen den Dritten also durchaus noch ein
Bedürfnis bestehen, wenn sich der Dritte auf andere Weise zur gebotenen Mitwirkung nicht bewegen läßt.
Begrüßenswert ist auch der weitgehende Gleichlauf der Vorlagepflichten Dritter
für Urkunden, Augenscheinsgegenstände und elektronische Dokumente. Die prozessuale Mitwirkungspflicht differenziert weder in ihren Voraussetzungen noch
hinsichtlich der dem Dritten zur Verfügung stehenden Weigerungsrechte zwischen
verschiedenen Vorlagegegenständen; die im Einzelfall schwierige Abgrenzung von
Augenscheinsgegenständen und Urkunden spielt für die Vorlagepflicht des Dritten
somit praktisch keine Rolle mehr. Der Dritte ist nunmehr grundsätzlich zu jeglicher
Mitwirkung bei der Beweisführung verpflichtet, die sich nach dem System der
Strengbeweismittel in der ZPO denken läßt.
Daß die Ausweitung der Mitwirkungspflichten Dritter durch den Reformgesetzgeber weitgehend gelungen ist, läßt sich auch daran erkennen, daß sie sowohl
während des Gesetzgebungsverfahrens als auch nach Inkrafttreten der Reform
wesentlich weniger Kritik hervorgerufen hat als die in gleichem Zusammenhang
vorgenommen Änderungen in Bezug auf die Prozeßparteien. Berechtigte Kritik an
der Neuregelung wird sich wohl darauf beschränken müssen, zu betonen, daß es
sinnvoller gewesen wäre, die Zeugnisverweigerungsrechte auch sprachlich als Unterfall der Zumutbarkeit erkennbar werden zu lassen. Vielleicht hätte auch die eine
oder andere Leitlinie zur Interpretation des Zumutbarkeitskriteriums dem Gesetzgeber einen Teil der Kritik erspart. Den Umgang mit unbestimmten Rechtsbegriffen sowie die Fähigkeit, zu einer sachgerechten Abwägung der widerstreitenden
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Interessen im Einzelfall zu gelangen, sollten der Rechtsprechung durchaus zugetraut werden.
II. Die Erweiterung der Mitwirkungspflicht der Parteien
Obwohl der Reformgesetzgeber mit der Änderung der §§ 142, 144 ZPO auch die
Prozeßparteien bei der Sachverhaltsaufklärung in verstärktem Maße in die Pflicht
nehmen wollte, haben die Mitwirkungsobliegenheiten der Parteien letztlich nur
moderate Ausweitungen erfahren. Besonders die seit langem intensiv geforderte
verstärkte Beteiligung des Beweisgegners an der Sachverhaltsaufklärung ermöglichen die neugestalteten Vorlagepflichten für Urkunden und Augenscheinsgegenstände kaum in weiterem Maße als vor der Reform.
Gerade die neugestaltete Vorlagepflicht für Urkunden, in der bereits während
des Gesetzgebungsverfahrens vorschnell die Einführung amerikanischer Verhältnisse in den deutschen Zivilprozeß gesehen wurde, vermag die Mitwirkungsobliegenheiten der nicht beweisbelasteten Partei bei Lichte betrachtet nicht in bahnbrechender Weise zu erweitern. Zwar mag es der Intention des Reformgesetzgebers
möglicherweise entsprochen haben, dem Gericht mit den Befugnissen aus § 142
ZPO n.F. ein Instrument an die Hand zu geben, mit dem es im Einzelfall die restriktiven Regeln der §§ 422, 423 ZPO umgehen und den Beweisgegner im Interesse der Wahrheitsfindung an der Aufklärung des Sachverhaltes beteiligen kann. Mit
der gewählten Regelungstechnik konnte dieses Ergebnis jedoch nicht erreicht werden. Die Geltung der unverändert gebliebenen §§ 422, 423 ZPO im Zusammenhang mit dem parteibetriebenen Urkundenbeweis zwingt das Gericht dazu, die
diesen Vorschriften zugrundeliegenden Wertungen beim Erlaß einer Vorlageanordnung nach § 142 ZPO n.F. im Rahmen seines Anordnungsermessens zu berücksichtigen. Vielleicht hat es der Reformgesetzgeber schlicht übersehen, daß die
Möglichkeit der Beweisführung mit einer Urkunde in einem rechtsstaatlichen Verfahren nicht von einer Ermessensentscheidung des Gerichts abhängen darf. Das
Recht der Parteien auf Beweis gebietet es, daß die Möglichkeiten der Beweisführung abstrakt feststehen und es insoweit ausgeschlossen ist, daß sie im Einzelfall
richterlicher Willkür anheimfallen. Zwar könnte das durch § 142 Abs. 1 ZPO n.F.
eingeräumte richterliche Ermessen insoweit auch als gebundenes Ermessen dahingehend aufgefaßt werden, daß das Gericht auf eine Bezugnahme der risikobelasteten Partei hin stets zum Erlaß einer Vorlageanordnung gegenüber dem Beweisgegner verpflichtet ist; dies führte letztlich allerdings zu einer Art "Sonderzuständigkeit" des Gerichts bei der Erhebung des Urkundenbeweis, der für einen Teil des
Beweisrechts die Amtsinitiative einführen würde und überdies die Vorschriften
über den parteibetriebenen Antritt des Urkundenbeweises obsolet werden ließe.
Solange die §§ 422 und 423 ZPO die Vorlagepflicht der nicht beweisbelasteten
Prozeßpartei an eine eigene Bezugnahme des Beweisgegners bzw. an das Bestehen
materiell-rechtlicher Vorlageansprüche knüpft, bleibt es dem Gericht bei Fehlen
dieser Voraussetzungen daher verwehrt, dem Gegner der beweisbelasteten Partei
die Vorlage einer in seinem Besitz befindlichen Urkunde zum Zwecke der Beweisführung aufzugeben.
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Man mag mit diesem Ergebnis nicht glücklich sein und darauf verweisen, daß
der neugestalteten Vorlagepflicht mit dieser Interpretation jegliche Zähne gezogen
werden. Es drängt sich in diesem Zusammenhang allerdings die Frage auf, ob der
Gesetzgeber letztlich nicht bewußt darauf verzichtet hat, die Anordnungsbefugnis
nach § 142 ZPO n.F. mit den erforderlichen Zähnen auszustatten. Die Entscheidung, dem Beweisführer keine Möglichkeit des parteibetriebenen Beweisantritts
über § 142 ZPO n.F. für den Fall zu eröffnen, daß sich die Urkunde im Besitz des
Prozeßgegners befindet, scheint jedenfalls eine bewußte gewesen zu sein. Anders
ist es kaum zu erklären, daß der Reformgesetzgeber die Vorlagepflicht des Dritten
in § 428 Alt. 2 ZPO n.F. ausdrücklich von den Voraussetzungen der §§ 422, 423
ZPO abgekoppelt hat. Auch die nachträgliche Erweiterung der Beweisantrittsmöglichkeiten in § 371 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 ZPO n.F. auf die Konstellation des Parteibesitzes läßt vermuten, daß eine entsprechende Ausweitung für den Beweis mit einer
Urkunde letztlich nicht gewollt war. Daß der Wortlaut des § 142 ZPO dennoch so
gestaltet wurde, daß das Gericht auf eine Bezugnahme des Beweisführers hin den
Prozeßgegner zur Vorlage verpflichten kann, paßt in diesem Zusammenhang freilich nicht recht ins Bild, denn praktische Relevanz dürfte eine solche Anordnung
gegenüber dem Beweisgegner allenfalls dann erfahren, wenn dieser nach den §§ 422
423 ZPO n.F. ohnehin auf Parteiantrag gem. § 421 ZPO zur Vorlage verpflichtet
werden könnte. Der Gesetzgeber hat mit der Neuregelung des § 142 ZPO n.F.
gewissermaßen zwar die Eintrittsschwelle zu einer prozessualen Vorlagepflicht des
Beweisgegners abseits materiell-rechtlicher Verpflichtungen betreten, ohne sie aber
letztlich zu überschreiten.
Die neue Vorlagepflicht der Parteien für Augenscheinsgegenstände ist in ihrer
Reichweite am besten mit den Worten des Reformgesetzgebers selbst zu beschreiben. § 144 ZPO n.F. präzisiert und ergänzt die bereits bisher bestehenden Möglichkeiten, den Beweisgegner an der Sachverhaltsaufklärung zu beteiligen. Anders
als bei der Vorlagepflicht für Urkunden war der Reformbedarf beim Augenschein
allerdings auch geringer. Die §§ 144 und 371 ZPO n.F. kodifizieren im wesentlichen die bereits zuvor bestehende Rechtslage. Die Parteien sind demnach gehalten,
sich einer Inaugenscheinnahme von Gegenständen durch das Gericht nicht ohne
triftige Gründe zu verweigern, weil ihnen andernfalls gem. § 371 Abs. 3 ZPO n.F.
beweisrechtliche Nachteile drohen. Die beweisrechtliche Sanktionierung war vor
der Reform allerdings nicht völlig unproblematisch. Mangels einer ausdrücklich
statuierten aktiven Mitwirkungspflicht war es nicht ohne weiteres ersichtlich, weshalb ein schlichtes Untätigbleiben des Beweisgegners negative Folgen im Rahmen
der Beweiswürdigung nach sich ziehen sollte. Mit der Neuregelung wird der früher
praktizierte Rückgriff auf Treu und Glauben sowie auf allgemeine Rechtsgedanken
überflüssig. § 144 ZPO n.F. stellt heute klar, daß beide Prozeßparteien gleicherma-
ßen auf gerichtliche Anordnung hin zur Vorlage der in ihrem Besitz befindlichen
Gegenstände verpflichtet sind. Die in § 371 Abs. 3 ZPO n.F. neu eingeführte Sanktionsregel verdeutlicht, daß es für die Vorlagepflicht des Beweisgegners auf materiell-rechtliche Ansprüche des Beweisführers nicht ankommt. Damit hat der Gesetzgeber die schon vor der Reform anerkannten Mitwirkungsobliegenheiten der Parteien beim Augenschein auf eine solide gesetzliche Grundlage gestellt, auch wenn
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der mißglückte Wortlaut des § 371 Abs. 2 ZPO n.F. im selben Atemzug viele Klarheiten auf den ersten Blick wieder beseitigt hat.
Bei der Beteiligung des Beweisgegners an der Sachverhaltsaufklärung bleibt es
nach der Reform demnach bei einem Ungleichlauf zwischen Urkunden- und Augenscheinsbeweis. Verschärft wird dieser noch durch die neue Zwitterstellung
elektronischer Dokumente, die nunmehr zwar zur Familie der Augenscheinsgegenstände gehören, sich beweisrechtlich aber weitestgehend wie Urkunden behandeln
lassen müssen. Auch wenn gleiche Voraussetzungen für Augenscheins- und Urkundenbeweis verfassungsrechtlich nicht geboten sind, erscheint die aufrechterhaltene Differenzierung nicht nur in Fällen schwieriger Abgrenzbarkeit aus anwendungspraktischer Sicht mißlich. Mancher schon im Jahr 1931 für unfruchtbar gehaltene Streit über das Bestehen einer materiell-rechtlichen Vorlagepflicht bleibt
der ZPO also im Zusammenhang mit der Vorlage von Urkunden vorläufig weiterhin erhalten.
B. Partieller Systemwechsel bei der Informationsbeschaffung im
Zivilprozeß
Der geforderte Systemwechsel hin zu einer Verpflichtung von Parteien und Dritten
zur Mitwirkung bei der Sachverhaltsaufklärung auf rein prozessualer Grundlage
wurde durch die Reform lediglich partiell vollzogen. Allein mit den neugeschaffenen Möglichkeiten der Inanspruchnahme Dritter hat der Gesetzgeber einen Paradigmenwechsel eingeleitet. Die materiell-rechtlichen Beziehungen zwischen den
Prozeßparteien und Dritten spielen im Gegensatz zur vormaligen Rechtslage nur
noch eine völlig untergeordnete Rolle. Nur im Falle hartnäckiger Weigerung wird
der Dritte auch nach der Reform im Wege einer separaten Herausgabeklage zur
Mitwirkung angehalten werden müssen. Angesichts der Sanktionsmöglichkeiten,
die bis hin zur Erzwingungshaft reichen, wird der Dritte jedoch regelmäßig aufgrund seiner prozessualen Verpflichtung zur Mitwirkung bereit sein.
Die Mitwirkungsobliegenheiten der Parteien wurden indes lediglich beim Augenschein von der materiellen Rechtslage entkoppelt. Selbst in der neuen Vorlageund Duldungspflicht des § 144 ZPO n.F. ist jedoch nicht etwa die Einführung
einer allgemeinen prozessualen Aufklärungspflicht der Parteien nach dem Modell
Stürners zu sehen. Die Entkoppelung der Mitwirkungspflicht vom materiellen Recht
ist in diesem Zusammenhang nur der erste von mehreren Schritten zur Verwirklichung dieser Lehre.
Die Mitwirkungsverweigerung der Prozeßparteien bei der Sachverhaltsaufklärung unterliegt auch nach der Reform der freien richterlichen Beweiswürdigung
und führt nicht etwa zu einer bestimmten Fiktion der vom Prozeßgegner behaupteten Tatsache. Vor allem aber hat die Reform die Anforderungen an den Tatsachenvortrag der Parteien im Zusammenhang mit einer Beweiserhebung unverändert
gelassen. Die Einführung von Beweismitteln in den Prozeß erfolgt nach wie vor
erst nach einer Erheblichkeitsprüfung durch das Gericht. Wie der Reformgesetzgeber unmißverständlich klargestellt hat, dient diese Erheblichkeitsprüfung auch
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Zusammenfassung
Die Modifikation der Vorlagepflichten für Urkunden und Augenscheinsgegenstände im Rahmen der Reform des Zivilprozessrechts im Jahr 2002 hat die Frage aufgeworfen, ob das Discovery-Verfahren nach US-amerikanischem Vorbild Einzug in den deutschen Zivilprozess gehalten hat.
Die Untersuchung zeigt auf, unter welchen Voraussetzungen die Prozessparteien und prozessfremde Dritte aufgrund der novellierten §§ 142 und 144 ZPO zur Vorlage der in ihrem Besitz befindlichen Gegenstände verpflichtet werden können. Die neuen Vorschriften werden auf der Grundlage des überkommenen Systems der Informationsbeschaffung im deutschen Zivilprozess, der bisherigen Novellierungstendenzen sowie vor dem Hintergrund internationaler Entwicklungen eingehend untersucht, um Inhalt, Reichweite und Grenzen der Mitwirkungspflichten zu bestimmen.