§ 4 Der neugestaltete Augenscheinsbeweis gem. § 371 ZPO n.F.
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hältnis ergibt. Auch den Gesetzesmaterialien läßt sich nicht entnehmen, daß sich
der materiell-rechtlich am Beweisgegenstand berechtigte Beweisführer stets selbst
um die Beibringung des Beweisstücks bemühen müßte. Die Regierungsbegründung
führt in diesem Zusammenhang vielmehr aus, daß der Beweisantritt über § 371
Abs. 2 S. 1 Alt. 1 ZPO n.F. insbesondere1157 - also keinesfalls ausschließlich! - dann
in Betracht komme, wenn der Beweisführer keine materiell-rechtlichen Ansprüche
gegen den Besitzer hat. Es wäre auch im Hinblick auf die angestrebte Prozeßökonomie sinnwidrig, den Beweisführer eine separate Herausgabeklage anstrengen zu
lassen, wenn der Besitzer unter dem Eindruck drohender Sanktionierung gem.
§ 390 ZPO auch im Wege einer gerichtlichen Anordnung zur Vorlage des Gegenstandes bewegt werden kann. Ob ein materiell-rechtlicher Anspruch tatsächlich
besteht, wird das Gericht, sofern es etwa für die Frage der Zumutbarkeit i.S.d.
§ 144 Abs. 2 ZPO n.F. darauf ankommt, im Rahmen eines Zwischenstreits klären,
in dem der Dritte selbst Partei ist. Ferner ist kein sachlicher Grund dafür ersichtlich, warum derjenige Beweisführer, der die Herausgabe des Beweisgegenstandes
nach materiellem Recht verlangen kann, auf den zeit- und kostenintensiven Weg
der eigenverantwortlichen Beibringung des Gegenstandes verwiesen sein sollte,
während der Beweisführer ohne materiell-rechtliche Ansprüche die Möglichkeit
hat, einfach und zügig über eine gerichtliche Vorlageanordnung an den Beweisgegenstand zu gelangen. Letztlich ist es auch nicht einsehbar, warum ein Dritter, der
sich in Bezug auf den vorzulegenden Gegenstand einem materiell-rechtlichen Anspruch ausgesetzt sieht, in höherem Maße ein anerkennenswertes Interesse daran
haben sollte, nicht im Wege einer gerichtlichen Vorlageanordnung in Anspruch
genommen zu werden, als derjenige Dritte, der den Prozeßparteien materiellrechtlich nicht verpflichtet ist.
Der Unterschied zwischen beiden Alternativen des Beweisantritts in § 371 Abs.
1 S. 1 ZPO n.F. besteht in der Praxis also darin, daß sich die Partei, die materiellrechtliche Ansprüche im Hinblick auf den Beweisgegenstand geltend machen kann,
überlegen muß, ob sie den Beweis über den Antrag auf Erlaß einer Vorlageanordnung führen will, obwohl der Besitzer auf diesem Wege zur Vorlage nicht gezwungen werden kann. Möchte die beweisführende Partei die Vorlage dagegen wirksam
erzwingen, wird sie den Weg über § 371 Abs. 2 S. 2 Alt. 1 ZPO n.F. einschlagen
und den Besitzer ggf. auf Herausgabe verklagen, soweit ihr dies aufgrund der materiellen Rechtslage erfolgversprechend erscheint.
D. Zusammenfassung
Beim parteibetriebenen Augenscheinsbeweis ist nach neuer Rechtslage danach zu
unterscheiden, ob der Beweis mit Hilfe eines herkömmlichen Augenscheinsgegenstandes oder mit einem elektronischen Dokument geführt werden soll. Nur in
letzterem Fall kommt dem Verweis in § 371 Abs. 2 S. ZPO n.F. auf die §§ 422, 423
ZPO inhaltliche Bedeutung zu. Die Beweisführung mit einem elektronischen Do-
1157 Begründung zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 14/4722, S. 90.
Dritter Teil. Die Rechtslage nach der Reform
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kument, das der Verfügungsgewalt des Prozeßgegners unterliegt, ist dem Beweisführer daher nur möglich, wenn sich der Prozeßgegner selbst zur Beweisführung
auf die Datei berufen hat oder der Beweisführer Übermittlung bzw. Vorlage der
Datei nach materiellem Recht beanspruchen kann.
Soll der Beweis mit einem herkömmlichen Augenscheinsgegenstand geführt
werden, der sich im Besitz des Beweisgegners befindet, finden die §§ 422 und 423
ZPO dagegen keine Anwendung. Der Verweis in § 372 Abs. 2 S. 2 ZPO auf die
§§ 422, 423 ZPO ist in dieser Konstellation gegenstandslos, weil der Gesetzgeber
die Mitwirkung des Beweisgegners beim Augenscheinsbeweis gerade nicht den
restriktiven Regeln über den Urkundenbeweis unterstellen, sondern seine grundlos
verweigerte Mitwirkung - wie bereits vor der Reform - ungeachtet der materiellen
Rechtslage in Bezug auf den Gegenstand beweisrechtlich sanktioniert wissen wollte. Zu diesem Zweck hat er in § 371 Abs. 3 ZPO n.F. eine Sanktionsregel geschaffen, die im wesentlichen die bisherige Rechtsprechung und herrschende Lehre zu
den Mitwirkungsobliegenheiten des Beweisgegners beim Augenschein kodifiziert.
Soweit sich der Beweisgegenstand in Besitz bzw. in der Verfügungsgewalt eines
am Prozeß unbeteiligten Dritten befindet, bedarf es für die Regeln über den Beweisantritt keiner Differenzierung danach, ob es sich bei dem Gegenstand um ein
elektronisches Dokument oder um einen Augenscheinsgegenstand im herkömmlichen Sinne handelt. In beiden Fällen kann der Beweis gem. § 371 Abs. 2 S. 1 ZPO
n.F. entweder dadurch angetreten werden, daß sich der Beweisführer eine gerichtliche Frist setzen läßt, während der er für die Herbeischaffung des Gegenstandes
sorgt oder indem er beim Gericht den Erlaß einer an den Dritten gerichteten Vorlageanordnung nach § 144 ZPO n.F. beantragt. Für die zweite Alternative bedarf es
jeweils keines materiell-rechtlichen Anspruches im Hinblick auf den vorzulegenden
Beweisgegenstand. Der Beweisantritt über § 371 Abs. 2 S. 2 Alt. 2 ZPO n.F. entspricht damit dem entsprechenden Antritt des Beweises mit einer Urkunde gem.
§ 428 Alt. 2 ZPO n.F.
§ 5 Die neue Vorlage- und Duldungspflicht für Augenscheinsgegenstände
Mit der Reform im Jahr 2001 wurde § 144 ZPO n.F., der schon bisher die Einnahme des Augenscheins und die Begutachtung durch Sachverständige1158 unabhängig von einem Beweisantritt der Parteien regelte, "präzisiert und ergänzt"1159.
Während die Prozeßparteien bisher nach § 144 ZPO a.F. lediglich zur passiven
Duldung einer Augenscheinseinnahme verpflichtet waren1160, hat der Reformgesetzgeber in Erweiterung der vormaligen Befugnisse des Gerichts in § 144 Abs. 1
S. 2 ZPO n.F. erstmals eine Vorlagepflicht für Augenscheinsgegenstände eingeführt. Danach können nicht nur die Parteien zur aktiven Vorlage von Augen-
1158 In seiner Funktion, die Erhebung des Sachverständigenbeweises von Amts wegen zu ermöglichen, wird § 144 ZPO n.F. im folgenden nicht weiter beleuchtet.
1159 Vgl. BT-Drs. 14/4722, S. 79.
1160 Diese Duldungspflicht wurde mit der Reform ausdrücklich im Gesetzeswortlaut (§ 144 Abs. 1
S. 3 ZPO n.F.) verankert.
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References
Zusammenfassung
Die Modifikation der Vorlagepflichten für Urkunden und Augenscheinsgegenstände im Rahmen der Reform des Zivilprozessrechts im Jahr 2002 hat die Frage aufgeworfen, ob das Discovery-Verfahren nach US-amerikanischem Vorbild Einzug in den deutschen Zivilprozess gehalten hat.
Die Untersuchung zeigt auf, unter welchen Voraussetzungen die Prozessparteien und prozessfremde Dritte aufgrund der novellierten §§ 142 und 144 ZPO zur Vorlage der in ihrem Besitz befindlichen Gegenstände verpflichtet werden können. Die neuen Vorschriften werden auf der Grundlage des überkommenen Systems der Informationsbeschaffung im deutschen Zivilprozess, der bisherigen Novellierungstendenzen sowie vor dem Hintergrund internationaler Entwicklungen eingehend untersucht, um Inhalt, Reichweite und Grenzen der Mitwirkungspflichten zu bestimmen.